Geschichte
Existenzrecht abgesprochen
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 geriet Rotary in Deutschland zunehmend unter Druck. Vor 80 Jahren erfolgte dann die Selbstauflösung der Clubs.
Seit der Machtergreifung hatte sich innerhalb von nur vier Jahren viel geändert: Manche Clubs schrieben sich mit „K“ statt mit „C“ – ein Schritt zur „Eindeutschung“, die Präsidenten wurden gelegentlich „Klubführer“ genannt – eine Konzession an den Zeitgeist, die Sozialspenden gingen in beträchtlichem Ausmaß unter anderem an das NS-Winterhilfswerk – eine Anpassung an den Trend – und sogar „Sieg Heil“ oder „Heil auf den Führer“ wurde in manchen Clubs „obligat“. Aber das war noch nicht alles: Das Magazin unserer rotarischen „Vorfahren“, Der Rotarier, hatte anlässlich der Wahlen zum Reichstag im März 1936 zur Wahl der NSDAP aufgerufen, die deutschen Rotarier hatten den Nationalsozialisten wiederholt angeboten, dass sie innerhalb ihrer Weltorganisation wertvolle Propagandaarbeit für das Dritte Reich übernehmen könnten. Und wenn wir auf die Zusammensetzung unserer Clubs schauen und uns vergegenwärtigen, wer vor 80 Jahren noch Mitglied gewesen wäre: Ziemlich sicher hätten wir keine jüdischen Mitglieder mehr gehabt, auch keine mit jüdischen Ehefrauen. Ganz eindeutig hätten wir keinen einzigen Beamten mehr unter uns gehabt. Am 24. Juni 1937 verbot das Reichsinnenministerium den Beamten seines Geschäftsbereichs, wie allen NSDAP-Mitgliedern, die Mitgliedschaft bei Rotary; weitere Ministerien folgten.
Dass in einer solchen Situation kaum noch reguläre Meetings und offene Diskussionen stattfanden, ist nachvollziehbar. Am 23. August wurde in einem langen Artikel im Völkischen Beobachter die Deadline für Austritte gesetzt (Ende 1937), Rotary wurde das Existenzrecht im nationalsozialistischen Deutschland abgesprochen, die Formulierung lautete „Wer in Deutschland führen will, kann … keiner … international[en] … Gemeinschaft … angehören.“
Dies war noch kein formelles Verbot. Man kann es für beschämend halten, wie in jenen Wochen die rotarische „Führung“ sich immer noch bei den höchsten Stellen von Partei und Regierung, insbesondere gegenüber der NSDAP-Zentrale in München, dem „Braunen Haus“, um weitere Duldung, wenn schon nicht Anerkennung von Rotary in Deutschland bemühte. Der damals letzte deutsch-österreichische Governor Hugo Grille (RC Berlin), selbst NSDAP-Mitglied, ein promovierter Jurist aus Sachsen, einige Jahre Polizeipräsident, dann Richter und schließlich Direktor am Oberverwaltungsgericht Dresden, seit 1931 Regierungspräsident in Chemnitz, bemühte sich intensiv um das Wohlwollen von Partei und Staat. Er betonte in einer – mit mehreren rotarischen Freunden abgesprochenen – Denkschrift die „unerschütterliche Treue“ der Rotarier zum Führer, versicherte, dass es keine jüdischen Mitglieder mehr gebe, versprach, alle rotarischen Entschließungen und Beschlüsse vorab von der Partei- und Staatsführung genehmigen zu lassen. Und er bat ausdrücklich, dass ein „herausragendes Mitglied der Partei- und Staatsführung den Ehrenvorsitz“ über Rotary übernehmen möge.
Vor diesem Hintergrund berief Governor Grille für den 4. September eine Tagung aller deutschen und österreichischen Clubführer [sic!] nach Berlin ein. Ohne näher auf die Diskussionen einzugehen, der Beschluss war eindeutig, die deutschen Clubs lösten sich zum 15. Oktober auf; Köln und Düsseldorf wollten sich erst mit dem letztmöglichen Termin auflösen Ende 1937. In der Realität folgten die Auflösungsbeschlüsse der einzelnen Clubs umgehend, die ersten zwei Tage nach der Tagung, die letzten Mitte Oktober.
