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Gotik prägt Europa
Paderborn feiert den Dom und die Baukultur des 13. Jahrhunderts in einer großen Ausstellung
Ein wesentliches Charakteristikum Europas ist die Kultur der Städte. Achtzig Prozent der Einwohner leben in Städten und knüpfen damit an eine urbane Kultur an, die in die Antike oder wenigstens ins Mittelalter zurückreicht. Der große französische Mediävist Jacques Le Goff machte sein Bild von Europa an den Kathedral- und Kaufmannsstädten fest. Die Silhouette der mittelalterlichen Städte dominierten die Kirchen.
Das 13. Jahrhundert ist das Jahrhundert, in dem in Europa die großen Im Jahr des europäischen Kulturerbes (European Heritage) veranstaltet das Diözesanmuseum Paderborn in der Reihe seiner bekannten kunst- und kulturhistorischen Ausstellungen eine groß angelegte Präsentation zur Kunst und Architektur der Gotik. Die Ausstellung „GOTIK – Der Paderborner Dom und die Baukultur des 13. Jahrhunderts in Europa“ zeigt anhand hochkarätiger Exponate, wie sich die neuartigen Ideen beim Bau der großen Kathedralen ausbreiteten. Voraussetzung für deren enorme Verbreitung waren umwälzende technologische Innovationen.
Die Großbaustellen der Kathedralen erforderten im Miteinander der unterschiedlichen Gewerke neue durchrationalisierte Produktionsverfahren, die technologischen Fortschritt mit neuen Formen der Arbeitsorganisation verbanden. Vor allem aber entwickelte sich bald nach 1200 die Architekturzeichnung zum neuen Medium, das innerhalb weniger Jahrzehnte sämtliche Planungs- und Bauverfahren in den meisten Kunstgattungen revolutionierte.
Damit war es möglich, auch ohne Anschauung der Originale komplexe gotische Architekturformen auf der Basis geometrischer Konstruktion zu planen und zu realisieren. Das grafische Planungsmedium ermöglichte zudem, die Formen beliebig der Größe nach zu skalieren. So prägte die gotische Formensprache nicht nur die gebaute Welt der Kathedralen, sondern auch die anderen Kunstgattungen. Die Künstler waren in der Lage, nun ihre Vorstellungen vor der eigentlichen Umsetzung minutiös zu visualisieren, was für komplexe Projekte extrem wichtig war, sich aber auch bis in die Architekturformen der Goldschmiedekunst hinein auswirkte.
Rasche Ausbreitung
In Westfalen prägte die Gotik die Sakralarchitektur mit den großen Domkirchen in Münster, Paderborn und Minden im Zentrum auf imposante und unverwechselbare Art. Mit der Gotik-Ausstellung stellen wir somit wieder ein regionales Thema in seinen spezifischen Brechungen in den großen Kontext gesamteuropäischer Entwicklungen, von denen die Region nicht nur gestreift, sondern deren Einflüsse hier konstruktiv in neue achtbare Bau- und Kunstformen gewandelt wurden.
Auch wenn wir heute die Wege und Verbindungslinien dieses von West nach Ost ausgreifenden Kulturtransfers von Reims über Paderborn bis nach Riga erst in Ansätzen nachvollziehen können und vieles wegen der fehlenden Quellen noch im Dunkeln liegt, so erstaunt doch, wie rasch sich die neuen Bau- und Konstruktionsformen ausbreiteten. Einflüsse der Baukunst der Zisterzienser und der dynastische Baustil der Familie zur Lippe, die vor der Reformation allein vier Paderborner Bischöfe stellte, vermitteln die gotischen Bauformen bis ins Baltikum.
So finden sich etwa in der St. Nikolai-Kirche in Riga verwandte Bauformen und Motive der Bauplastik, die eindeutig Einflüsse aus dem Rheinland beziehungsweise aus Westfalen belegen. Exponate aus ganz Europa, darunter die ältesten erhaltenen Architekturzeichnungen, die sogenannten Reimser Palimpseste, bedeutende Bildhauerwerke wie der berühmte „Kopf mit der Binde“ des Naumburger Meisters aus dem Dommuseum in Mainz, Baupläne herausragender Kathedralen, Preziosen der Elfenbeinschnitzkunst und Goldschmiedekunst, aber auch aufwendige 3-D-Animationen lassen die Epoche der Gotik mit ihren umwälzenden kulturellen und technologischen Veränderungen lebendig werden.
