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Titelthema

Halbherzigkeit statt weniger Ungleichheit

Titelthema - Halbherzigkeit statt weniger Ungleichheit
© Illustration: Rohan Eason/Die Illustratoren

Der neuen Regierungskoalition fehlt ein Masterplan für die sozial-ökologische Transformation.

Christoph Butterwegge01.12.2021

Die künftige Bundesregierung steht vor gewaltigen Herausforderungen: Sie muss ihren Beitrag zur Eindämmung der verharmlosend „Klimawandel“ genannten Erderhitzung leisten, die Modernisierung der Infrastruktur unseres Landes vorantreiben, dessen soziale Probleme (Prekarisierung der Arbeit, Verarmung eines Teils der Bevölkerung, Wohnungsnot und Mietenexplosion) lösen sowie den von der Coronakrise belasteten Staatshaushalt sanieren.


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Der neuen Regierungskoalition fehlt jedoch ein überzeugendes Zukunftskonzept jenseits der Digitalisierung von Schule, Wirtschaft und Gesellschaft, weil ihre Partner keine sie verbindende Wertebasis haben. Vielmehr driften Programme, Präferenzen und Wählerbasis der Koalitionspartner aller während der Sondierungsgespräche zur Schau gestellten Harmonie zum Trotz ebenso stark auseinander wie die Gesellschaft, deren Zusammenhalt sie gewährleisten müssen. Personell spiegelt die Ampel eher die Spaltung der Gesellschaft wider, als glaubwürdig für Integration, Gemeinschaftlichkeit und Solidarität zu stehen. Die ausgeprägte Kontroversität der Grundpositionen ihrer Parteien mag für Journalisten einen gewissen Reiz haben und diese im ersten Moment sogar faszinieren, dürfte sich in der Regierungspraxis jedoch schon bald als Hindernis für konsensuale Entscheidungen, ein reibungsloses Funktionieren und konsequentes Handeln erweisen. Ziele, Forderungen und Strategien der Regierungsparteien weisen in unterschiedliche Richtungen, was sich besonders deutlich auf wirtschafts-, steuer- und sozialpolitischem Gebiet zeigt.

Die wachsende Ungleichheit ist das Kardinalproblem unserer Gesellschaft, weil sie sozialen Konfliktstoff zwischen deren Mitgliedern erzeugt, ökonomische Krisentendenzen verschärft und ökologische Nachhaltigkeit verhindert. Den gesellschaftlichen Zusammenhalt kann man bloß stärken, wenn die Kluft zwischen Arm und Reich geschlossen wird. Zu befürchten ist allerdings, dass SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP der Armut nur zögerlich entgegentreten und den sich immer stärker bei wenigen Familien konzentrierenden Reichtum gar nicht antasten.

Mangel an sozialem Problembewusstsein

Ein wesentlicher Grund dafür, dass mit der Ampel nicht die Hoffnung auf mehr soziale Gerechtigkeit einhergeht, ist die Gleichgültigkeit ihrer Spitzenpolitiker gegenüber der wachsenden Ungleichheit. Weil sich die FDP heute – ganz anders als zu Beginn der sozialliberalen Koalition 1969/70 – in erster Linie als Sachwalterin der Wirtschaft versteht und glaubt, bürgerliche Freiheit verwirkliche sich vornehmlich beim Investieren des Unternehmers und beim Rasen des Porschefahrers auf der Autobahn, ist die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit von Finanzschwachen bei dieser Koalition schlecht aufgehoben.

Ähnlich wie Rot-Grün zur Jahrtausendwende ermöglicht die Ampel gesellschaftspolitische Fortschritte – etwa die Abschaffung des Informationsverbots über ärztliche Schwangerschaftsabbrüche in Paragraf 219a StGB oder die Legalisierung von Cannabis –, die Kluft zwischen Arm und Reich wird sie jedoch eher vertiefen. Zwar inszeniert sich die rot-grün-gelbe Koalition als Hort des Fortschritts, sie wirkt aber eher als Bastion der technologischen Fortschrittsgläubigkeit. Schon der letzte Koalitionsvertrag, den CDU, CSU und SPD am 12. März 2018 unter dem Motto „Ein neuer Aufbruch für Europa, eine neue Dynamik für Deutschland, ein neuer 

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Zusammenhalt für unser Land“ schlossen, enthielt das Modewort „Digitalisierung/digital“ fast 300-mal, wohingegen der Begriff „Armut“ nur elfmal und der Terminus „Reichtum“ gar nicht vorkam.

