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80.000 Zuschauer fasst die Arena in der Planstadt Lusail, 15 Kilometer nördlich des Stadtzentrums der Hauptstadt Doha. Hier wird das Finale der WM stattfinden. © DDP/John Beck

Eine Fußballweltmeisterschaft führt Menschen unterschiedlichster Länder und Kulturen zu einem großen Fest zusammen. Normalerweise. Sollten wir die WM in Katar boykottieren?

Michael Horeni 01.11.2022

In Frankreich haben einige Städte entschieden, ihren Weltmeistern bei der Titelverteidigung in Katar nicht zuzuschauen. „Wir werden kein einziges Spiel auf Großbildschirmen übertragen“, erklärte Martine Aubry, die Bürgermeisterin von Lille, knapp zwei Monate vor der Fußball-WM. Der Stadtrat hatte zuvor die Austragung in Katar einstimmig missbilligt und dabei noch einmal all die Gründe aufgezählt, die schon seit vielen Jahren gegen Katar sprechen: Menschrechte, Umwelt, Sporttradition. Vor Lille hatten in Frankreich schon Straßburg und Reims beim Public Viewing abgewinkt: WM in Katar? Ohne uns!


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Das Elend begann vor zwölf Jahren

So weit ist es also gekommen mit dem Fußball: Selbst das Land, das den Weltmeister stellt, schaltet bei der WM ab. In Deutschland wiederum erleben viele Fans das Dilemma, die WM feiern zu wollen und gleichzeitig Haltung zu beweisen, eine Nummer kleiner. In Nordrhein-Westfalen haben sich Wirte zu einer Initiative zusammengeschlossen, die auf die Ausstrahlung der WM-Spiele verzichten will. Nach dem Motto: „Kein Katar in meiner Kneipe.“ Glühende Fußballanhänger, wie der Vizepräsident von „Unsere Kurve“, der größten Fanvereinigung in Deutschland, hat im Fernsehen angekündigt, wozu sich viele Anhänger innerlich gezwungen fühlen: sich keine WM-Spiele aus Katar anzuschauen – und damit „die umstrittenste Weltmeisterschaft“, die es auch nach Ansicht von DFB-Präsident Bernd Neuendorf je gegeben hat, wenigstens für sich zu boykottieren – wenn es schon kein anderer tut.

Die Entscheidung, auf das gemeinschaftsstiftende Erlebnis zu verzichten, das zahlreiche europäische Metropolen während der vergangenen Turniere mit seiner Leichtigkeit geprägt hat, machte sich auch das fußballbegeisterte Lille nicht leicht. Im Zentrum der Region Hauts-deFrance, dem Kohlenpott der Grande Nation, schlägt das Fußball-Herz besonders stark. So stark, dass Lille mit seinem Olympique Sporting Club dem Großinvestor Katar bis zuletzt sogar sportlich die Stirn bieten konnte. Im Jahr 2021 triumphierte der OSC Lille in der Meisterschaft sensationell über Paris Saint-Germain, das milliardenschwere katarische Fußball-Prestigeobjekt in Europa. Und Lille gewann in jenem Sommer auch den französischen Supercup gegen PSG und seine Superstars Mbappé und Neymar. Diese Erfolge waren auch Siege über das arabische Geld, das seit der WM-Vergabe den europäischen Fußballmarkt überschwemmt.

Der Startschuss dafür lässt sich sehr genau festmachen. Er erfolgte am 2. Dezember 2010, als die Weltmeisterschaften an Russland (2018) und an Katar (2022) vergeben wurden; ein finsterer Tag für den Fußball. Seitdem ist die Fußballwelt eine andere. Eine, in der westliche Werte und Überzeugungen an Bedeutung verlieren. Und fragwürdige Regime auch den Fußball nach ihren Vorstellungen verändern. Das Vorspiel dieser Zeitenwende hat schon weit früher begonnen, in den 1990er Jahren. Da hat Katar die strategische Entscheidung getroffen, sich durch Soft Power einen Namen in der Welt zu machen, wirtschaftliche Abhängigkeiten zu schaffen und dadurch seinen Einfluss auszuweiten.