Besonders freuen wir uns über die Zusagen für außergewöhnlich prominente Stücke wie die Originalfragmente des Schreins der heiligen Gertrud von Nivelles, 1272–1298 von Jakenez d’Anchin, Colay de Douai und Jaquemon de Nivelle geschaffen und von deutschen Bombern im Zweiten Weltkrieg zerstört, das Dreiturmreliquiar aus dem Aachener Domschatz, Aachen um 1370/90, und das einzigartige Heiliggrabreliquiar aus dem Schatz der Kathedrale von Pamplona, Paris um 1284, das bislang noch nie in Deutschland gezeigt wurde. Vom Bauprozess über bahnbrechende technische Neuerungen bis zum Austausch kultureller Ideen gewähren Ausstellung und Katalog faszinierende Einblicke in die Voraussetzungen und Entstehungszusammenhänge dieser innovativen Architektur- und Bildsprache, die sich über ganz Europa verbreitete.
Neben den grandiosen Hochleistungen der gotischen Zentren geht es aber auch darum zu zeigen, wie sich eigene regionale Traditionen etwa beim Paderborner Dombau des 13. Jahrhunderts mit westlichen Einflüssen zu selbstbewussten neuen Formschöpfungen verbinden konnten. Die etwa zwischen 1220 und 1280 entstandene Paderborner Kathedrale mit ihrem imposanten Hallenlanghaus und den ganz ins Glas aufgelösten gotischen Maßwerkfenstern ist in wesentlichen Teilen bis heute erhalten. Sie war zugleich der erste Dombau, der nicht aus Anlass einer Zerstörung des Vorgängers erfolgte, sondern aus einem bewusst gefassten Entschluss, eine größere und modernere Kathedrale zu errichten, die sich trotz mannigfacher Umgestaltungen in wesentlichen Teilen erhalten hat und bis heute das Stadtbild Paderborns prägt.
Portalskulpturen
Gotisch ist die Idee des monumentalen Figurenportals, das den Haupteingang des Paderborner Domes auszeichnet. Gerade an den großen Kathedralen in Frankreich gewinnt der figürliche Skulpturenschmuck eine gesteigerte Bedeutung hinsichtlich der Orte der Aufstellung sowie auch der Bedeutung für die Verkündigung des Evangeliums als Grundlage des Glaubens.
In der Ausstellung widmen wir dem Thema der Portalskulpturen und den neuen Formen der Wirklichkeitserfassung in der gotischen Skulptur mit wunderbaren Leihgaben aus dem Louvre in Paris, aus Mainz, Hamburg und Trier breiten Raum. Dieses gilt – gleichwohl in bescheideneren Dimensionen – auch für den Skulpturenschmuck am Paradiesportal und an der Südfassade des Ostquerhauses des Paderborner Domes. Die Architektur wird zum Bildträger; die Skulpturen wachsen sich zur Überlebensgröße aus und werden so zum personalen Gegenüber des Betrachters.
Dank neuester Forschung konnte die Entstehungszeit der hölzernen Bischofsfiguren und des Kruzifixes vom Paradiesportal ermittelt werden, die im selben Zeitraum wie das steinerne Portalensemble entstanden sind. Damit haben wir erstmals gesicherte Daten, die die stilkritische Datierung des Portals in die Zeit um 1240 stützen. Zugleich erstaunt die Selbstverständlichkeit der gleichberechtigten Verwendung von Stein und Holz, die fest mit der solche Unterschiede nivellierenden Farbfassung rechnete, die – heute leider verloren – die Gesamtwirkung nachhaltig bestimmte.
Gotischer Sakralbau
So entsteht ein breites Panorama, in dem sich jenes hochrangige europäische kulturelle und künstlerische Umfeld und Beziehungsgeflecht auf anschauliche Art und Weise vermittelt, aus dem nicht zuletzt die Paderborner Auftraggeber und ihre Bauhütte des 13. Jahrhunderts die Konzepte schöpften und weiter vermittelten. In der Kathedrale spiegelt sich die hochmittelalterliche Glaubenswelt, werden die Gestalten Christi, der Gottesmutter und der Kosmos der Heiligen sinnfällig beschworen. So erstrebte der gotische Sakralbau mit aller Macht der Kunst eine Entrückung des Menschen in den Bereich des Jenseitigen als Ausdruck einer Glaubenshaltung, die sich mit den Bauformen gotischer Architektur über ganz Europa ausbreitete und in ihren Bauzeugen bis heute präsent ist.
Die Ausstellung
Hochkarätige Exponate, Animationen und 3D-Modelle nehmen Ideen und Dynamiken der Gotik in den Blick, vom Bauprozess über bahnbrechende technische Neuerungen bis zu Fragen des Kulturtransfers und des Lebensgefühls. Gotik – Der Paderborner Dom und die Baukultur des 13. Jahrhunderts in Europa. 21.9.2018-13.1.2019 im Diözesanmuseum Paderborn
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