Wie es scheint, versteht die Ampel-Koalition unter „Digitalisierung“ nicht zuletzt betriebliche Rationalisierung, Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse und Intensivierung der Arbeit. Dafür spricht die Absicht der Koalitionäre, das Arbeitszeitgesetz zu ändern, welches bisher eine Tageshöchstarbeitszeit von acht Stunden (bei einer Sechs-Tage-Woche) beziehungsweise zehn Stunden einschließlich Überstunden festlegt. Arbeitgeber sollen diese Grenze künftig überschreiten dürfen, wenn es Betriebsvereinbarungen oder Tarifverträge vorsehen.

Vermehrung der Altersarmut?

Der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Olaf Scholz hatte bereits unmittelbar nach der für seine Partei desaströsen Bundestagswahl 2017 die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro pro Stunde gefordert. Das soll „im ersten Jahr“ der neuen Regierung geschehen. Nach bisherigem Stand steigt der Mindestlohn am 1. Januar 2022 von 9,60 Euro auf 9,82 Euro und am 1. Juli 2022 auf 10,45 Euro. Ob die 12 Euro dann oder erst im Folgejahr gelten, steht dahin. Schon jetzt ist dieser Stundenlohn wegen des enormen Preisauftriebs aber deutlich weniger wert als 2017.

Die größte Schwachstelle der Konstruktion des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland bleibt erhalten: Er wird auch weiterhin nicht politisch, sondern auf der Grundlage des Votums einer Kommission festgelegt, die sich im Wesentlichen nachlaufend an der Tariflohnentwicklung orientiert. Dabei ist eine gesetzliche Lohnuntergrenze in Deutschland gerade deshalb nötig, weil die Gewerkschaften in zahlreichen Branchen inzwischen zu schwach sind, um nennenswerte Tariflohnsteigerungen zu erkämpfen.

Zwar dürften Millionen abhängig Beschäftigte von der Anhebung des Mindestlohns profitieren, man überschätzt seine Wirkung jedoch, wenn sie mit dem Ende des Niedriglohnsektors gleichgesetzt wird. Vor allem die Armut im Alter lässt sich damit nicht beseitigen, weil ein zu diesem Stundenlohn arbeitender Mensch selbst nach 45 Jahren Vollzeittätigkeit am Ende seines Berufslebens wegen einer zu geringen Rente ergänzend auf die Grundsicherung angewiesen wäre.

Dass die Entgeltgrenze bei den Minijobs von 450 auf 520 Euro angehoben werden soll, dürfte mehr Frauen in die Armutsfalle locken und den Niedriglohnsektor verbreitern. Folglich ist mehr Altersarmut programmiert, obwohl das Rentenniveau nicht weiter gesenkt und das gesetzliche Renteneintrittsalter nicht erhöht werden soll. Bei dem geplanten Einstieg in eine Teilkapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung handelt es sich nach der Riester-Reform um eine weitere öffentliche Anschubfinanzierung für die Börse und eine Förderung der Gewinne auf den Finanzmärkten tätiger Unternehmen.

„Bürgergeld“ statt Bürgerversicherung

Das gesundheits- und sozialpolitische Juwel der Bürgerversicherung spielte weder im Wahlkampf eine große Rolle, noch steht sie im Koalitionsvertrag. Vielmehr speist die FDP ihre Koalitionspartner mit dem Linsengericht eines Bürgergeldes ab, das diese Partei – als „liberales Bürgergeld“ bezeichnet – schon vor der SPD im Programm stehen hatte. Vermittelt wird der Eindruck, als sei mit der Einführung des Bürgergeldes die Abschaffung von Hartz IV verbunden. Die bisher bekannten Absichten der potenziellen Koalitionspartner lassen allerdings eher befürchten, dass nicht einmal die Regelbedarfe des Arbeitslosengeldes II stärker erhöht werden sollen, als es die große Koalition kurz vor der Bundestagstagswahl am 26. September beschlossen hat.

