"Fortschrittskoalition" ohne Fortschritt
Durch unsoziale und klimaschädliche Sparmaßnahmen verspielt die Ampel ihren letzten Kredit – und steckt dennoch in finanziellen Schwierigkeiten.
Obwohl damals erst seit wenigen Wochen im Amt, musste die Ampelkoalition notgedrungen auf den Ukraine-Krieg reagieren, sich neu orientieren und außen- wie innenpolitisch Konsequenzen aus dem Kriegsgeschehen ziehen, das sie bei der Abfassung ihres Koalitionsvertrages nicht hatte voraussehen können. Bereits drei Tage nach dem russischen Angriff, am 27. Februar 2022, sprach Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Regierungserklärung von einer "Zeitenwende" und kündigte ein kreditfinanziertes Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr und auf "mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts" steigende Rüstungsausgaben pro Jahr an.
Folgt der militärpolitischen eine sozialpolitische Zeitenwende?
Hauptprofiteure der Zeitenwende sind die Großaktionäre deutscher und US-amerikanischer Rüstungskonzerne. Hochrüstung macht generell die Reichen reicher und die Armen zahlreicher. Weil dem Wohlfahrtsstaat fehlt, was ein Rüstungsstaat an Mehrkosten verschlingt, folgt der militärpolitischen Zeitenwende nun fast zwangsläufig auch eine sozialpolitische Zeitenwende. Zu befürchten ist daher auf längere Sicht eine fortdauernde Senkung des Lebensstandards der Bevölkerungsmehrheit, die zuletzt Reallohnverluste hinnehmen musste und durch steigende Mieten, Energiepreisexplosion und Inflation stark belastet wurde.
Durch die drastische Erhöhung der Rüstungsausgaben spitzten sich die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe zu, was sich in den Haushaltsberatungen für das Jahr 2024 deutlich niederschlug. Da sich die FDP weigerte, die "Schuldenbremse" noch einmal auszusetzen und Steuern zu erhöhen, wurde auf Vorschlag des Bundesfinanzministers beschlossen, in fast allen Etats – außer bei der Verteidigung: Einzelplan 14 – Kürzungen vorzunehmen. Besonders schmerzlich waren die geplanten Abstriche im Bereich der Bildung sowie im Bereich von Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Genannt seien nur die Halbierung des Finanzrahmens für das "Startchancenprogramm", mit dem 4000 Schulen in sozial stark belasteten Quartieren besser ausgestattet werden sollen, die Kürzung der Bafög-Mittel für Studierende und Schüler, Einsparungen bei den Freiwilligendiensten sowie die Verringerung des Steuerzuschusses für die Pflege. Auch die Bundeszentrale für politische Bildung sollte trotz der jüngsten AfD-Wahlerfolge und der wachsenden Gefahr des Rechtsextremismus beinahe auf ein Viertel ihres Budgets verzichten, was erst in der abschließenden Bereinigungssitzung des Bundestags-Haushaltsausschusses revidiert wurde.
Bundesverfassungssurteil und Haushaltskompromiss der Ampelkoalition
Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Verschiebung von pandemiebedingten Kreditermächtigungen in den Klima- und Transformationsfonds am 15. November 2023 für nichtig erklärt hatte, geriet die Ampelkoalition in weitaus größere Finanznöte, deren Umfang mit 17 bis 30 Milliarden Euro beziffert wurde. Wegen des Karlsruher Urteils wurde eine Haushaltssperre verhängt, wodurch zahlreichen Projekten im Bereich der Jugend- und Sozialarbeit, der (politischen) Bildung, der Entwicklungszusammenarbeit sowie der Migrationsberatung das Aus drohte, denn ihr über den Jahreswechsel 2023/24 nicht mehr entlohntes Personal suchte nach anderen Beschäftigungsmöglichkeiten. Die vorläufige Haushaltsführung machte jede nicht gesetzlich festgelegte Ausgabe des Bundes von der Zustimmung des Finanzministers abhängig.
Wochenlang verhandelten Bundeskanzler Scholz, sein Vize Robert Habeck und Finanzminister Lindner über eine Lösung. Es ging darum, einen gordischen Knoten zu lösen, statt ihn zu durchhauen, was das vorzeitige Ende der Regierungskoalition von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP bedeutet hätte. Wenn man sowohl die Schuldenbremse – eine im Grundgesetz verankerte Kreditsperre des Staates, die jedes Unternehmen an den Rand des Ruins brächte – beibehalten wie auch Kapital- und Gewinnsteuern in Fortführung des Merkel-Dogmas "Keine Steuererhöhung, für wen auch immer" lieber weiter senken als Reiche und Hyperreiche belasten will – genau dafür steht die FDP in der Ampelkoalition –, steckt der Sozialstaat in einer Schraubzwinge, aus der es zumindest für arme Bevölkerungsschichten als seine Hauptnutznießer kein Entrinnen gibt.
Zwar bekannten sich die Verhandler der Regierungsparteien ausdrücklich zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts, kündigten aber gleichzeitig schmerzhafte Kürzungen im Bundeshaushalt an. Aufgrund des am frühen Morgen des 15. Dezember 2023 gefundenen Haushaltskompromisses zahlt der Bund weniger Zuschüsse in die Rentenkasse, beschneidet den Wohngeldetat, schränkt die Förderung der Weiterbildung von Bürgergeldbeziehern ein und fährt die soziale Abfederung der Klimawende zurück. Bei der Kindergrundsicherung soll es zwar keine Kürzungen geben, sie ist aber im Laufe des monatelangen Streits zwischen Familienministerin Lisa Paus und Lindner ohnehin längst auf eine reine Verwaltungsreform geschrumpft.
