Titelthema
Nicht wegducken, sondern handeln
Die Politik hat versagt: Sie zollt der Truppe weder Respekt, noch sichert sie ihre Einsatzbereitschaft. Das muss sich ändern
Streitkräfte gehören zu den wichtigsten Instrumenten eines Staates. Sie tragen dazu bei, den zentralen Verfassungsauftrag demokratischer Staaten zu erfüllen, seine Bürger zu schützen, auch vor äußerer Gefahr, auch vor Krieg. Soldaten müssen folglich Gewalt anwenden, notfalls töten. Staaten verlangen von ihnen ein Handeln, das im Gegensatz zum Gewaltverbot der Vereinten Nationen (UN) und zu den Gesetzen aller demokratischen Rechtsstaaten steht, die das von allen Weltreligionen verbotene Töten unter Strafe stellen. Somit ist jeder Einsatz demokratisch zu legitimieren, sogar die Selbstverteidigung. Soldat wie Gesellschaft hoffen, es nie tun zu müssen. Sie verlangen daher von ihren Regierungen, alles zu tun, um Krieg zu verhindern.
Zusätzlich spielt in Deutschland die Last der Geschichte eine Rolle. Es gibt wohl kein Land der Welt, dessen Streitkräfte ohne Schuld aus den Kriegen zurückgekehrt sind, doch die Dimension deutscher Verbrechen und Schuld im Zweiten Weltkrieg ist einzigartig: Die industriell organisierte Ermordung der europäischen Juden und der Missbrauch der Wehrmacht des Dritten Reiches für einen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Deutschland hat beispielhafte Vorkehrungen getroffen, um Wiederholungen zu verhindern. Aber es bleibt eine Last, die es den Deutschen schwer macht, ihre durchaus mehrheitlich akzeptierten Streitkräfte in derselben Weise zu unterstützen wie es in anderen Demokratien üblich ist.
Hinzu kommt die Entstehungsgeschichte. Die Bundeswehr entstand als Beitrag zur Verteidigung des Westens gegen eine Aggression planende Sowjetunion, aber sie entstand gegen den Willen vieler Deutscher, die die Wiederbewaffnung ablehnten. Zudem: Der eigentliche Grund für Adenauers Drängen auf Bewaffnung war seine Überzeugung, nur auf diese Weise rasch den Besatzungszustand aufheben und ein souveräner Staat werden zu können. Nicht Einsatzbereitschaft, sondern das Gewicht auf der politischen Waagschale war bestimmend. Irgendwie wirkt das noch heute: Mängel in der Ausrüstung der Bundeswehr regten die Deutschen nie sonderlich auf, auch weil sie in stattlicher Zahl Einsätze ablehnen.
Totgeschwiegen und vergessen
Uns jungen Soldaten im Jahr 1958 wurden diese politischen Erwägungen nicht erklärt. Im Mittelpunkt stand Landesverteidigung. Dazu wollten wir beitragen. Das Schicksal Ungarns 1956 und die Wiederholung dessen, woran sich so viele aus dem letzten Kriegsjahr und aus Flucht und Vertreibung erinnerten, sollte den Deutschen erspart bleiben. Wir taten, was Demokraten auch heute tun müssen, wenn sie Freiheit erhalten wollen: Wir übernahmen Verantwortung, aber im Vordergrund stand das Schützen. Wir waren damit Außenseiter in der wegen der Wiederbewaffnung gespaltenen Gesellschaft, die vor allem verdienen, nicht dienen wollte. Irgendwie ist auch das geblieben, vielleicht weil für Soldaten Dienen noch immer bestimmend ist, nicht der sonst so häufig verbreitete Egoismus.
In den Herzen der Deutschen kam die Bundeswehr nur an, wenn sie sich in Katastrophen bewährte, bei Fluten und Hochwasser und in Brandkatastrophen. Selbst die vielleicht größte Leistung, der Beitrag der alten Bundeswehr zur Einheit Deutschlands, einer der wenigen Erfolge im Prozess der Einheit, ist vergessen – kaum erwähnt bei den 30-Jahr-Feiern der Einheit. Die Folge: Fehler, in der Regel Einzelner, finden Beachtung, gute Leistungen dagegen kaum. Fast 20 Jahre Einsatz in Afghanistan, ohne überzeugendes Einsatzziel beschlossen vom Parlament, werden trotz fast 60 Gefallener öffentlich kaum wahrgenommen, sogar die Bundeskanzlerin brauchte Jahre bis zu ihrer ersten Regierungserklärung dazu. Nach mehr als einem Jahrzehnt beendete Verteidigungsminister zu Guttenberg die Duckmäuserei als er sagte, dass deutsche Soldaten in Afghanistan kämpfen.
