Forum
Das Martyrium des Heinrich von Zütphen
Vor 500 Jahren wurde der enge reformatorische Mitstreiter Martin Luthers auf grausame Weise ermordet. Über einen Glaubenskampf mit aktueller Botschaft
Die Nachricht, die Martin Luther zum Jahresende 1524 in Wittenberg erreichte, mochte ihn erzürnt und geschockt haben: Einer seiner engsten Mitstreiter war in Dithmarschen auf grausame Weise umgebracht worden. Luther maß diesen Geschehnissen derartige Bedeutung bei, dass er darüber ein Büchlein schrieb, das 1525 veröffentlicht wurde und zur grundlegenden Überlieferung dieser einmaligen evangelischen Märtyrergeschichte wurde.
Gang in die Höhle des Löwen
Der Augustinermönch Heinrich, der aus Zütphen in den Niederlanden stammte, hatte in Wittenberg studiert und war ein begabter Prediger, der Gemeinden zu begeistern vermochte. In Antwerpen drohte ihm 1522 die Verfolgung, weil er zu den „Evangelischen“ gehörte. Er wollte nach Wittenberg fliehen, blieb aber in Bremen, wo er mit Genehmigung der weltlichen Obrigkeit im Sinne Luthers predigte und sich den Ruf des Reformators Bremens erwarb. Dort erreichte ihn der Ruf aus der Landschaft Dithmarschen, zwischen Elb- und Eidermündung an der Nordsee gelegen. Die Landschaft unterstand nominell dem Erzbischof von Bremen, führte aber als genossenschaftlich verfasstes Gemeinwesen ein Eigenleben als „Bauernrepublik“. Vor allem nach der Schlacht bei Hemmingstedt im Februar 1500, in der die zahlenmäßig unterlegenen Dithmarscher Bauern das adelige Heer unter Führung des dänischen Königs mit List und Tücke besiegt hatten, erlebte die Bauernrepublik ihre goldenen Jahre. Dithmarschen war ein Land der Marienverehrung, und auch die Dithmarscher Kämpfer in der Schlacht bei Hemmingstedt hatten Maria um Hilfe angerufen. Heinrich von Zütphen folgte im November 1524 der Bitte, in die Gemeinde nach Meldorf zu kommen, dem alten Hauptort der Bauernrepublik; er begab sich in die Höhle des Löwen.
In Meldorf predigte Heinrich von Zütphen unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit in der St.-Johannes-Kirche, die wegen ihrer Größe und Bedeutung in der Landschaft bis zum heutigen Tag „Dom“ genannt wird, obwohl sie nie Predigtstätte eines Bischofs war. Aber in Dithmarschen gab es nicht nur Menschen, die sich auf Heinrichs Ankunft gefreut hatten: Vor allem der Prior des örtlichen Dominikanerklosters wollte die reformatorischen Predigten nicht hinnehmen und suchte sich Verbündete aus den Reihen des regionalen Klerus und der 48 Regenten, die die Geschicke des Landes lenkten. Die Meldorfer Gemeinde und Heinrich von Zütphen wollten sich das Predigen nicht von der Obrigkeit verbieten lassen. Ihre Gegner gewannen einen Schwarm Bauern, ein paar Hundert Mann, die den Prediger des Nachts in Meldorf aus seiner Unterkunft holten und ihn halb nackt zu Fuß bei Regen und Sturm in das 15 Kilometer entfernte Heide verschleppten. Den Bauern hatte man reichlich Bier eingeschenkt und sie wohl mächtig aufgehetzt.Ohne ordentlichen Prozess wollte man Heinrich am 10. Dezember auf der Heider Hinrichtungsstätte auf dem Scheiterhaufen brennen sehen. Angebote, ihn freizukaufen, wurden barsch zurückgewiesen.
