Perspektiven der europäisch-russischen Beziehungen
»Es kommt maßgeblich auf uns Europäer an«
Infolge der Revolution in der Ukraine, der anschließenden Annektion der Halbinsel Krim durch Russland und des Auftretens prorussischer Truppen im Osten der Ukraine ist das Verhältnis Russlands zum Westen auf einem Tiefpunkt angekommen wie seit dem Ende der Sowjetunion nicht mehr. Die Autoren der Beiträge dieses Januar-Titelthemas sind auf ganz unterschiedliche Weise mit den gegenseitigen Beziehungen und ihrer wechselvollen Geschichte vertraut. Sie alle verbindet die Einsicht, dass in der jetzigen politischen Großwetterlage das zivilgesellschaftliche Gespräch vor allem zwischen Russland und Deutschland und den Menschen beider Länder wichtiger ist denn je.
Als Reaktion auf die russische Annektion der Krim sagte die Bundesregierung im Herbst 2014 das für Mitte Dezember geplante Treffen des Petersburger Dialogs ab. Von der Öffentlichkeit kaum bemerkt tagte jedoch dessen Arbeitsgruppe Medien kurz vor Weihnachten in Sotschi. Das Rotary Magazin sprach mit einem Vertreter der deutschen Seite über den bisherigen Verlauf der Krise und mögliche Auswege.
Herr Lochthofen, wie bewerten Sie die derzeitigen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen?
Sergej Lochthofen: Nun ja, sie sind deutlich schlechter, als sie sein müssten, gerade auch in so einer Krise. Man merkt auf allen Seiten, dass ein hohes Maß an Ratlosigkeit existiert. Insofern ist alles gut, was dazu beiträgt, dass wir den Schockmoment, den die Annexion der Krim erzeugt hat, ebenso überwinden wie den unerklärten ukrainisch-russischen Krieg. Das ist zwischen Ost und West sogar in den 70er-Jahren gelungen, als sich noch waffenstarrende Systeme gegenüber standen. Warum sollten wir heute so viel dümmer sein?
Sie waren kurz vor Weihnachten in Sotschi. Wie haben Sie die Stimmung in Russland erlebt?
Der Tag, an dem ich zum Treffen der Arbeitsgruppe Medien des Petersburger Dialogs anreiste, wird in Russland inzwischen der „schwarze Dienstag“ genannt. Als ich in Frankfurt in das Flugzeug stieg, habe ich mir an einer Geldwechselstelle ausdrucken lassen, wie der Rubel-Kurs zum Euro stand, es waren 1 Euro zu 69 Rubel. Als ich in Sotschi landete, stand der Euro bei 100 Rubel. Man konnte den Leuten das Entsetzen in den Augen ansehen. Sie hatten nie gedacht, dass die Reaktionen des Westens auf die Ukraine-Aggression ihres Landes auch für sie privat solche schweren finanziellen Folgen haben könnten.
Wie reagieren die Russen auf diese Krise?
Zunächst einmal mit Hamsterkäufen. Der leichte Sieg auf der Halbinsel Krim hatte dazu geführt, dass die meisten vom Nationalismus wie besoffen waren. Die Russen hatten das Gefühl, nach 25 Jahren Zerfall und Demütigung durch den Westen Rache nehmen zu können. Auf dieser Klaviatur der nationalen Verletzungen und Gefühle arbeitet Putin nach wie vor virtuos. Wir waren gerade zu der Zeit in Russland, als er seine große Jahres-Pressekonferenz abhielt. Dort hat er das Szenario gezeichnet, dass der Westen das Fell des russischen Bären an die Wand nageln will. Die Reaktionen im Land waren entsprechend.
Doch gleichzeitig merkt man, dass die Leute ganz pragmatisch handeln. Die Läden in Moskau und Sotschi und anderswo im Lande wurden plötzlich leer, weil die Menschen aus Angst vor einer weiteren Geldentwertung schnell noch Technik aus dem Westen kauften. Die oft zitierte „Leidensfähigkeit der Russen“ ist sicherlich deutlich höher als in einem westeuropäischen Land. Doch hat sich auch die russische Gesellschaft in den letzten Jahren an ein Mindestmaß an Komfort gewöhnt. Ein Schlag „Kascha“ – wie früher – reicht nicht mehr. Man wird es deshalb dem Präsidenten nicht lange durchgehen lassen, wenn die Verhältnisse so schlecht bleiben. Er wird zurückrudern müssen. Vor allem die Oligarchen mögen es nicht, wenn ihre Geschäfte gestört werden.
Konnten Sie diese Haltung auch im Gespräch mit Ihren russischen Kollegen in Sotschi feststellen?
In der Tat. Während die Treffen sonst in einem eher steifen Rahmen abliefen, wurde diesmal richtig diskutiert. Der Widerspruch gegen unsere Argumente war nicht so groß wie sonst, wo sie bei unangenehmen Argumenten auch schon einmal aufgestanden sind oder die Diskussion ganz abgebrochen haben. Das alles ist diesmal nicht passiert. Auch russische Journalisten haben das Gefühl, dass wir miteinander reden müssen, um aus dieser vertrackten Situation herauszukommen.
Wie bewerten Sie das Russlandbild, das derzeit in den deutschen Medien gezeichnet wird?