Damit ist nicht gesagt, dass Fehlverhalten wie jüngst beim Spezialkräftekommando KSK verschwiegen werden soll. Ganz im Gegenteil, Fehler müssen untersucht und hart bestraft werden, vor allem bei Vorgesetzten, weil sie Verantwortung für das Leben ihrer Soldaten tragen. Aber Fehler dürfen nicht ein unverändert notwendiges, in Zukunft vermutlich noch wichtiger werdendes Instrument wie das KSK in Frage stellen. Vor allem aber ist auch die andere Seite der Medaille zu sehen: Es sind die zur Verantwortung zu ziehen, die für eine mangelhafte Ausrüstung, das Erschweren der Ausbildung und die Verweigerung überlebenswichtigen Schutzes der eingesetzten Soldaten verantwortlich sind. Jahrzehntelange Unterfinanzierung bei gleichzeitiger Erweiterung des Auftragsspektrums, Beschaffung nicht des besten, aber dafür einheimisch hergestellten Materials oder, jüngst, die Verweigerung bewaffneter Drohnen aus jämmerlichen Gründen sind Beispiele politischer Fehler. Ein Parlament, das zu Recht und zum Schutz der Soldaten auf dem Parlamentsvorbehalt besteht, übernimmt mit der Einsatzentscheidung auch die Verantwortung für die bestmögliche Ausrüstung der Truppe. Der Bundestag sollte einmal in den Spiegel sehen: Gute Ausrüstung und harte Ausbildung retten Leben und bestimmen neben dem Zusammenhalt der Kampfgemeinschaft die Moral der Truppe.
Doch Einsatz und Einsatzbereitschaft standen für die Politik nie im Mittelpunkt. Alle Kanzler wollten durchaus Streitkräfte als Ausdruck der Souveränität in den Waagschalen der Bündnispolitik, aber Einsatzbereitschaft zählte nicht. Enttäuschung über mangelnde politische Unterstützung wurde zum Wegbegleiter der Bundeswehr. Dennoch war die Truppe stets ein loyales Instrument der Politik.
Für Soldaten hat Einsatzbereitschaft Vorrang. Sie wissen, dass Mängel Leben kosten. Eine harte, aus den Erfahrungen des Krieges geborene, realistische Ausbildung kennzeichnete die Bundeswehr der Aufstellungsjahre. Die kriegsgedienten Ausbilder sprachen kaum über Krieg, aber sie zeigten uns Ungedienten sehr realistisch, was Krieg ist und wie man kämpft. Dazu kam ein neues Führungsverhalten, das als Innere Führung zum Markenzeichen der Bundeswehr wurde: Wir damals Jungen lernten, niemals etwas zu verlangen, was man nicht selbst zu leisten bereit war, durch persönliches Vorbild Gefolgschaft zu erreichen und jedem Soldaten begreifbar zu machen, dass in unserem Staat trotz Befehl und Gehorsam das Recht des Einzelnen durch die Macht des Rechts auch vor der Macht der eigenen Vorgesetzten geschützt ist.
Kämpfen lernte sie in Afghanistan
Es entstand eine Bundeswehr, die kämpfen konnte und auch gekämpft hätte. Die alte Bundeswehr, die die erste Wehrpflichtarmee einer deutschen Demokratie war, war eine Erfolgsgeschichte. Sie war am Ende des Kalten Krieges zusammen mit den amerikanischen Streitkräften der Kern der Nato-Verteidigung Europas. Deutschland, dessen Territorium zwangsläufig Schlachtfeld geworden wäre, gewann so großes Gewicht in der Nato. Es konnte Vorneverteidigung durchsetzen und in der Nuklearstrategie Kriegsverhinderung in den Vordergrund schieben. Beides ermöglichte Frieden durch Abschreckung und trug dazu bei, 1989 den Kalten Krieg zu beenden, die Einheit Deutschlands zu erreichen und die Spaltung Europas zu überwinden.
Diese Bundeswehr bekam dann einen Auftrag, der von 1990 bis 1995 ohne Blaupause, fast über Nacht zu meistern war: Die Auflösung der Nationalen Volksarmee der DDR und die Übernahme einiger ihrer Soldaten, der Abbau der Infrastruktur eines nahezu voll militarisierten Staates und die Unterstützung des Abzugs der russischen Truppen. Es entstand die Armee der Einheit, gleichzeitig wurde die Bundeswehr um mehr als 40 Prozent reduziert und auf erste Auslandseinsätze umgestellt.
