» Das schönste Jahr, das ich je hatte «
Das fast ausnahmslos positive Resümee der rotarischen Austauschschüler belohnt den hohen Einsatz der im Jugenddienst engagierten Organisatoren und Gastfamilien
Wer sich erfolgreich bewirbt, hat eine spannende Zeit vor sich. Die Erlebnisse und Lernerfolge werden sie oder ihn ein Leben lang begleiten – und in so mancher Situation beflügeln. Das belegen Langzeitstudien von Psychologen, die ihre Kandidaten und deren Verhalten über vier Jahrzehnte untersuchten. Die Psychologen David Bachner und Ulrich Zeutschel („Ripple effects or quiet waters“ - Austauschschüler in vier Jahrzehnten) fanden heraus, dass junge Menschen beim Langzeit-Schüleraustausch herausragende Fähigkeiten entwickeln: Selbstvertrauen, Toleranz für anders lautende Meinungen und Standpunkte, beständige Neugier, den eigenen Horizont erweitern, gute Fähigkeiten zur Vermittlung oder Mediation und eine lebenslange globale Orientierung.
Weitere Ergebnisse der Forschung: Die jungen Menschen lernen die Wertschätzung anderer Kulturen und Standpunkte und sie zeigen eine große Einsatzbereitschaft für gesellschaftliche Belange. Diese Eigenschaften sind nicht nur für die Einzelnen, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt von großer Bedeutung.
Der Rotary Jugendaustausch oder RYE (Rotary Youth Exchange) bietet jungen Menschen Aufenthalte im Ausland, unterschiedlich in Dauer und Schwerpunkt.
Jahresaustausch für 15- bis 17-jährige braucht Mut
Bei fremden Familien wohnen, nach ungewohnten Regeln leben, eine andere Sprache sprechen, eine neue Schule besuchen und Freunde finden - das erfordert viel Mut. Die Bewerber ahnen meist nicht, welches Abenteuer sie erwartet und wie lange die Lernerfahrungen aus dem Jahr sie durch das Leben begleiten werden.
Davon erzählt zum Beispiel die Hamburger Schülerin Derya: „Als ich mich bewarb, hatte ich gar keine Erwartungen, außer der, ein schönes Jahr zu erleben. Aber dann, als ich genommen wurde oder als wir den großen Lebenslauf schreiben mussten, da habe ich mir schon Gedanken gemacht...“. „Also ich hab’ gedacht, wenn’s klappt, dann klappt’s, und wenn nicht, dann nicht. Außerdem ist es gut für das Studium“, ergänzt Hendrik, ebenfalls aus Hamburg, aber dann hat er sich doch viele Gedanken gemacht, ob er ein Jahr ohne seine Freunde und ohne seine Familie aushalten kann.
Schülerin Marion ist da gelassener: „Ich denke, es ist ein Schritt von den Eltern weg, weil man sich ein Jahr bei einer Familie zurechtfinden muss, allein alles regeln muss.“ Aber froh ist sie doch, dass es Betreuer und ein Netzwerk gibt, falls der Schritt weniger gut gelingen sollte.
Deutsches Familienleben ist nicht immer einfach: Die Inbounds brauchen eine Weile, um sich einzuleben. Sie empfinden manches sicher als "strange".
täglicheS Ringen um Verständnis und Verständigung
Wer allein für längere Zeit in eine fremde Kultur hineingeworfen wird, muss viel lernen. Die tägliche Konfrontation mit dem Fremden kennzeichnet die erste Zeit - ein zähes Ringen um Verständnis und Verständigung. Die Sprache ist dabei nicht die einzige Hürde, es geht auch um Bedeutungen des Gesagten, um Gestik und Mimik, um Gewohnheiten und Gepflogenheiten.
Für eine möglichst optimale Vorbereitung sorgen da die Patenclubs und Distriktverantwortlichen während verschiedener Treffen im Vorfeld. Naturgemäß haben die Jugendlichen viele Fragen: Wie es wohl ist, in einer anderen Familie zu leben und in einen ganz anderen Alltag hineinzutauchen? Wie sollten die Gasteltern angesprochen werden? Mit Vornamen oder mit Mama und Papa? Wie gestaltet sich der Tagesablauf? Wer steht wann auf und wie lange darf das Bad am Morgen besetzt werden? Wird zusammen gefrühstückt –oder gibt es überhaupt ein Frühstück? Und viele weitere Überlegungen zum Tagesablauf. Bewährt hat sich hier der „First Night Questionnaire“, der gleich am ersten Abend in der Familie ausgefüllt werden sollte. Er hilft, die ersten Hürden zu überstehen.