Hamburg wählte einen eigenen Weg. Der Hamburger Club suspendierte sich unmittelbar nach der Berliner Tagung, hielt lediglich mittwochs einen sogenannten „Bereitschaftsdienst“ (Stallwache) ab; man wollte die in Hamburg zahlreichen ausländischen Rotarier nicht enttäuschen. Anschließend entwarf der damalige Hamburger Clubpräsident eine „Mitarbeitserklärung“, die auf völlige Gleichschaltung aller Clubs hinauslief. Sie sah sogar vor, dass die NSDAP sämtliche rotarische Amtsträger einsetzte.
Die Selbstauflösung der rotarischen Clubs ließ ein – wahrscheinliches – Verbot ins Leere laufen. Aber es gibt auch einen Hinweis, dass Himmler 1941 die Auflösung als „für uns wenig angenehm“ bezeichnet habe und angeblich das Weiterbestehen von Rotary in Deutschland für sinnvoller hielt. Man stelle sich vor, und ich nenne nur die in den Quellen erwähnten Namen, die über Beziehungen einzelner Rotarier kontaktiert wurden: Göring, Goebbels, Heydrich oder Himmler als oberste, von der NSDAP eingesetzte und von unseren Vorfahren in diesen Ämtern geduldete, wenn nicht sogar erwünschte Amtsträger auf höchster Ebene.
Das Schicksal der Freundeskreise
Einzelne der aufgelösten Freundeskreise in Deutschland trafen sich teilweise weiter: sei es privat, sei es in Lokalen, sei es, vielleicht auch zur Tarnung, unter Hinzuziehung von Nicht-Rotariern, sei es durch Integration in andere, den Nationalsozialisten nicht verdächtige Vereine. Diese Freundeskreise bildeten nach dem Krieg – jedenfalls zum Teil – die Keimzellen neuer rotarischer Clubs. Dieser Neuanfang war nicht leicht, weil einerseits RI befürchtete, dass allzu rasche Wiedergründungen in Deutschland ehemaligen Nazis die Rückkehr in die Weltorganisation ermögliche, andererseits lehnten unsere Nachbarländer dies in der Erinnerung an die deutschen Kriegsgräuel ab.
Die ersten rotarischen Clubs in den Westzonen bildeten sich deshalb ohne offiziellen Kontakt zu RI. Im Juli 1947 existierten bereits 18 solcher Clubs, im April 1948 nannten sie sich einheitlich „Club der Freunde [Gründungsjahr des alten Clubs + Stadt]“, mit der Verschärfung des Ost-West-Konfliktes wurde seit Juni 1948 immer deutlicher, dass RI seine Ablehnung von Neugründungen aufgeben würde, und es gab im Februar 1949 das Startsignal für den Neubeginn.
Die Haltung der Rotarier
Die ersten Clubs in Deutschland entstanden seit 1927, also 22 Jahre nach der ersten Clubgründung in Chicago. 1933 gab es in Deutschland und Österreich insgesamt 55 Clubs mit 1700 Mitgliedern, also rund 30 pro Club. Sie wurden von Anfang an von der NS-Bewegung angefeindet. Schriften in sehr hoher Auflage prangerten Rotary als „Deutschlands heimliche Herren“, als „Stoßtrupp Judas“ an. Prominente Mitglieder wurden namentlich denunziert, die „Verjudung der Hochfinanz“ und Rotary als Geheimbund insgesamt als „maskierte Freimaurerloge“ an den Pranger gestellt. Trotzdem reagierte Rotary merkwürdig widerstandslos, ähnlich wie vergleichbare bürgerliche Organisationen, in einer Mischung von Opportunismus, Furcht und Faszination.
