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„Volksgemeinschaft und Lebensraum“
Die Neulandhalle – ein einzigartiger Lernort zur Geschichte des Nationalsozialismus
Seit dem 8. Mai 2019 ist auf der schleswig-holsteinischen Seite der Elbmündung in der Tourismusgemeinde Friedrichskoog ein Lernort zur Geschichte des Nationalsozialismus zugänglich, der seinesgleichen sucht: Er zeigt nicht, wohin der Nationalsozialismus geführt hat, sondern versucht eine Antwort auf die Frage zu geben, warum Menschen der völkischen Ideologie begeistert zugestimmt haben. Der Lernort thematisiert die NS-Konzepte von „Volksgemeinschaft“ und „Lebensraum“ als vermeintliche Verheißungen. „Hier lässt sich“, so Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung, „das Idealbild faschistischer Verdorfung nachvollziehen.“
Die Geschichte der Landgewinnung durch Eindeichung reicht an der schleswig-holsteinischen Westküste Jahrhunderte zurück. In nationalsozialistischer Zeit war geplant, die gesamte schleswig-holsteinische Nordseeküste nach Westen zu verschieben, indem mehr als 40 neue Köge eingedeicht werden sollten. Das erste Vorhaben dieser Art wurde gleich 1933 in Angriff genommen, direkt an der Elbmündung waren die Bedingungen günstig und Vorbereitungen bereits getroffen. Die neue nationalsozialistische Regierung erkannte das propagandistische Potenzial dieses Vorhabens und nutzte es mit allen modernen Kommunikationsmitteln der Zeit.
Konzipiert wie ein Kultgebäude
Bis zu 1700 Arbeiter, zum großen Teil Männer des NS-Arbeitsdienstes, wurden eingesetzt, um den neuen Deich zu bauen. In dem neuen Koog, der den Namen Adolf-Hitler-Koog trug, sollten vor allem neue bäuerliche Betriebe entstehen. Der Arbeitsdienst sowie die Landwirtschafts- und Siedlungspolitik erhielten im Nationalsozialismus eine zentrale ideologische Bedeutung. Innerhalb eines Jahres wurden 90 Siedlerstellen realisiert, 63 für Bauern, 20 für Arbeiter, vier für Handwerker, eine Gastwirtschaft, dazu eine Schule – alle Gebäude entstanden nach Entwürfen des führenden schleswig-holsteinischen Architekten Ernst Prinz. Im Sommer 1935 reiste Adolf Hitler wie in einem Triumphzug von Kiel aus an die Nordseeküste, um der neuen Siedlung seinen Namen zu geben. Zugleich legte Hitler den Grundstein für ein Gebäude des Architekten Richard Brodersen, in dem die Idealisierung der Landgewinnung und des Bauerntums sowie die kultische Überhöhung des Volksgemeinschaftsgedankens ihren baulichen Ausdruck finden sollten: Die Neulandhalle entstand auf einer kleinen Warft und war so topografisch wie baulich aus der Gesamtanlage des Ortes herausgehoben. Sie war konzipiert wie ein Kultgebäude in der neuen Siedlung, in der keine christliche Kirche errichtet werden durfte.
Der Koog mit seiner Neulandhalle war Gegenstand erheblicher propagandistischer Anstrengungen. Dort waren renommierte Fotografen unterwegs, die „den Koog des Führers“ in den Illustrierten mit Bildstrecken vorstellten, die Reichssender funkten Radioreportagen aus der neuen Siedlung, der damals prominente und populäre Schriftsteller Gustav Frenssen schrieb pathetische Stimmungsbilder aus dem Koog. Ausländischen Journalisten und Diplomaten wurde diese neue „NS-Volksgemeinschaft im Kleinen“ vorgeführt – lebend und arbeitend auf friedlich gewonnenem Boden. Die Siedler waren handverlesen, treue NSDAP-Anhänger und entsprachen den „rassebiologischen“ Vorgaben der NS-Planer. Es entstand ein regelrechter Propagandatourismus, dessen Busse die Dorfstraßen kaputt fuhren, die wegen des „Reichsinteresses“ an der kleinen Siedlung auf Kosten der Regierung repariert wurden – gezahlt aus dem Budget von Goebbels’ Propagandaministerium.