Ein erster, lange Zeit aber kaum wahrgenommener Schritt, um seine Bedeutung im Weltsport zu stärken, war Katars Unterstützung der deutschen WM-Bewerbung 2006. Ohne Mohamed bin Hammam, damals einflussreiches Mitglied des Exekutivkomitees des internationalen Fußballverbandes Fifa, hätte Deutschland im Sommer 2000 keine Chance auf den Zuschlag gehabt. Davon sind führende DFB-Funktionäre noch heute überzeugt. Für die damaligen WM-Organisatoren rund um Franz Beckenbauer galten die persönlichen Kontakte zur rechten Hand des Emirs als unverzichtbar. Katars Initiativen im Fußball sowie in anderen Sportarten hatten das Land schon zu dieser Zeit zu einer Größe im internationalen Sport gemacht, an der niemand vorbeikam, der in den höchsten Gremien etwas erreichen wollte. Das eigentliche Ziel Katars bei der deutschen Unterstützung war Kennern allerdings schon damals klar: eine eigene WM.

Der Fußball ist dabei nur ein relativ kleiner, allerdings äußerst sichtbarer Teil in Katars wirtschaftlichen und geostrategischen Anstrengungen. Das meiste Geld steckt im Staatsfonds „Qatar Investment Authority“, der es sich mit einem Volumen von deutlich über 300 Milliarden Euro zur Aufgabe macht, „den Wohlstand zukünftiger Generationen von Katarern zu sichern“. Das Emirat ist auf diesem Weg auch in Deutschland an zahlreichen Großunternehmen maßgeblich beteiligt, unter anderem bei Volkswagen, Deutsche Bank, Siemens oder RWE. Seine innerhalb der Fußballbranche oftmals als verschwenderisch betrachteten Investitionen sieht Katar dagegen als sinnvoll angelegtes Geld. Grobe Schätzungen gehen davon aus, dass die WM 2022 inklusive der damit verbundenen Infrastrukturmaßnahmen rund 150 Milliarden Euro kostet. Angesichts dieser Investitionssummen und Katars starken Engagements in der Weltwirtschaft fallen die viel diskutierten Ablösesummen von insgesamt über einer Milliarde Euro, die sich Katar allein den Aufstieg von Paris Saint-Germain bisher kosten lässt, nicht weiter ins Gewicht. Auch bei anderen europäischen Clubs hat sich Katar als Geldgeber, etwa über staatlich kontrollierte Firmen wie Qatar Airways, systematisch unentbehrlich gemacht. „Der unendliche Reichtum dieses kleinen Landes Katar breitet sich fast wie ein Krebsgeschwür über den Fußball und den Sport aus. Ich bin ja selbst hin und wieder angesprochen und eingeladen worden“, sagte Theo Zwanziger im Jahr 2013, als er als Präsident des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) und Mitglied im Exekutivkomitee der Fifa ganz nah dran war an der ökonomischen und sportpolitischen Wirklichkeit im Fußball. Ähnlich ist auch der vorherige WM-Gastgeber Russland mit dem staatlich kontrollierten Sponsor Gazprom verfahren, bis der Überfall auf die Ukraine alles änderte.

Stimmenkauf – wie denn sonst?

Vielen Fans wird kurz vor dem Anpfiff der WM erst so richtig bewusst, was die Wahl von Katar vor zwölf Jahren angerichtet hat. Aus Sicht des absolutistisch geführten Emirats, das mit einer Fläche von rund 11.500 Quadratkilometern nicht einmal halb so groß ist wie Sardinien, war es ein einzigartiger Coup; tatsächlich der wohl unglaublichste, den es sportpolitisch gegeben hat. Man muss sich das noch einmal klarmachen: Unter den 211 Nationalverbänden, die der Fifa angehören, gelten rund 50 als gut geeignet, eine WM austragen zu können. Katar gehört definitiv nicht dazu. Von seiner Größe, seiner Fußballtradition und seiner Infrastruktur hatte das Land nichts zu bieten, was es zu einem objektiv guten WM-Kandidaten gemacht hätte – von himmelschreienden Menschrechtsverletzungen, der systematischen Unterdrückung von Frauen und tödlicher Ausbeutung von Tausenden von Arbeitern später auch rund um die Bauten für die WM ist dabei noch gar nicht die Rede.