Dem folgte die Zeit des Übergangs. Die Rolle der Bundeswehr war neu zu bestimmen: Deutschland hatte erstmals nur Freunde als Nachbarn, die Sowjetunion und der Warschauer Pakt waren aufgelöst, Schutz vor äußerer Gefahr trat in den Hintergrund, aber Deutschland war noch nicht bereit, auch den militärischen Pflichten eines UN-, Nato- und EU-Mitglieds nachzukommen. Ab 1992 begannen Einsätze außerhalb Deutschlands. Die Truppe bewährte sich erneut, aber kämpfen lernte sie erst in Afghanistan. Die ab dem Jahr 2000 zunehmende Unterfinanzierung, die ungewöhnlich schnelle Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 und die von allen Parteien gehegte, und von der Mehrheit der Deutschen nur zu gerne aufgegriffene Illusion vom Ende aller äußeren Gefahren in und für Europa, und damit verbunden die Hintanstellung des Verteidigungsauftrages, machten aus der durchaus noch einsatzbereiten Bundeswehr der 90er Jahre den Schatten einer Armee, bis nach der Annexion der Krim 2014 durch Russland der derzeit anhaltende Wiederaufbau der Verteidigungsarmee – also das Beseitigen von Mängeln, nicht die Aufrüstung – begann.
Zu beurteilen, was sie heute kann, ist nicht Sache eines Außenstehenden. Sicher gibt es Mängel, aber in den Einsätzen scheint die Truppe nach wie vor ihren Mann beziehungsweise ihre Frau zu stehen. Bislang hat die Bundeswehr noch jeden ihrer Aufträge erfüllt, oft zu Lasten der Ausbildung und vielfach unter Ächzen und Stöhnen. Registriert wird aber weiterhin nur das Negative: die meist nicht den Soldaten anzulastende mangelnde Ausrüstung und technische Mängel. Das Deutschlands Bündnisfähigkeit gefährdende Verweigern, der Nato gegebene Zusagen einzuhalten, allen voran die zwei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt, also das Versagen der Politik, wird dagegen achselzuckend hingenommen. Das Positive wird nicht berichtet: die unverändert große Leistungsbereitschaft der Truppe, der Wille, in Einsätzen von Afghanistan bis Mali und auf See zu bestehen, die Hingabe, mit der noch immer und trotz aller Mängel junge Frauen und Männer voll guten Willens Deutschland dienen. Sie brauchen nicht Lob, aber Respekt, sie müssen spüren, dass unser Land und seine Bürger hinter ihnen stehen.
Ungebrochener Leistungswille
Alle, vor allem die Politiker aller Couleur müssen sich endlich dazu bekennen, dass eine von der Mehrheit im Bundestag gewollte Bundeswehr nicht nur zu existieren, sondern einsatzbereit zu sein hat. Die Lehre aus unserer Geschichte kann nicht Wegducken, sondern muss die Bereitschaft zum Schutz und zur Verantwortung für die Freiheit Europas sein. Dazu braucht man jetzt und vermutlich noch stärker in der Zukunft einsatzbereite Streitkräfte. Die aufrichtigen Anstrengungen der Verteidigungsministerin um den Wiederaufbau der Bundeswehr, zuletzt gemeinsam mit dem Generalinspekteur in einem Positionspapier ausgedrückt, verdienen, auch in einem Wahljahr, breite Unterstützung. Es geht um Deutschlands Bündnisfähigkeit und es geht um die vornehmste Pflicht unseres Staates: Alles zu tun, um die Bürger vor Gefahr zu schützen.
Mit Blick auf den Leistungswillen der Soldaten füge ich an: Der Wiederaufbau der Bundeswehr könnte ein Projekt werden, das im Gegensatz zu Deutschlands rufschädigenden Fehlschlägen im Umfeld des Berliner Großflughafens BER, über die überteuerte Energiewende, die verspätete Digitalisierung und eine mängelbehaftete Coronaimpfstrategie endlich einmal wieder, so wie einst der Aufbau der alten Bundeswehr, ein Erfolg werden könnte.
war von 1991 bis 1996 Generalinspekteur der Bundeswehr und danach bis 1999 Vorsitzender des Nato-Militärausschusses. Zu seinen Schriften gehören „Die Bundeswehr in einer Welt im Umbruch“ (Siedler, 1994) und „Frieden – der noch nicht erfüllte Auftrag“ (Mittler, 2002).
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