Rotary in der Defensive
Nach der Machtergreifung war Rotary in der Defensive, zumal die Angriffe schärfer wurden; sie lauteten, Rotary sei amerikanisch und jüdisch gesteuert, geheimbündlerisch und von Freimaurern unterwandert. In dieser Situation handelten die einzelnen Clubs sehr unterschiedlich: Stuttgart beispielsweise verbreitete bereits im Frühjahr 1933 einen Flyer, in dem betont wurde, dass Rotary „keine Geheimorganisation“ sei, ja, dass sich das „deutsche Rotary … insbesondere seine Beziehungen zum Ausland, der nationalen Regierung zur Verfügung“ stelle. Der Traum vieler Rotarier jener Jahre war das italienische Beispiel, so ausdrücklich auch in diesem Flyer formuliert, „wo die engsten Beziehungen zur Regierung bestehen und Mussolini Schirmherr der Bewegung ist, die nach seinen Worten für Italien geschaffen werden müsste, wenn sie nicht bestünde“. In Italien bestand gewissermaßen eine Symbiose zwischen Rotary Italiano und dem Faschismus, Mussolini war eine Art rotarischer „Ehrenpräsident“. Und in Deutschland bot Rotary kurz nach der Machtergreifung dem Hitler-Regime seine Dienste an, war zur Gleichschaltung bereit.
Die deutschen Rotarier bewahrten ihren internationalen Charakter, solche Kontakte sind vielfach, vor allem bis zu den Olympischen Spielen 1936, aber auch noch 1937 nachgewiesen. Von RI erhielten die Rotarier in Deutschland praktisch keinerlei Unterstützung gegen das Regime. Im Gegenteil: Viermal nach 1933 besuchten RI-Präsidenten Deutschland, jedes Mal gab es ihrerseits Worte und Gesten der Wertschätzung, während das NS-Regime ihnen distanziert begegnete. Obwohl RI wusste, dass in Deutschland jüdische Mitglieder aus Rotary herausgedrängt wurden. Nach den Olympischen Spielen 1936 ging die NSDAP auf Konfrontationskurs.
Die innenpolitische Situation
Aber innenpolitisch ist die Situation differenzierter: Thomas Mann war Gründungsmitglied des RC München (1928) und nicht erst seit seinem Nobelpreis (1929) ein „Vorzeige-Rotarier“. 1930 nannte er in einer Rede in Berlin den Nationalsozialismus eine „Riesenwelle exzentrischer Barbarei“ und kritisierte dessen „primitive hackenzusammenschlagende und stramme Biederkeit“. Während der Machtergreifung Ende Januar war er auf einer Vortragsreise im Ausland. Er sollte erst nach dem Weltkrieg zurückkehren. Sein Club, damals präsidiert von einem Sympathisanten der Partei und späteren Parteigenossen, teilte ihm im April 1933 mit, er sei als Mitglied gestrichen. Mit ihm sieben weitere Mitglieder, und bis Ende Juni waren 26 ausgeschlossen worden, insgesamt 40 Prozent. Thomas Mann war tief gekränkt. In sein Tagebuch schrieb er „Erschütterung, Amüsement und Staunen über den Seelenzustand dieser Menschen, die mich, eben noch die ‚Zierde‘ ihrer Vereinigung, ausstoßen ohne ein Wort des Bedauerns, des Dankes, als sei es ganz selbstverständlich. Wie sieht es aus in diesen Menschen?“
Thomas Mann wurde 1942 Ehrenmitglied des RC West-Los Angeles, er empfand die Geste als eine Genugtuung.
Wie sah es aber aus in diesen Menschen? Erneut ist sehr zu differenzieren: Der RC Freiburg lud den NSDAP-Oberbürgermeister zu seiner Charterfeier im Oktober 1933 ein. Er wurde begrüßt vom Präsidenten, der übrigens mit einer Halbjüdin verheiratet war, als „prominenter Vorkämpfer der nationalsozialistischen Bewegung“. Und das, obwohl der neue NS-Oberbürgermeister wenige Monate vorher den bisherigen Oberbürgermeister, ein Clubmitglied, aus dem Amt getrieben hatte. Die Festreden behandelten unter anderem die Frage, wie Rotary den NS-Staat fördern könne. Trotzdem blieb die Haltung der Mitglieder zum Staat sehr differenziert. Es gab auch klare Gegenpositionen wie die von Walter Eucken und Joseph Sauer, vor 1933 Rektor der Universität.
