Terrorismus
Die doppelte Strategie eines Phänomens
Die Gründung des Islamischen Kalifats war ein Geniestreich. Europa muss einen Pakt schließen mit dem Mittleren Osten und Nordafrika
Der „Islamische Staat“ als Phantom: Es sucht die islamischen Gesellschaften im Nahen Osten blutig heim; und zunehmend auch nicht-islamische Ordnungen. Das Attentat von Paris am 13. November 2015 war ein weiteres dramatisches Kennzeichen seines „Funktionierens“; seiner einzigen Rechtfertigung aus der Gewalt.
Da ist freilich das Gefühl des Déjà-vu. Denn der Terrorschlag in New York vom 11. September 2001 war von ähnlicher Qualität; das gilt auch für andere Gewaltakte, die die Welt seit 2001 zwischen New York und Paris erlebt hat. Worum handelt es sich, wie finden wir den Ausweg aus der Spirale von islamistischer Gewalt auf der einen und der Ratlosigkeit der zivilisierten Menschheit - gleich welcher Religion und Kultur - auf der anderen Seite? Die geistigen Wurzeln des „Islamischen Staates“ reichen nur etwa ein halbes Jahrhundert zurück und werden aus drei Quellen gespeist: der islamistischen Ideologie, der Krise der Modernisierung islamisch geprägter Gesellschaften und der anhaltenden Dominanz des Westens.
Die islamistische Ideologie hat mit der islamischen Religion nur so viel zu tun, als ihre Urheber Zitate und Begriffe des Korans verabsolutieren und zu einem ideologischen Gebäude zusammenfügen, das die Gewalt mit Blick auf die Lösung der inneren und äußeren Probleme der islamischen Welt für gerechtfertigt hält. Die geistigen Väter sind der indisch-pakistanische Journalist Abu ‘l Ala Maudoodi (1903-79) und der ägyptische Schriftsteller Seyyid Qutb (1906-56); beide keine Theologen. Qutbs Einführung einer Avantgarde, die für sich die „richtige Lesart des Korans“ (bei Lenin das „richtige Bewusstsein“) reklamiert, schließt die Aufforderung zum Töten ein. Der „leninistische Islam“ überwindet – wo nötig mit Gewalt - die als ungläubig erklärten Gesellschaften durch die Herstellung der „Souveränität Gottes“ (bei Lenin der „klassenlosen Gesellschaft“). Die Kämpfer im Namen des „richtig“ verstandenen Islam wissen sich auf der „richtigen“ Seite des Handelns.
Ahnungsloser Westen
Die islamistische Ideologie als Rechtfertigung des Tötens wurde in dem Maße zur handlungsleitenden Strategie, in dem die Eliten zwischen Nordafrika und dem indischen Subkontinent die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen nicht anpackten. Neoliberale Wirtschaftsordnungen verschärften die sozialen Gegensätze; die Korruption wurde gang und gäbe. In ihrem Kampf für die „richtige“ Gesellschaftsordnung, die auf der „Souveränität Gottes“ beruhen würde, brachten radikale Gruppen die politischen Ordnungen in Ägypten und Algerien schon in den 90er Jahren an den Rand von Bürgerkriegen.
„Der Westen“, das heißt die USA und ihre „Komplizen“ wurden Teil des Feindbildes, stützten sie doch die an der Macht befindlichen Autokraten. Darüber, ob zunächst der „nahe Feind“ (also die eigenen Gesellschaften) oder der „ferne Feind“ (der Westen) zu bekämpfen sei, wurden ideologische Debatten ausgetragen. Die politischen Führungen im Westen merkten nicht, was angesagt war: Wie sonst ist zu verstehen, dass sie in den 80er Jahren die radikalen Islamisten, unter ihnen die Taleban, zu Verbündeten im Kampf gegen die sowjetische Invasion in Afghanistan machten? Von Afghanistan aus konnte Usama bin Ladin am 11. September 2001 in New York dem „äußeren Feind“ einen brutalen Schlag versetzen.
Gewalt stand auch im Mittelpunkt der Antwort desWestens. Die Potentaten mussten ihre Gesellschaften in Zaum halten; dafür wurden sie alimentiert. Mit Blick auf den Irak kam US-Präsident George W. Bush zu der Erkenntnis, dass die Demokratie à la americaine ein Allheilmittel gegen Gewalt sein würde. Vielleicht war die Erkenntnis gar nicht so falsch; aber die Art, in der die amerikanischen Maßnahmen nicht nur das Regime des Saddam Hussain, sondern die irakische Gesellschaft insgesamt zerstörten, bereitete den Boden für den bisher letzten Akt des islamistischen Dramas – die Gründung des „Kalifats“.