Den neuen Alltag bewältigen
Die Gastfamilie erwartet von ihrem Gast, dass er oder sie sich nahtlos einpasst. Für die Gastfamilie ist alles „normal“. Für den Gast sieht das ganz anders aus: Was ist normal? Und schon geht die Suche nach der Normalität los, die Suche nach Regeln und Normen, Geboten und Verboten und ungeschriebenen Gesetzen. Der Besucher wird quasi aus den Angeln gehoben und muss sich völlig neu einstellen – ein anstrengender Prozess. Ein tiefes Verständnis für andere Kulturen erfordert die Auseinandersetzung im Alltag. Das erfahren die Gastfamilien ebenso wie die Gastschüler.
Eine ehemalige Austauschschülerin, inzwischen selbst Mutter eines Outbounds und Gastmutter, beschreibt den Prozess so: „Ein fremdes Land veranlasst zu intensivem Nachdenken über verschiedene Fragen zur eigenen Persönlichkeit. Beispielsweise in welchem Maße das Umfeld zu Hause einen kulturell geprägt hat oder nach welchen Mustern der Alltag abläuft. Und das geht von kleinen Dingen über große Dinge, bis man plötzlich merkt: Ah ja, ich habe gelernt, bestimmte Dinge immer in einem festen Rahmen zu machen.“ Schritt für Schritt erkundet man die Fremde. Doch nicht nur die Fremde, auch das eigene Land nimmt Konturen an, die man zuvor nicht erkannt hat.
Das Fremde wird vertraut – der Perspektivenwechsel
Das anfangs Fremde wird bald bekannt – manches akzeptiert und anderes abgelehnt. Schließlich beginnt die Phase der Anpassung, die idealerweise bis hin zur Übernahme von Werten und Verhaltensweisen führt – für ein Jahr jedenfalls. Der Perspektivenwechsel ist geschafft. Der einst Kulturfremde hat dann gelernt, mit den Augen des anderen zu sehen. Dieser Lernprozess ist ein überaus prägendes Erlebnis. Wer ihn zu früh unterbricht, bevor der Perspektivenwechsel stattgefunden hat, dem entgeht eine wesentliche, wenn nicht gar die entscheidende Etappe. David Bachner, Professor für Soziologie und interkulturelle Psychologie, stellt dazu fest:
„Die Essenz der Erfahrung ist der Langzeitaufenthalt in einer Familie, nicht als Tourist, nicht in einer Gruppe, es ist das Individuum, das in jungen Jahren mit Offenheit tief in eine andere Kultur eintaucht, in ein ‚Setting‘, das wirklich die Kultur selbst ist.“
Andere Kulturen wirklich verstehen
Die neu erworbenen Fähigkeiten werden auf die Probe gestellt, sobald der frisch Integrierte zurückkehrt. Die veränderte Wahrnehmung der bekannten Umgebung, der Menschen, ihrer Sprache und ihrer Gewohnheiten – all das wird überprüft, denn das Bild scheint verzerrt. Zwei Jahre kann diese Rückanpassung dauern.
Gute Schüleraustauschprogramme begleiten ihre Schützlinge dabei und laden sie etwa sechs Wochen nach der Rückkehr zu Seminaren ein. Diese Nachbereitung ist ein wesentlicher Teil der Austauscherfahrung, der zugleich bei der Verarbeitung des Erlebten hilft. Stück für Stück, gleichsam wie ein Puzzle, baut sich dabei eine neue Sicht auf. Aus der Betrachtung von Dingen aus heimischer Perspektive wird eine interkulturelle Sicht der Welt, die nicht nur positiv für den Austauschschüler, sondern für die Gesellschaft insgesamt ist.
Die Inbounds sammeln an ihren Blazern zahlreiche Sticker als Erinnerung
Für alle Beteiligten ein Gewinn
Viele Rotary Clubs engagieren sich im Schüleraustausch, weil sie vom gesellschaftlichen Nutzen überzeugt sind, und finanzieren die Seminare zur Vor- und Nachbereitung sowie das Taschengeld. Sie entsenden einen Austauschschüler in ein Gastland („Outbound“) und nehmen einen Austauschschüler von dort auf („Inbound“), manchmal auch nur Letzteres, etwa aus Ländern, in die keine Outbounds entsendet werden können – auch in diesem Fall ein echter Gewinn für alle Beteiligten. Da Outbounds sowohl Botschafter ihres Landes als auch des aussendenden Clubs sind, hegen die Clubs hohe Erwartungen an die Kandidaten.