Im Zentrum des Ortes, der Propaganda und der Siedlungsidee stand die Neulandhalle, die zugleich der kultische Mittelpunkt der Siedlergemeinschaft war. Hier wurden die wichtigen Ereignisse im Jahresund im Lebenslauf gefeiert – Sonnenwenden etwa und Hochzeiten. Diese herausgehobene Bedeutung spiegelte sich in der Gestaltung und Ausstattung des Hauses. Neben dem Haupthaus stand ein frei stehender Glockenturm mit einer Glocke, die der Reichsnährstand gestiftet hatte. An der Nordwand des Gebäudes war die Fassade von zwei Bauplastiken geprägt: Überlebensgroße Darstellungen eines Soldaten und eines Arbeitsdienstmanns. Im Innern der Neulandhalle gab es einen Versammlungsraum, der durch die Ausstattung und Gestaltung eine sakrale Atmosphäre ausstrahlte. Im Zentrum der Ostwand steht bis heute ein großer Kamin mit einem Relief auf dem Rauchabzug, das ein bronzezeitliches Schwert und Kornähren zeigt – eine Art nordischer Flammenaltar im Zeichen von „Blut und Boden“. Der Kamin wurde von großen Wandgemälden eingerahmt, die die Akteure der völkischen Dreifaltigkeit aus Bauern, Handwerkern und Arbeitern in Aktion zeigten: Bauer und Bäuerin bei Saat und Ernte, flankiert von Arbeitern beim Errichten des Deiches und Handwerkern beim Hausbau. Die bildlichen Darstellungen des Altonaer Künstlers Otto Thämer zeigen keine Individuen, sondern nordische „Typen“. Nur das Motiv „Deichbau“ ist heute noch original erhalten.
Führer-Schrein
Die einzige Person, die in der Neulandhalle mit einer Art Nebenaltar individuell und erkennbar dargestellt war, ist Adolf Hitler: Eine Holzbüste und die fast kalligrafische Wiedergabe zentraler Sätze aus seiner Rede zur Grundsteinlegung bildeten einen Führer-Schrein.
Dies Gebäude spiegelte mithin bis zum Kriegsende 1945 die nationalsozialistische Volksgemeinschaft aus – explizit ungleichen – Bauern, Handwerkern und Arbeitern im Innern. Gestützt werden sollte diese Volksgemeinschaft durch den Wehr- und den Arbeitsdienst, die im Äußeren des Kultgebäudes durch die Bauplastiken dargestellt waren. Adolf Hitler stand an ihrer Spitze – als Begründer und Prophet zugleich.
Nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur wurden Reichsadler mit Hakenkreuz und die Monumentalplastiken entfernt. Das Haus war nun durch die Jahrzehnte Jugendherberge, Gastwirtschaft und evangelisches Freizeitheim. Der ehemalige Propagandaort schrumpfte auf Dithmarscher Dorfdimensionen, von der nationalsozialistischen Geschichte des Ortes und der Neulandhalle war keine Rede mehr. In der Bundesrepublik jedenfalls nicht. In der DDR erregte das historische Szenario die Aufmerksamkeit des kommunistischen Schriftstellers Hermann Kant, der über den ehemaligen Adolf-Hitler-Koog und die Neulandhalle schrieb, vor allem im Roman Der Aufenthalt von 1977, und beiden die überörtliche Bedeutung zurückgab. Kant sah in dem in Dieksanderkoog umbenannten Dorf der Adenauerjahre den düsteren Ort mit Artefakten, die in ungebrochener Tradition zum NS-Staat an Deutschlands dunkelste Zeit erinnerten – ohne Bruch, ohne Kommentar, ohne Distanz.
Seit Mai 2019 ist die Neulandhalle – ergänzt um eine Außenausstellung, die von der Universität Flensburg erarbeitet wurde – ein Ort der Aufklärung und des Lernens darüber, wie ein ethnisch verstandener Volksbegriff, verbunden mit modernsten propagandistischen Werkzeugen, in die Katastrophe führen kann.
Zum ersten Mal in ihrer Geschichte ist der Neulandhalle an der Elbmündung eine weit über die Landesgrenzen reichende Bekanntheit von Herzen zu wünschen.
Mehr zum Thema: lernort-neulandhalle.de und boyens-buchverlag.de/dithmarschen/ 9172/die-neulandhalle-in-dithmarschen
Frank Trende, RC Rendsburg-Mittelholstein, ist Ministerialdirigent. Er hat sich zudem einen Namen gemacht als Autor von Beiträgen und Büchern zur Kulturgeschichte des Nordens.
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