Nachdem er das Bundeskabinett hinter sich gebracht und aus der Kindergrundsicherung eine Reformruine gemacht hatte, bezeichnete Lindner sie als "letzte größere Sozialreform" auf absehbare Zeit, was für den Wohlfahrtsstaat nichts Gutes verhieß. Für arme Familien muss es wie Hohn erscheinen, dass um die Finanzierung der Kindergrundsicherung monatelang gerungen und am Ende nur ein Kostenrahmen von 2,4 Milliarden Euro genehmigt wurde, während für Waffenlieferungen an die Ukraine trotz der verschärften Sparzwänge im Jahr 2024 nicht weniger als acht Milliarden Euro vorgesehen sind.
Anstatt – wie zuerst geplant – endlich das Kerosin zu besteuern und damit auch reiche Besitzer von Privatjets zu treffen, erhöht man unter Hinweis auf die neoliberale Standortlogik und angeblich drohende Konkurrenzvorteile ausländischer gegenüber deutschen Flughäfen lieber die Luftverkehrsabgabe, was die Reisen von Millionen Passagieren verteuert. Die teuerste Subvention des Bundes ist die "Überprivilegierung der Firmenerben" (Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Erbschaftsteuer). Allein durch Streichung dieses ungerechtfertigten Steuerprivilegs könnte der Staat seine Einnahmen um vier bis fünf Milliarden Euro jährlich steigern. Auch der Wegfall des Dienstwagenprivilegs würde keine Armen treffen und viel Geld in die Staatskasse spülen, mit dem man beispielsweise den Pflegenotstand lindern könnte.
Die eigentlich bis zum Ende des Jahres 2023 befristeten, aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds finanzierten Preisbremsen für Strom, Erdgas und Fernwärme hat der Bundestag noch am Tag nach dem Karlsruher Urteil um drei Monate verlängert. Gleichzeitig wurde beschlossen, den auf sieben Prozent ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Gas wieder auf 19 Prozent anzuheben. Aufgrund der Finanzierungsschwierigkeiten machten die Regierungsparteien ihre Entscheidung zur Verlängerung der Energiepreisbremsen später allerdings wieder rückgängig. Außerdem hoben sie den CO2-Preis für Benzin, Heizöl und Gas stärker und schneller als ursprünglich geplant an, wodurch sich das Heizen und Tanken für die Verbraucher ab 1. Januar 2024 weiter verteuert.
Wegfallen sollte laut dem Ampel-Haushaltskompromiss die Agrardieselrückvergütung. Vom Deutschen Bauernverband organisierte Protestaktionen der Landwirte, die auch ihre Befreiung von der Kfz-Steuer einbüßen sollten und zuerst mit zahlreichen Traktoren die Straßen Berlins, danach aber auch die anderer Städte blockierten, veranlassten SPD, Grüne und FDP, ihr "Sparpaket" noch einmal auf den Prüfstand zu stellen. Landwirtschaftsminister Cem Özdemir, der bereit war, sich dem Druck zu beugen, wurde nahegelegt, dafür andere Kürzungen in seinem Etat vorzunehmen. Besser wäre es gewesen, das dem Klima weit abträglichere generelle Dieselprivileg bei der Mineralölbesteuerung, die Pendlerpauschale und das Dienstwagenprivileg, von dem ausschließlich Wohlhabende steuerlich profitieren, abzuschaffen.
Ursachen des Zickzackkurses der Ampelkoalition und Zukunftsaussichten des Landes
Um die in sich äußerst widersprüchliche Subventions- und Finanzpolitik der Regierungsparteien verstehen zu können, muss man folgendes Trilemma ihrer "Fortschrittskoalition" berücksichtigen: Während die SPD den Sozialstaat schützen will, es unter ihrem Bundeskanzler Olaf Scholz aber nur halbherzig tut, und die Grünen das Klima schützen wollen, es aber gleichfalls nur halbherzig tun, will die FDP das Vermögen der Reichen schützen und tut es auch, selbst wenn darunter ihre Koalitionspartner, die Glaubwürdigkeit der politischen Klasse und die soziale Sicherheit leiden. Wird das größte Aufrüstungsprogramm seit Gründung der Bundeswehr 2026/27 – wie geplant – in den regulären Staatshaushalt überführt, bleiben die soziale und die Klimagerechtigkeit womöglich ganz auf der Strecke.
Trotz des Ukrainekrieges sind derartige Rüstungsanstrengungen von Nato-Staaten weder erforderlich noch zukunftsträchtig. Vielmehr sollte die Bundesregierung ihre Bemühungen um Frieden, Entspannung und Abrüstung intensivieren, statt den Einzelplan 14 noch weiter aufzublähen. Sinnvoller als das "Sondervermögen Bundeswehr" wäre die Bereitstellung ähnlich voluminöser Investitionsprogramme für den öffentlichen Wohnungsbau, den Ausbau von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, eine bessere Alterssicherung von Geringverdienern sowie die nötige Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut, Langzeitarbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit. Vornehmlich der sozialen, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur gebührt viel mehr Aufmerksamkeit als in der Vergangenheit. Denn hier liegt der Schlüssel für eine humane, friedliche und demokratische Entwicklung unseres Landes. Hingegen schadet der Menschheit, der Umwelt und dem Klima nichts mehr als das Militär.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und gemeinsam mit seiner Frau Dr. Carolin Butterwegge bei Campus (2021) das Buch Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt veröffentlicht. Nach Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona erschien nun Deutschland im Krisenmodus. Infektion, Invasion und Inflation als gesellschaftliche Herausforderung bei Beltz Juventa.
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