Es gab daher nur einen Weg für das Emirat, die WM an Land zu ziehen: indem es die Mehrheit im Fifa-Exekutivkomitee auf seine Seite zieht; wenn es sein Engagement auf jene 24 Männer konzentriert, die am 2. Dezember 2010 über die WM-Vergabe entscheiden sollten – und deren einzelne Stimmen einen unverantwortlich hohen wirtschaftlichen Wert besaßen. Die Korruptionsanfälligkeit in diesem Komitee war entsprechend. Noch unmittelbar vor der Wahl wurden zwei Funktionäre aus dem Verkehr gezogen, weil sie bereit gewesen sein sollen, ihre Stimmen bei der WM-Doppelvergabe 2018 und 2022 zu verkaufen. Andere umworbene Funktionäre, wie Mohamed bin Hammam, der schon als künftiger Fifa-Präsident gehandelt wurde, sind später zum Teil lebenslang für alle Aktivitäten im Fußball gesperrt worden.

Für Katar ist die WM dagegen so etwas wie die Krönung seines langen geopolitischen Kampfes um internationale Anerkennung. In den 1990er Jahren kommt das Emirat, das im Schatten des übermächtigen Nachbarn Saudi-Arabien steht, zur Überzeugung, dass internationale Bedeutung und Verflechtung seine Existenz absichern. Es leitet eine politische Kehrtwende ein. Nach Katars Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1971 hatte Saudi-Arabien noch als Schutzmacht des kleinen Landes fungiert, doch der Einmarsch des Irak in Kuwait im Jahr 1990 verändert das Selbstverständnis des Emirats. Es fürchtete, dass ihm irgendwann das gleiche Schicksal wie Kuwait blühen könnte und sich die Staatengemeinschaft dann nicht darum schert, falls Katar von der Landkarte verschwindet. Das Land setzt nun auf Modernisierung, um sich allmählich von der saudischen Übermacht zu lösen. Ein Coup ist die Gründung des Fernsehsenders Al Dschasira. Als ein Gemeinschaftssender eines saudi-arabischen Konzerns und der BBC seinen Betrieb 1996 einstellt, weil die saudische Regierung mit Zensur droht, erkennt Katar seine Chance und gründet mit verbliebenen britischen Mitarbeitern den in der Region daraufhin maßgeblichen Fernsehsender. Gleichzeitig beginnt sich Katar mit Investitionen in Wissenschaft, Kultur und Sport international einen Namen zu machen. Eine Erfolgsgeschichte, die aus Sicht Katars ihresgleichen sucht.

Es ist eine, auf die WM bezogen, nicht zu unterschätzende machtpolitische Leistung, dass es dem Emirat nach der WM-Vergabe trotz langjähriger Proteste wegen gravierender Menschenrechtsverletzungen und niemals verstummender Korruptionsvorwürfe gelungen ist, dass die WM am 20. November nun tatsächlich im funkelnagelneuen Al-Bayt-Stadion vor den Augen der Welt eröffnet wird. Dem erheblichen Druck hat Katar erfolgreich standgehalten. Der sportliche Ehrgeiz des Landes mit dem langen Atem ist damit aber noch nicht gestillt. Katar bewirbt sich nun, im dritten Anlauf, um die Olympischen Spiele 2032.


Buchtipp 

 

Michael Horeni

Die Begnadeten: Schönheit, Schmerz und Einsamkeit – Fußballgötter und ihre Abstürze

C. Bertelsmann Verlag, Oktober 2022,

320 Seiten, 24 Euro

Michael  Horeni
Michael Horeni ist Sportkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er ist Autor des preisgekrönten Jugendromans Asphaltfieber (2018) sowie der Bücher Gebrauchsanweisung für die Fußball-Nationalmannschaft (2018) und Echte Liebe: Ein Leben mit dem BVB (2019).

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