Mangel an Demokrtiewissen
Zwischen dem Fall des irakischen Diktators und der Ausrufung eines islamistischen „Staatswesens“ schien eine Morgenröte unter den arabischen Völkern aufzuleuchten. Ausgehend von Tunesien und bald auch von Ägypten begannen sich die Menschen dort gegen ihre Potentaten zu erheben. Die arabische Revolte war geboren; in unterschiedlichen Ausformungen und Rhythmen erschütterte sie weite Teile der arabischen Welt. Wie wenig die politischen Eliten in Europa diese für sie überraschende Wende der Dinge verstanden, zeigt die Reaktion der französischen Verteidigungsministerin, die dem bereits wankenden tunesischen Diktator anbot, französische Sicherheitskräfte zu seiner Unterstützung zu senden.
Aus ganz unterschiedlichen Gründen ist die große Revolte in vielen arabischen Ländern in die Sackgasse geraten. Woher hätte die Massen junger Menschen, die ihr Leben unter Autokraten verbrachten, auch wissen sollen, wie man Demokratie „macht“? In die nun entstehenden politischen Vakuen in den Ländern Nordafrikas, des Jemen und – besonders tragisch – Syriens haben sich jene islamistisch-radikalen Gruppen gedrängt, die eben noch – in der Revolte – im Abseits zu stehen schienen. In Syrien wurden bis zum Frühjahr 2013 kaum Radikale gesichtet. Ihre Zeit kam, als der Westen dem Morden des syrischen Regimes zusah und die Menschen im Stich ließ. Ein Orkan in ihre Segel war die Entscheidung des US-Präsidenten Barack Obama, entgegen seiner Ankündigung den Einsatz chemischer Waffen im August 2013 nicht zu sanktionieren; stattdessen ließ er sich von Wladimir Putin auf ein politisches Abstellgleis locken: die chemische Abrüstung des syrischen Regimes. Bis dahin hatten viele Syrer abgewartet, ob sich der Westen auch militärisch positionieren würde. Als die Hoffnung schwand, sprangen sie – in die Flüchtlingslager, in die Türkei, den Libanon und nach Jordanien sowie in weitere Nachbarländer. Als das Leben dort schwer und die Lage in Syrien unerträglich wurde, machten sie sich nach Europa auf; vorzugsweise nach Deutschland.
Die Gründung des Islamischen Kalifats Mitte 2014 ist ein Geniestreich. Langsam reifte die Idee: von der „Levante“, über den „Irak und die Levante“ zum „Islamischen Staat des Irak und asch-Scham“. Ein Spiel mit der Geschichte: Denn haben nicht die europäischen Kolonialmächte, Engländer und Franzosen, die Grenzen künstlich gezogen; im Sykes-Picot-Abkommen 1916? Wurde das Kalifat nicht 1924 von den verhassten Kemalisten in der Türkei, Lakaien des Westens, abgeschafft? Steht der historische Name des „Bilad asch-Scham“ nicht für jenes Großsyrien, auf dessen Territorium nicht nur drei arabische Staaten (Syrien, Libanon und Jordanien), sondern auch noch der jüdische Staat Israel entstanden? Das Phantom des Kalifats wird der Widerpart der geschichtlichen Wirklichkeit im Nahen Osten des 20. Jahrhunderts.
Frei vom Ruch der Vergangenheit
Nicht erst seit den Attentaten von Paris zeichnet sich die doppelte Strategie ab, mittels derer dem Phänomen des „Islamischen Staates“ begegnet werden muss: die militärische Auseinandersetzung mit der Bewegung, die sich aus der Gewalt sowohl gegen ihr muslimisches Umfeld als auch gegen den Westen rechtfertigt. Der „nahe Feind“ und der „ferne Feind“ müssen sich verbünden. Den wichtigeren Part spielen die Menschen im Nahen Osten, denn sie sind unmittelbar und umfassend bedroht. Der – nur selektiv bedrohte – Westen muss ihnen zur Seite treten; in einer Weise, die frei ist vom Ruch der Attitüde der Dominanz der Vergangenheit.
Die größere Aufgabe aber ist es, gemeinsam die Zukunft jenseits des „Islamischen Staates“ zu gestalten. Wenn die Zukunft Europas im internationalen System nicht zu trennen ist von Stabilität und Prosperität unserer - zumeist islamischen - Nachbarn im Mittleren Osten und Nordafrika; wenn zugleich unübersehbar ist, dass diese Nachbarschaft ein Entwicklungsdefizit hat, das Radikalismen und Heilsversprechen aller Art Tür und Tor öffnet und die Menschen zu Millionen nach Europa treibt, dann stellt sich die Aufgabe eines Pakts zu umfassender Entwicklung. Insofern war die Gipfelkonferenz zur Mi-gration auf Malta am Vorabend der Gewaltakte von Paris ein wichtiges Signal, bekannten sich die Regierungschefs der von der Flüchtlingskrise betroffenen Länder doch zu einer geteilten Verantwortung für die Zukunft.
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