Wie man ihrem Zehn-Punkte-Sondierungspapier entnehmen kann, halten die Ampel-Parteien am Konzept des „aktivierenden Sozialstaates“ fest und gehen von der Unterstellung aus, dass Arbeitslosigkeit von den Betroffenen selbst verschuldet wird, also ein durch mehr Druck auf oder mehr finanzielle Anreize für diese zu lösendes Problem ist. Deshalb sollen die Zuverdienstmöglichkeiten „verbessert“ werden, was sich großzügig und für die bisherigen Hartz-IV-Bezieher günstig anhört. Wenn die Erwerbsaufstocker mehr von ihrem Lohn behalten dürfen, wird der ohnehin schon größte Niedriglohnsektor Europas, in dem zwischen einem Fünftel und einem Viertel aller Beschäftigten tätig sind, jedoch noch wachsen. Denn das Bürgergeld wäre ein Kombilohn, der es Unternehmen erleichtern würde, frühere Hartz-IV-Bezieher für wenig Geld anzuheuern. Sozial ist jedoch längst nicht alles, was Arbeit schafft. Sozial ist vielmehr nur, was Armut abschafft.

Reichtumsbegrenzung ist ein Tabu

Wird das Arbeitslosengeld II von SPD, Bündnisgrünen und FDP in „Bürgergeld“ umbenannt, ohne dass wenigstens die schwerwiegendsten Verschlechterungen für Erwerbslose rückabgewickelt werden, handelt es sich um bloßen Etikettenschwindel sowie eine arbeitsmarkt- und sozialpolitische Mogelpackung. Auch eine Kindergrundsicherung, die Minderjährige aus dem Hartz-IV-Bezug herauslöst, ihre Eltern aber darin belässt, stellt lediglich eine Teillösung des Armutsproblems dar.

Zu ihrer Steuerpolitik äußern sich die Koalitionäre widersprüchlich. Einerseits beteuern sie, den Kampf gegen Steuerhinterziehung, Geldwäsche und Steuervermeidung „intensivieren“ zu wollen. Andererseits soll Steuerbürokratie (etwa durch höhere Schwellenwerte und volldigitalisierte Verfahren) abgebaut werden – als ob dazu nicht gerade eine stärkere Kontrollbürokratie, mehr Steuerfahnder und Betriebsprüfer nötig wären!

Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche müssten stärker zur Finanzierung der Armutsbekämpfung herangezogen werden, um die sozioökonomische Ungleichheit zu verringern. Eine wirksame Bekämpfung der Armut kostet schließlich viel Geld, und wer sich dafür entscheidet, muss den Reichtum antasten. Geht es nach den potenziellen Koalitionspartnern, werden in dieser Legislaturperiode aber weder neue Substanzsteuern eingeführt noch Steuern wie die Einkommen-, Kapitalertrag- oder Körperschaftsteuer erhöht.

Finanzpolitik als Achillesferse der Ampel

Gleiches gilt in Bezug auf die Erbschaftsteuer für Firmenerben. Warum soll man weiterhin einen ganzen Konzern erben können, ohne einen Cent betriebliche Erbschaftsteuer zahlen zu müssen? Auch FDP-Politiker, die zu Recht verlangen, dass sich Leistung lohnen muss, sollten endlich begreifen, dass es keine Leistung ist, der Sohn oder die Tochter eines Großunternehmers zu sein.

Bei den Finanzen liegt denn auch die Achillesferse der ersten Ampel-Koalition auf Bundesebene: Pläne maßgeblicher Politiker der Regierungsparteien, mithilfe von Investitionsgesellschaften und öffentlichen Unternehmen – welche die FDP früher immer privatisieren wollte – die nach wie vor gültige Schuldenbremse im Grundgesetz auszuhebeln, erinnern an die Quadratur des Kreises.

Armutsbekämpfung wird von den Koalitionspartnern zwar proklamiert, dürfte in der Regierungspraxis aufgrund der getroffenen Vereinbarungen aber sehr halbherzig praktiziert werden; Reichtumsbegrenzung wurde in den Koalitionsverhandlungen gar nicht mehr diskutiert, sondern von der FDP generell blockiert. Die geplanten „Superabschreibungen“ für Investitionen in Klimaschutz und Digitalisierung sind gar das exakte Gegenteil – ein teures Steuergeschenk für Privatunternehmer. Deshalb wird es am Ende dieser Legislaturperiode eher mehr als weniger sozioökonomische Ungleichheit geben, die zu verringern SPD und Bündnisgrüne ihren Wählern versprochen haben.

Christoph Butterwegge

Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und gemeinsam mit seiner Frau Dr. Carolin Butterwegge bei Campus (2021) das Buch Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt veröffentlicht. Nach Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona erschien nun Deutschland im Krisenmodus. Infektion, Invasion und Inflation als gesellschaftliche Herausforderung bei Beltz Juventa.