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Unser Luther

Kein deutsches Verhängnis

Martin Luther gilt gemeinhin als derjenige, der – ungewollt – die Spaltung von Kirche und Reich herbeiführte. Zu Unrecht, wie ein genauerer Blick auf die Geschichte zeigt.

Joachim Whaley01.10.2016

Als Luther am 18. April 1521 in Worms vor Kaiser Karl V. stand, war dies der Endpunkt seiner Reise, die er im Oktober 1517 begonnen hatte, als er seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg schlug. In Worms weigerte er sich, von seiner Kritik an der Kirche Abstand zu nehmen: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. Amen!“, waren seine berühmten Worte. Dieser Ausspruch führte nicht nur zur Bestätigung seiner Exkommunikation durch den Papst im Januar 1521, sondern auch zu seiner Verbannung durch den Kaiser. Luther wurde zum Ketzer und Vogelfreien.

Luthers Protest spaltete die Christenheit. Spaltete er auch die Deutschen? Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen: Deutschland war die Wiege der Reformation, durch die die Christen in Deutschland und anderen Ländern geteilt wurden. Historiker des 19. Jahrhunderts wie Leopold von Ranke und Heinrich von Treitschke identifizierten die Reformation als sicheren Beginn der Spaltung oder Fragmentierung Deutschlands, wenngleich sie die Katholiken hierfür verantwortlich machten. Dieser Sichtweise haben sich seitdem viele angeschlossen. Heute scheint das Thema jedoch weniger eindeutig.

Luther hatte nicht die Absicht, die Kirche zu spalten. Er appellierte an die deutsche Nation und hoffte, dass seine Landsleute bei der Erneuerung des Christentums die Führungsrolle übernehmen würden. Der Klerus und Kaiser Karl V. waren gegen ihn, aber die Fürsten, insbesondere Friedrich der Weise, Kurfürst von Sachsen, weigerten sich, die Autorität des Kaisers in religiösen Fragen zu akzeptieren. Als Luther für vogelfrei erklärt wurde, versteckten ihn Bedienstete des Kurfürsten auf der Wartburg. Dies ermöglichte die Ausbreitung einer Volksbewegung, was wiederum Luther in Zugzwang brachte, als seine Lehren von einigen als Programm für eine politische und gesellschaftliche Revolution genutzt werden sollten.

Der Bauernkrieg von 1525 bedrohte die Stabilität des Heiligen Römischen Reiches. Luther schlug sich auf die Seite der Fürsten, und im Jahr 1526 entschied der Reichstag, dass jedes Territorium und jede Kaiserstadt in Bezug auf die Religion selbst entscheiden sollte, welches religiöse Bekenntnis dort galt. So entwickelten sich neben der katholischen Kirche in Deutschland lutherische Landeskirchen, und die konfessionelle Landkarte des Heiligen Römischen Reiches wurde zu einem Flickenteppich.

Ein Reich mit zwei Konfessionen
Die Spannungen zwischen den Konfessionen waren in ganz Europa stark, und in manchen Staaten kam es im 16. und 17. Jahrhundert zu Religionskriegen. Das Besondere am Heiligen Römischen Reich war jedoch, dass es sich schnell zu einem bikonfessionellen Staatssystem entwickelte. Dies zeichnete sich bereits 1526 ab und wurde im Jahr 1555 zu einer verfassungsmäßigen Realität, als mit dem Augsburger Religionsfrieden die Rechte der Herrscher definiert und die Rechte ihrer Untertanen gesichert wurden.

Bald kam es jedoch erneut zu Spannungen zwischen den Konfessionen. Die Tatsache, dass der Calvinismus vom Religionsfrieden ausgeschlossen war, war in diesem Zusammenhang nicht eben hilfreich. Aber die aufkommende Krise war systembedingt. Sie hatte wirtschaftliche und gesellschaftliche Gründe und wurde durch weitere Probleme verschärft, die gleichzeitig in weiten Teilen West- und Mitteleuropas entstanden. Das Heilige Römische Reich wurde von vielen bald als Frontlinie im Krieg zwischen Katholizismus und Protestantismus betrachtet. Ferdinand II. (1617-1637 regierend) provozierte Widerstand, da viele fürchteten, dass er den Katholizismus im gesamten Reicht durchsetzen wollte. Das zentrale Thema während des folgenden Dreißigjährigen Krieges war jedoch nicht die Religion, sondern das Ausmaß der Macht der deutschen Monarchie. Letztlich kämpften die deutschen protestantischen Fürsten für den Erhalt der „deutschen Freiheit“: ihre Rechte innerhalb des Reichssystems, für das ihr Recht, in religiösen Fragen ihrem Gewissen zu folgen, nur ein Symbol war.

Im Jahr 1648 wurden diese Rechte durch den Westfälischen Frieden ein weiteres Mal bestätigt und das Reich als ein von „Kaiser und Reich“ regiertes politisches System definiert. Dies bedeutete, dass die Befugnisse des Kaisers durch die Fürsten begrenzt wurden, deren Befugnisse wiederum durch den gesetzlichen Rahmen des Reichs beschränkt waren. Dieser beinhaltete nun die Regel, dass durch den Status Quo von 1624 bestimmt war, welche Konfession in einem Territorium die offizielle Religion sein sollte: Kein Herrscher, der nun seine Religion wechselte, war befugt, auch die offizielle Konfession seines Herrschaftsgebiets zu ändern.

Konfessioneller Ausgleich
Die Parität zwischen Katholiken und Protestanten (jetzt einschließlich der Calvinisten) wurde in den Beschlüssen des Reichstages verankert, und beide Reichsgerichte, das Reichskammergericht und der Reichshofrat, waren konfessionell gemischt. Die Rechte der Untertanen wurden erneut formuliert, um sicherzustellen, dass katholische und protestantische Deutsche nicht aus Glaubensgründen diskriminiert werden konnten.

Die konfessionellen Spannungen wurden durch den Westfälischen Frieden jedoch nicht beendet. Nach 1648 waren die Konfessionsstreitigkeiten allerdings weitgehend durch Gerichte und Verhandlungen gewaltfrei geklärt. Im Jahre 1617 feierten die Protestanten den 100. Jahrestag der Reformation und riefen dabei zum Schutz ihres Glaubens vor dem Kaiser und den Jesuiten auf. Im Jahr 1717 gedachten sie der Reformation und der Freiheit, die sie im Heiligen Römischen Reich infolge der späteren Zusicherungen ihrer Rechte aus den Jahren 1555 und 1648 genossen.

Die Einheit innerhalb des Reichs und die Anerkennung des deutschen Staatssystems waren natürlich nicht mit religiöser oder kultureller Einheit gleichzusetzen. Die katholischen und protestantischen Territorien entwickelten zwar ähnliche Regierungsformen, schlugen jedoch in anderer Hinsicht unterschiedliche Wege ein. Als der aufgeklärte Berliner Schriftsteller und Buchhändler Friedrich Nicolai im Jahre 1781 durch das katholische Deutschland reiste, sah er nichts als „dummbigotte Menschen“, die ihre Tage mit „elendem frömmelndem Müßiggang“ verbrachten.

Joachim Whaley
Prof. Dr. Joachim Whaley ist Professor of German History and Thought an der Universität Cambridge und Fellow an der British Academy. Sein zweibändiges Werk „Das Heilige Römische Reich und seine Territorien 1493-1806“ erschien 2015 im Zabern-Verlag. Zuletzt veröffentlichte er „Unsere Geschichte: Deutschland 800 bis heute“ (Konrad Theiss Verlag, 2018). mml.cam.ac.uk