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Respekt als Staatsräson

Titelthema - Respekt als Staatsräson
Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron zeigt sich außenpolitisch oft auf einer Linie mit Charles de Gaulle. © Illustration: Svenja Kruse Foto: Lionel Prèau / Riva Press / laif, Dominique BERRETTY / GAMMA-RAPHO / laif, picture alliance / Sven Simon

Mit seiner Nato-Kritik steht Frankreichs Staatspräsident in der von Charles de Gaulle eröffneten Tradition.

Gregor Schöllgen01.01.2020

Vom 20. Juni bis zum 1. Juli 1966 bereiste Charles de Gaulle, erster Staatspräsident der Fünften Französischen Republik, die Sowjetunion. Dieser „Besuch des ewigen Frankreichs im ewigen Russland“, wie der General das Ereignis im sowjetischen Fernsehen beschrieb, war eine Sensation.

Immerhin stattete ein führender Repräsentant der westlichen Welt dem großen Gegner des Kalten Krieges einen Besuch ab. Vor allem aber setzte seine Reise der etappenweisen französischen Absatzbewegung aus der Nato gewissermaßen die Krone auf. Am 1. Juli 1966, dem Tag seiner Rückkehr, vollzog der General den Rückzug Frankreichs aus der in­tegrierten Kommandostruktur der Atlanti­schen Vertragsge­meinschaft, beließ das Land aber in der politischen Organisation.

Zwar führte Nicolas Sarkozy, einer seiner Nachfolger, die Franzosen 2009 wieder in die militärischen Gremien zurück, doch fremdeln sie mit der Atlantischen Allianz immer noch so, wie sie das vor und nach de Gaulles Entscheidung getan haben. Nicht zufällig sprachen sich im März 2009 gut 40 Prozent der Abgeordneten der Nationalversammlung gegen die Rückkehr in die Militärorganisation aus.

Sarkozy wiederum wollte mit diesem Schritt Einfluss auf Nato-Operationen nehmen, an denen französische Soldaten seit längerem wieder beteiligt waren. Ganz unmittelbar aber reagierte er damit auf die wiederholte Weigerung der Amerikaner, den Posten des Nato-Oberbefehlshabers in Südeuropa einem Europäer zu übertragen. Wie seine Vorgänger akzeptierte auch dieser Präsident keine Bevormundung.

Frankreich konnte – und kann – sich diese Rolle leisten, weil es als Ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und als Atommacht unmittelbar Einfluss auf das Weltgeschehen nehmen kann. Ohne diese Sonderstellung und das sich daraus herleitende Selbstbewusstsein französischer Präsidenten seit den Tagen Charles de Gaulles ist die Positionierung Emmanuel Macrons nicht zu verstehen.

Das Interview, das er am 21. Oktober der englischen Zeitung „Economist“ gab und das diese am 7. November 2019 auf Englisch veröffentlichte, hat zahllose Kritiker jenseits und vor allem diesseits des Atlantiks auf den Plan gerufen. Man darf davon ausgehen, dass die allerwenigsten von ihnen das ganze Gespräch gelesen haben. Das liegt auch an seiner Länge. Mit fast 25 Seiten hat es das Format einer schmalen Monographie.

Folgt man Macron bis zum Ende seiner Analyse, stellt man fest, dass er nicht weniger als einen Parforceritt durch die Weltpolitik unternimmt. Seine Überlegungen zu China oder Afrika sind mindestens so brisant wie seine wenig überraschende Analyse des Zustands der Atlantischen Allianz. Dass die Nato „hirntot“ ist, kann doch nur ernsthaft bestreiten, wer von einer kontinuierlichen konzeptionellen Durchdringung und Bewältigung der Gegenwart durch die Führung des Bündnisses ausgeht. Davon kann auch deshalb keine Rede sein, weil die Nato derzeit faktisch führungslos ist.

Tatsächlich bewegt sich die Allianz immer noch auf dem Boden ihres am 4. April 1949 in Washington geschlossenen Vertrages. Das ist ein gravierendes Handicap. Denn die Nato – wie übrigens auch die EU, mit der sich Macron nicht minder gründlich auseinandersetzt – war die Antwort nordamerikanischer und westeuropäischer Staaten auf die spezifischen Herausforderungen in der unübersichtlichen Zeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs.

Eine beispiellose Erfolgsgeschichte
Die Mitgliedsstaaten dieser Gemeinschaften verbanden ihr Wertekanon, ihre Entschlossenheit, die Freiheit gegen äußere Gefahren zu sichern, und nicht zuletzt der Wille, ihre nationalstaatliche Unabhängigkeit zu behaupten. Das ist ihnen auf ganzer Linie gelungen. Eine beispielslose Erfolgsgeschichte.

Kein Mensch hat 1949 damit gerechnet, dass die Sowjetunion, gegen deren tatsächliche oder vermeintliche offensive Absichten sich das Nato-Bündnis richtete, einmal mehr oder weniger geräuschlos von der Bildfläche verschwinden könne. Genau das passierte aber seit den ausgehenden achtziger Jahren, als nicht nur die UdSSR, sondern auch ihre 1955 gegründete Militärallianz, der Warschauer Pakt, ihr Leben aushauchten.

In der Logik dieser Entwicklung hätte es gelegen, wenn mit dem östlichen auch der westliche Militärpakt in Rente gegangen wäre. Eben das tat er nicht, im Gegenteil. Während die Sowjetunion und der Warschauer Pakt bis 1991 von der weltpolitischen Bühne abtraten, bespielte die Atlantische Allianz sie nicht nur wie eh und je, sondern sie verstärkt auch ihre Ensembles. Dabei ignorierte oder verschluderte sie jene Reformen, die nötig gewesen wären, um der neuen, wenn man so will: der ostfreien Lage Rechnung zu tragen.