Die Organisation bei Rotary
Bei Rotary übernehmen all diese Aufgaben Ehrenamtliche, die – auch international –miteinander in engem Kontakt stehen. So gewährleisten sie einen reibungslosen Ablauf und zahlreiche Anlaufstellen, wenn es einmal nicht so glatt läuft. Für Notfälle gibt es fest geplante Abläufe und Notfallnummern, jedem Austauschschüler wird ein „Counsellor“ – der auch den Gastfamilien bekannt ist – als Berater zur Seite gestellt. Sie haben in jedem Club einen Ansprechpartner, den YEO oder Jugenddienstbeauftragten. Sollte der gerade nicht vor Ort sein, gibt es Vertreter auf Distriktebene.
Auch die Gastfamilien erhalten eine kurze Schulung, damit sie sich auf ihre neue Aufgabe besser einstellen können. Sie werden mit einem Inbound aufregende Tage erleben, ungewohnte Fragen zum Alltag gestellt bekommen, über viele scheinbar selbstverständliche Dinge nachdenken und Anregungen erhalten.
Übrigens: Das Gastland, für das sich ein Kandidat entscheidet, ist erfahrungsgemäß unerheblich für den Erfolg des Austausches. Wichtiger sind der richtige Zeitpunkt sowie die persönliche Situation des Bewerbers – und die Bereitschaft, sich wirklich auf einen Kulturwechsel einzulassen.
Der Kurzzeitaustausch
Wer weniger lange ins Ausland gehen möchte und/oder einen Gast nur für kurze Zeit aufnehmen kann, hat die Möglichkeit eines Kurzzeitaustauschs. Entweder in einer Familie und einem Austausch auf Gegenseitigkeit oder aber an einem Camp ohne Gegenbesuch.
Beim Kurzzeitaustausch (oder „Family to Family“) bestimmen die Familien Zeitpunkt und Dauer mit, Rotary vermittelt und stellt die Rahmenbedingungen. Der Austausch basiert auf Gegenseitigkeit, jeder Gastgeber darf also auch Gast sein. Der Vorteil dieses Programms ist, dass die beiden Austauschpartner ihre Besuche weitgehend den eigenen Bedürfnissen anpassen können. Es liegt auch bei den Familien, wann und wie lange sie austauschen wollen. Das Programm scheint besonders geeignet für junge Menschen, die noch nicht an einem Langzeitprogramm teilnehmen wollen, sich aber für ein anderes Land und eine andere Kultur interessieren. Die Teilnehmer sind individuell und geborgen in einer Familie untergebracht.
Professor Alexander Thomas, bekannter Psychologe für interkulturelle Psychologie, rät jungen Menschen zu einem Kurzaufenthalt, bevor sie sich zu einen Langzeitaufenthalt entschließen. Kurzzeitaufenthalte machen Spaß und auch dabei gibt es viel zu lernen. Das wies eine Psychologengruppe an der Universität Regensburg nach. Aus dem Forscherteam berichtet Celine Chang: „Wir waren erst mal überrascht, wie gut sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen an die Erlebnisse noch erinnern können und wie positiv diese Erfahrung besetzt und wie sehr in ihrer weiteren Biografie von Bedeutung war.“
Die kürzeste Variante stellen die Rotary- Camps dar: Hier gehen junge Leute zwischen 14 und 25 für etwa zwei Wochen ins Ausland, etwa zum Sternegucken nach Ägypten, zum Schwimmen und Kulturkennenlernen in die Türkei, zum Klettern in die Alpen oder auch zum Reiten nach Ungarn. Jedes Camp hat Teilnehmer aus ganz unterschiedlichen Ländern, aber höchstens zwei pro Nation. So entsteht ein internationales Miteinander, die gemeinsame Sprache ist meistens Englisch. Die Teilnehmer sind je nach Camp unterschiedlich untergebracht: in einer Familie, in einem rustikalen Camp oder auch in einem Hotel. Die derzeit angebotenen Jugendcamps sind so begehrt, dass viele von ihnen sofort nach der Ausschreibung ausgebucht sind.
Jahresaustausch
Ein Jahr (oder kürzer) bei rotarischen Familien im Ausland eine zweite Heimat finden. Wunschdestinationen können angegeben, aber nicht immer durchgesetzt werden – was den Erfolg nicht schmälert.
Imformationen hier
Sommercamp
Neue Freunde aus der ganzen Welt, ein Land entdecken und Neues lernen. Zehn bis 14 Tage mit einem Motto, international viele Angebote in vielen Ländern.
Informationen hier
Lektüre
Ein Schuljahr im Ausland: Informationen und Erfahrungsberichte zur Vorbereitung auf den Schüleraustausch. 120 Seiten, 4,90 Euro, weitere Infos und Staffelpreise unter www.rotary.de
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