Luther beschreibt Heinrichs Martyrium
Für Heinrich von Zütphen gab es keinen Ausweg. Er wurde verspottet und über Stunden gequält. „Das Feuer aber“, so Martin Luther, „wollte nicht brennen, wie oft sie es anzündeten.“ Zütphen wurde auf eine Leiter gebunden, auf den Mund geschlagen, weil er seinen Glauben bekennen wollte. Luther berichtet: „Da trat einer mit einem Fuß auf seine Brust, und band ihn also hart an einer Sprosse an seinen Hals, dass ihm Maul und Nase blutete, auf dass er ersticken sollte; denn er sah, dass er von so viel Wunden nicht sterben könnte. Danach richteten sie ihn auf mit der Leiter. Da setzte einer die Hellebarde an die Leiter, dieselbige helfen aufzurichten, denn das Land hat keinen Scharfrichter. Da gleitet die Hellebarde von der Leiter ab und durchstach den heiligen Märtyrer Christi mitten durch.“ Das Feuer brannte immer noch nicht, die Leiter sprang zur Seite, ein Mann kam mit einem Fausthammer und erschlug den armen Prediger. Die Menge, die Zeugin eines Lynchmords wurde, verzog sich und kam erst am nächsten Tag zurück, fand den misshandelten Körper vor und steigerte sich in eine neue Wut: In einer Chronik heißt es: „Sie hieben ihm Kopf, Hände und Füße ab und warfen sie auf den nun angezündeten Holzstoß. Den Rumpf aber begruben sie und hielten einen Freudentanz darum mit spöttischen Gesängen.“
Martin Luther in Wittenberg fand deutliche Worte, als er seine Geschichte des Bruders Heinrich zu Papier brachte. Für ihn waren die Dithmarscher „Mörder“, er bat seine Leser dennoch „um Gottes willen wollet die Leutlein in Dithmarschen euch lassen befohlen sein, sie freundlich trösten und helfen, dass sie auch herzukommen“.
Die „Letzte Fehde“ ging verloren
Tatsächlich war auch in Dithmarschen die Erneuerung der Kirche nicht aufzuhalten: 1533 fasste die Landesversammlung den Beschluss, dass nun alle Bewohnerinnen und Bewohner Dithmarschens „die Lehre des heiligen Evangeliums“ annahmen. Die Fürsten und der König von Dänemark allerdings gaben keine Ruhe und rüsteten 1559 erneut zum Feldzug gegen die wohlhabende Landschaft. Diese „Letzte Fehde“ sollte den Dithmarschern keinen Sieg mehr bringen: Unweit des Galgenbergs, Ort des Leidens und Sterbens ihres Reformators, mussten die Dithmarscher ihre Knie vor den siegreichen – und protestantischen – Adligen beugen.
Durch die Jahrhunderte ist die dramatische Märtyrergeschichte nicht in Vergessenheit geraten, nicht zuletzt wegen Luthers Text. Wenn später in Zeiten nationaler Aufwallungen nach einer deutschen Region, nach einem deutschen „Volksstamm“ gesucht wurde, an dessen heroischem historischen Schicksal das „Deutschsein“ bewundert werden konnte – etwa in den Jahren nach Napoleon, in den Zeiten der bürgerlichen Revolution von 1848, im wilhelminischen Deutschland um 1900, im Ersten Weltkrieg, im Nationalsozialismus oder in der DDR unter Walter Ulbricht –, dann war die Geschichte Dithmarschens ein willkommener Topos, der aus der jeweiligen Perspektive erzählt wurde. Vor allem das 16. Jahrhundert gab Künstlern und Schriftstellern, Politikern und Propagandisten Stoff zum Träumen in ihrer Gegenwart.
In der Mitte der goldenen Jahre zwischen der siegreichen Schlacht bei Hemmingstedt 1500 und der „Letzten Fehde“ von 1559 lag das fürchterliche Schicksal Heinrichs. Ein Sündenfall der heroischen Bauern, Selbstjustiz, Lynchmord und doch vielleicht eine grausame politische Notwendigkeit zum Erhalt der relativen Unabhängigkeit der kleinen Republik? Zum 500. Todestag steht in der Region eine Frage im Mittelpunkt, um die es auch Heinrich von Zütphen zu tun war – die Frage nach der Freiheit eines (Christen-) Menschen. Auch eine Frage unserer Tage.
Frank Trende
Heinrich von Zütphen – Reformationsmärtyrer in der Bauernrepublik Dithmarschen
Boyens Buchverlag 2024,
136 Seiten, 18 Euro
Frank Trende, RC Rendsburg-Mittelholstein, ist Ministerialdirigent. Er hat sich zudem einen Namen gemacht als Autor von Beiträgen und Büchern zur Kulturgeschichte des Nordens.
Weitere Artikel des Autors
9/2022
„Volksgemeinschaft und Lebensraum“
6/2020
Unbeschwerte Lustreise
Mehr zum Autor