Der Freiburger Chemiker Hermann Staudinger, 1953 erhielt er den Nobelpreis, wurde 1935 Mitglied des Clubs, wurde zur Anpassung gezwungen. Der Direktor der Freiburger Universitätsklinik, Siegfried Thannhauser, war Jude, hielt die NSDAP zunächst für eine vorübergehende Erscheinung, 1935 emigrierte er. Sein Club verabschiedete ihn in feierlicher Form – diese Geste war nicht mehr selbstverständlich. Es gab auch einzelne Clubs, die sich unter dem neuen Regime frühzeitig auflösten, so der RC Mainz 1934, weil der Gauleiter Druck auf die Mitglieder des Clubs ausübte. Der RC Heidelberg löste sich vor dem Mai 1933 auf.
Wie viele Mitglieder ihre Clubs verließen, weil sie mit dem neuen Trend nicht einverstanden waren, ist bislang nur in Einzelfällen überliefert: Im RC Breslau stand der Antrag auf Auflösung zur Debatte, und es ist überliefert, dass acht Mitglieder austraten, weil andere Mitglieder aus politischen Gründen zum Austritt gedrängt wurden. Nach allem, was bekannt ist, reduzierte sich die Zahl der Rotarier zwischen 1933 und 1937 von 1700 auf 1200; leider ist nicht zu sagen, wie viele Neuaufnahmen dieser Abnahme gegenüberstehen. Jedenfalls gehen wir derzeit noch davon aus, dass etwa 500 aus Rotary herausgedrängt oder herausgeworfen wurden. Dass München „am radikalsten“ gegen jüdische Mitglieder vorging, wurde unter den Clubs diskutiert, gegen deren „Nötigung“ zum Austritt sprachen sich beispielsweise im April 1933 immerhin noch elf Clubs aus.
Als am 4. September vor 80 Jahren der Beschluss zur Selbstauflösung fiel, war bekannt, dass Mussolini noch in diesem Monat zu einem Staatsbesuch nach Deutschland kommen würde. Es gab in den drei Wochen zwischen dem Selbstauflösungsbeschluss und dem Mussolini-Besuch auf unterschiedlichen Ebenen eine ganze Reihe von Versuchen verschiedener Rotarier, über persönliche Beziehungen zum Beispiel zu Heydrich und ins „Braune Haus“, die Entscheidung der NSDAP gegen Rotary zurückzunehmen. Sie blieben erfolglos.
Rotarys Ansehen
Welch ein Glück! Man stelle sich vor, Hitler hätte wie Mussolini eine Ehrenfunktion beim Deutschen Rotary übernommen. Dies einen langfristigen Imageschaden zu nennen, wäre ein Euphemismus. Was dies für das „Ansehen“ von Rotary in Deutschland heute bedeuten würde, bleibt der Fantasie überlassen.
Forschungsprojekt
Wenn ein Staat demokratische Rechte mit Füßen tritt und humanistische Prinzipien diskreditiert: Wie soll Rotary mit Clubs in diesen Ländern umgehen? Wenn aber ein die Menschenrechte verachtender Staat zu demokratischen Regeln zurückkehrt: Wie kann Rotary in solchen Ländern neu aufgebaut werden, ohne auf Unterstützer des alten Regimes zu verzichten? Am Beispiel Deutschlands in der NS-Zeit und in der Nachkriegsphase lassen sich diese Fragen exemplarisch und quellengenau erforschen. Seit einem Erstaufruf im Rotary Magazin im Oktober 2015 haben sich mittlerweile über 50 Rotarier zusammengefunden, Rotary in Deutschland von der Mitte der 1920er bis zu Mitte der 1950er Jahre wissenschaftlich zu untersuchen. Weiterhin sind Fachpersonen herzlich eingeladen, am Projekt mitzuwirken. Auch helfen Spenden, das Vorhaben voranzutreiben.
Nähere Infos und Spenden: de.rotary.de/dgr/Expertenprojekt/index.php oder beim Projektkoordinator Carl-Hans Hauptmeyer (RC Calenberg-Pattensen): hauptmeyer@hist.uni-hannover.de
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