Wer Ahnung hat und sich noch besser informieren will, der wird gute Beiträge finden. Die Masse der Berichte ist jedoch von einem oberflächlichen Mainstream durchzogen. Viele plappern nach, was einige wenige vorgeben. Quellen werden nicht überprüft, Bilder nicht erklärt. Das muss niemanden wundern: Viele Redaktionen sind ausgedünnt, eigene Recherchen zu teuer. Ereignisse werden zum Teil von Leuten beschrieben und kommentiert, die noch nie in Moskau gewesen sind und auch niemanden dort kennen. Natürlich gibt es auch hoch qualifizierte Analysen, durchaus auch in überregionalen Zeitungen, aber leider finden wir immer wieder – zum Teil auch in sehr in reichweitenstarken Medien – ideologisch und dumm aufgeladene Geschichten, die nur dazu beitragen, dass der Graben zwischen den Ländern tiefer wird. Ein erster Schritt wäre, wenigstens verbal etwas abzurüsten.
Das sind harte Vorwürfe. Haben Sie dafür Beispiele zur Hand?
Zum Beispiel den Umgang mit Matthias Platzeck, dem Vorsitzenden des Deutsch-Russischen Forums. Als dieser im vergangenen Herbst forderte, dass wir uns angesichts der verfahrenen Situation auf der Krim etwas überlegen müssen, konnte man sehen, wie ein Mensch plötzlich zum „Putin-Versteher“ gestempelt wird. Dieser negative Unterton jedem gegenüber, der für Differenzierung plädiert, erzeugt eine Stimmung, die nicht gut ist. Natürlich gehört auch das zu einer freien Gesellschaft, aber der Sache dienlich ist das nicht. Als Mitglied des Deutschen Presserats erreichen mich zunehmend Hinweise von Lesern, die sich über Beiträge beschweren, in denen viel zu schnell Vermutungen in Tatsachen umgemünzt werden. Wir brauchen in einer Zeit wie dieser wieder mehr ortskundige Korrespondenten, die Russland von innen her kennen.
Die Kritik an den sogenannten „Putin-Verstehern“ richtet sich allerdings nicht gegen das Verständnis für russische Gefühlslagen, sondern eher dagegen, dass dabei die Interessen der ostmitteleuropäischen Länder außer Acht gelassen werden.
Natürlich können Länder wie die baltischen Staaten und auch die Ukraine selbst entscheiden, wo sie Mitglied sind und mit wem sie Verträge schließen. Es gibt da kein Veto-Recht, weder der EU noch Russlands. Aber die Ost-Erweiterung von NATO und EU hat in Russland das Gefühl erzeugt, eingekreist und aufs Neue abgehängt zu sein. Das war nicht klug. Auch bei den Verhandlungen um das Assoziationsabkommen mit der Ukraine hat Brüssel in Richtung Kiew deutlich erklärt, entweder mit uns oder mit den Russen. Da haben wir uns nicht viel besser als der Kreml verhalten. Und nachdem die Russen offensichtlich den Kürzeren gezogen hatten, haben sie kurzschlussartig reagiert und als Ausgleich die Krim annektiert. Nun treiben sie durch den Krieg in der Ostukraine den Preis der Europäer für das Ukraine-Abenteuer hoch. Dort, wo man mit den Russen gemeinsam etwas machen sollte, wird nun der westliche Steuerzahler die Rechnung allein zahlen. Es geht da nicht um ein paar, sondern um viele Milliarden.
Was muss geschehen, um die Ukraine-Krise beizulegen?
Zunächst einmal sollte uns klar sein, wie es vor Ort überhaupt aussieht. Ich befürchte, dass wir uns im Osten der Ukraine auf eine längerfristige schreckliche humanitäre Situation einstellen müssen. Das Gebiet ist abgeschnitten vom Rest des Landes, es erfolgt keine Energie-, keine Waren- und keine Geldzufuhr, gar nichts.
Für eine tragfähige Lösung des Konflikts sollten wir uns ansehen, welche Interessen die Beteiligten haben. Dazu gehört aus europäischer Sicht zu erkennen, dass wir hier selbst aktiv werden müssen. Die Amerikaner werden uns nicht helfen, weil die derzeitige Lage ihnen ganz gut passt, da sie ihren alten Rivalen Russland schwächt und Europa gut beschäftigt. Die Russen wissen längst, dass sie sich übernommen haben. Sie sind nicht in der Lage, diese Region zu versorgen. Der Krim geht es schlecht. Und die Regierung in Kiew hat mit dem Rest des Landes ausreichende Probleme. Es kommt also maßgeblich auf uns Europäer an.
Allerdings werden wir einen hohen Preis zahlen müssen. Und ohne Moskau wird es nicht gehen. Fast alle ukrainischen Waren werden allenfalls in Russland gekauft, Europa braucht sie nicht. Das ist das Dilemma, das offen ausgesprochen werden muss. Die Krim hat nur unter einer internationalen Verwaltung eine Chance. Doch Putin wird die Halbinsel nicht hergeben. Denn dann kann er auch gleich abdanken. Also: Wir brauchen Geduld und wir dürfen den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen.
Das Interview führte René Nehring.
Weitere Infos zu Sergej Lochthofens Buch unter:www.rowohlt.de
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