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Titelthema

„Die beste auswärtige Politik ist gar keine“

Der beispielhafte Blick in die Geschichte der Sozialdemokratie zeigt, warum sich die Deutschen mit der Außenpolitik so schwer tun.

Gregor Schöllgen01.10.2017

Keine zweite deutsche Partei hat eine auch nur annähernd so lange Erfahrung mit der Außenpolitik wie die SPD. Das liegt an ihrem salomonischen Alter. Die Sozialdemokratie erblickte das Licht der Welt, noch bevor Otto von Bismarck im Januar 1871 das Deutsche Reich aus der Taufe hob. Seither tun sich die Genossen mit der Außen- und Sicherheitspolitik so schwer wie keine andere Partei.
Nach den Gründen muss man nicht lange suchen. Letzten Endes blieb für sie jene Maxime verbindlich, die Wilhelm Lieb­knecht, einer der Gründungsväter der SPD, 1882 im Reichtag so auf den Punkt brachte: „Die beste auswärtige Politik ist gar keine.“ „Statt mit dem Auslande“, so hielt er Bismarck vor, solle sich die Regierung mit den „inneren Angelegenheiten“ befassen. Bei dieser Linie ist man, aufs Ganze gesehen, bis heute geblieben.

Fokus auf die Innenpolitik
Das könnte auch eine Antwort auf die Fra­ge sein, warum sich die wenigen Sozial­demokraten, die eines der beiden für die Außenpolitik zuständigen Regierungs­ämter innehatten, an den Fingern zweier Hände abzählen lassen. Während der Wei­marer Republik mit ihren fast jährlich wech­selnden Regierungen residierten gerade einmal drei Sozialdemokraten im Kanzleramt, von denen einer, Hermann Müller, auch einer der beiden sozialdemokratischen Außenminister dieser Ära war.
Gemessen an der inzwischen fast siebzigjährigen Geschichte der Bundesrepublik kam es noch seltener vor, dass man dort einen Sozialdemokraten sichtete. Dirigierte der Liberale Hans-Dietrich Genscher die deutsche Außenpolitik bis 1992 geschlagene 18 Jahre lang, brachten es die Genossen insgesamt auf gerade einmal elf, und das – von einem vierzehntägigen Intermezzo am Ende der Kanzlerschaft Helmut Schmidts abgesehen – ausnahmslos als Juniorpartner einer von der CDU geführten Großen Koalition. Das galt von 1966 bis 1969 für Willy Brandt, von 2005 bis 2009 und von 2013 bis 2017 für Frank-­Walter Steinmeier sowie in den letzten Monaten der zu Ende gegangenen Legislaturperiode für Sigmar Gabriel.
Ganz ähnlich sieht es bei den Bundeskanzlern aus. Die fünf, acht beziehungsweise sieben Jahre, die Willy Brandt von 1969 bis 1974, Helmut Schmidt von 1974 bis 1982 und Gerhard Schröder von 1998 bis 2005 im Kanzleramt logierten, waren beinahe eine Ewigkeit von der sechzehnjährigen Kanzlerschaft Helmut Kohls ent­fernt. Und doch haben die drei nicht zuletzt außen- und sicherheitspolitisch Bedeuten­des geleistet.

Realpolitik wider Willen
Dabei mussten sie sich immer auch gegen Widerstände und Widersacher aus den eigenen Reihen behaupten, an denen sie letztlich gescheitert sind. Überraschend ist das nicht. Denn sowohl 1969 als auch 1998 mussten viele Sozialdemokraten gerade auf außenpolitischem Terrain über ihren eigenen Schatten springen, wenn sie den Weg für eine Beteiligung ihrer Partei an den Regierungsgeschäften freimachen und so unmittelbar an der Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialpolitik mitwirken wollten.
In beiden Fällen waren es die Fraktions­vorsitzenden im Deutschen Bundestag, welche die Weichen neu stellten. Im Juni 1960 beendete Herbert Wehner in einem Alleingang die sozialdemokratische Fundamentalopposition gegen die vom christdemokratischen Kanzler Konrad Ade­nauer betriebene Westintegration der Bundesrepublik und führte die Sozialdemokraten auch im Bund zur Regierungsfähigkeit. Im Dezember 1995 und im Dezember 1996 war es Rudolf Scharping, der die sozialdemokratischen Abgeordneten davon überzeugte, einer Teilnahme der Bundes­wehr an der NATO-Schutztruppe für Bosnien und Herzegowina SFOR zuzustimmen und ihren mit dem Mauerfall 1989 eingeschlagenen weltfremden Kurs aufzugeben.
Einmal im Amt, haben die drei von der SPD gestellten Kanzler gerade auch in der Außenpolitik entscheidende Weichen neu gestellt. Ohne die Anerkennung des durch den Zweiten Weltkrieg geschaffenen territorialen Status quo in Europa, die Willy Brandt durchsetzte, wäre die Verei­nigung Deutschlands 20 Jahre später schwerlich vorstellbar gewesen. Helmut Schmidt wiederum legte im Schulterschluss mit dem französischen Präsidenten die Grundlagen der heutigen Währungs­union und sorgte mit der Durchsetzung des sogenannten NATO-Doppelbeschlusses dafür, dass Deutschland Anfang der achtziger Jahre nicht in eine gefährliche außenpolitische Isolation geriet. Gerhard Schröder schließlich war der Kanzler, der nicht nur 1999 mit dem Einsatz im Kosovo-­Krieg den ersten Kampfeinsatz deutscher Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg zu verantworte hatte, sondern sich auch 2003 einer deutschen Teilnahme am Irak-Krieg widersetzte und damit erstmals von der vollständigen Souveränität des vereinigten Deutschlands Gebrauch machte.