Und sie nahm in Kauf, dass sie mit der Aufnahme einer ganzen Reihe ost- und ostmitteleuropäischer Staaten die geopolitische Architektur des Kontinents änderten. Dieser für sich genommen legitime Prozess musste zwangsläufig Auswirkungen insbesondere auf Russland haben, zumal die Sowjetunion, deren Erbe Russland 1991 antrat, im Zuge ihrer Implosion einen nicht minder radikalen Schrumpfungsprozess durchmachte.

Um den siechen Patienten Nato am Leben zu erhalten, durfte seine Seele nicht sterben, und das hieß: Der Osten und alles, was sich mit ihm verband, mussten weiterleben. Vor allem das Feindbild. „Die Nato“, sagte Macron dem Economist, „wurde als Antwort auf einen Feind entwickelt: den Warschauer Pakt. Als unser anfänglicher Feind 1990 verschwand, haben wir dieses geopolitische Projekt nicht einmal ansatzweise neu bewertet. Die unausgesprochene Annahme ist nach wie vor, dass Russland der Feind ist“.

Steilvorlage zur Eroberung der Krim
Aus russischer Sicht besonders folgenreich war die Entscheidung der Nato, die vormaligen Sowjetrepubliken und Warschauer-Pakt-Staaten, die jetzt dem Bündnis angehörten, sukzessive in ihre militärischen Strukturen einzubinden und dort schließlich auch Truppen ihrer westlichen Mitgliedsländer zu stationieren. Damit nicht genug, wurde auch die Ukraine, obgleich nicht einmal Mitglied der Nato, seit 1997 Schritt für Schritt in deren militärische Operationen einbezogen. Damit lieferte die Allianz Russlands Präsidenten Wladimir Putin eine Steilvorlage, um das Völkerrecht zu brechen, die Krim zu besetzen und den Krieg in der Ostukraine zu eröffnen.

Selbstverständlich legitimiert Macron dieses Vorgehen nicht, aber er weiß, was es bedeutet, wenn einer innerlich stark geschwächten Macht wie Russland der „Respekt“ versagt wird. Franzosen wie Charles de Gaulle haben ihre russischen beziehungsweise sowjetischen Counterparts auch deshalb immer besser verstanden als Briten und Amerikaner, weil sie durch diese häufig ähnlich behandelt worden sind. Aus Putins Sicht, sagt Macron, hat die Nato den „Deal“ von 1990 nicht respektiert: Es gab keine „Sicherheitszone“.

So weit ist bis heute kein amtierender westlicher Staats- oder Regierungschef gegangen. Schon gar nicht hat ein westlicher Staatsmann, von Charles de Gaulle einmal abgesehen, öffentlich das „administrative, politische und historische Superego“ der Vereinigten Staaten angeprangert und auch gleich noch die daraus für die Europäer folgende Konsequenz gezogen: „Wir haben das Recht auf Autonomie“, und das heißt auch: Wir haben das Recht, „nicht nur einfach der amerikanischen Sanktionspolitik zu folgen“, sondern unsere „strategische Partnerschaft mit Russland zu überdenken“. Mit anderen Worten: Auch wir erwarten Respekt vor unseren Interessen und unseren Entscheidungen.

Es fehlt an echten Alternativen
Und was folgt aus alledem? Die Sicht Macrons auf Amerika bleibt ambivalent. Seine Kritik an den USA, dem „wichtigsten Verbündeten“, fällt vergleichsweise zurückhaltend aus, und einer Auflösung der Nato, die nach dieser Fundamentalkritik auf der Hand läge, redet Frankreichs Präsident nicht das Wort. Das hat einen banalen Grund: Es fehlt an überzeugenden Alternativen. Die Forderung nach dem Aufbau alternativer, autonomer europäischer „militärischer Strategie und Fähigkeiten“ klingt angesichts der seit 1954 in Serie gescheiterten Versuche wie das Pfeifen im Walde.

Wohin sich das alles entwickeln könnte, zeigt Macron am Beispiel Syrien. Hier interveniert nicht die Nato gegen den Terrorismus, sondern eine Zweckkoalition, die sich die operativen Mechanismen des Bündnisses zueigen macht. So könnte es gehen – für die Nato wie für die EU. Dass eine solche „Koalition der Willigen“ auch in der Sackgasse enden kann, hat 2003 der von den USA angeführte Krieg gegen den Irak gezeigt.

Da man aber davon ausgehen muss, dass sich in Zukunft kaum mehr sämtliche Partner einer Gemeinschaft auf eine gemeinsame Antwort auf politische oder wirtschaftliche, militärische oder digitale Herausforderungen einigen werden, gibt es keine Alternative: Diejenigen, die im Einzelfall dazu bereit sind, werden sich zusammentun. Das ist eine Konsequenz aus der Kritik des französischen Präsidenten.

Wie schon sein großer Vorgänger Charles de Gaulle hat auch er Patentlösungen nicht zur Hand. Und doch muss man ihn ernst nehmen. Emmanuel Macron ist der erste dieses Kalibers, der sich 30 Jahre nach dem Untergang der alten Weltordnung an eine grundlegende und tabufreie Analyse unserer Gegenwart macht. Der Widerspruch jener, die das Biotop einer untergegangenen Welt partout nicht verlassen können oder wollen, wird ihn kaum davon abhalten können.