Widerstand in den eigenen Reihen
Alle sozialdemokratischen Kanzler sahen sich früher oder später heftigem Widerstand aus den eigenen Reihen gegenüber. Auch Willy Brandt, als er 1970 in den Verträgen mit der Sowjetunion und Polen den Verlust der deutschen Ostgebiete sank­tionierte und damit etwas aufgab, was in­folge der deutschen Kriegführung ohnehin verloren war. Besonders heftig blies der rote Wind Helmut Schmidt ins Gesicht, als er sich gegen den Widerstand der Mehrzahl seiner Genossen, unter ihnen der jun­ge Bundestagsabgeordnete Gerhard Schröder, für die Stationierung neuer amerikanischer Mittelstrecken in der Bundesrepublik stark machte. Der wiederum be­kam die innerparteilichen Widerstände umso stärker zu spüren, je mehr er um Verständnis für die außerordentlich schwierige Lage Russlands nach dem Zerfall der Sowjetunion warb.
Die drei wussten, dass es – bei manchen Gegensätzen und Missverständnissen – aus historischen, politischen, wirtschaftlichen oder auch geostrategischen Gründen keine Alternative zu einer wie immer gearteten Zusammenarbeit mit der Sowjet­union beziehungsweise Russland gab. Nicht zufällig wurden die fünf sowjetisch- bezie­hungsweise russisch-deutschen sogenann­ten Erdgas-Röhren-Geschäfte in den Jahren 1970, 1972, 1974, 1981 und 2005, also während der Amtszeiten der drei sozialdemokratischen Bundeskanzler, geschlossen oder vereinbart.
Für eine Minderheit innerhalb der SPD, die zeitweilig auch schon einmal eine Mehrheit werden konnte, blieb und bleibt die Moskau-Politik ihrer Kanzler und seit 2005 ihrer Außenminister ein rotes Tuch. Hörte man in diesen Zeiten auf die innerparteiliche Opposition, fühlte man sich unweigerlich an frühere Zeiten erinnert. Denn für deutsche Sozialdemokraten war erst Russland, dann die Sowjetunion von Anfang an ein bedrohlicher Nachbar. Derselbe Wilhelm Liebknecht, der 1882 nichts von einer deutschen Außenpolitik wissen wollte, hatte vier Jahre zuvor im Reichstag allerdings auch prognostiziert, dass „ein Moment kommen“ werde, „wo die Macht Russlands sich in einer Weise geltend macht, dass das Schwert gezogen werden muss“. Als der Moment gekommen war und Deutschland am 1. August 1914 seinem Nachbarn den Krieg erklärt hatte, ver­traute Otto Braun, damals Kassierer der SPD und später preußischer Ministerpräsident, sei­nem Tagebuch an, er sehe „die halb­asiatischen, schnapsgefüllten russischen Kosakenhorden die deutschen Fluren zerstampfen, deutsche Frauen und Kinder martern, die deutsche Kultur zertreten“.

Ostpolitik
Richtig ist, dass einige dieser Stereotypen am Ende des Zweiten Weltkrieges für viele Deutsche in den östlichen Landesteilen eine bedrückende Bestätigung gefunden haben. Richtig ist aber auch, dass zuvor deutsche Armeen zweimal über Russland beziehungsweise die Sowjetunionen hergefallen waren und das Land von 1941 bis 1944 mit einem bis dahin beispiellosen Eroberungs-, Beute- und Vernichtungsfeld­zug überzogen hatten. Nicht zufällig gin­gen 60 Jahre ins Land, bis am 9. Mai 2005 erstmals ein deutscher Bundeskanzler, der Sozialdemokrat Gerhard Schröder, auf dem Roten Platz in Moskau an den Feierlichkeiten zum Jahrestag des Kriegsendes teil­nehmen durfte.