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Was genau war der 17. Juni?

Titelthema - Was genau war der 17. Juni?
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Aus einer Gedenkrede zu den Geschehnissen vom 17. Juni 1953 im Deutschen Bundestag 2009

Richard Schröder21.05.2023

Der 17. Juni war in der Bundesrepublik Staatsfeiertag. Es ist mir allerdings bis heute kein Westdeutscher begegnet, der genauer wusste, wie es zum 17. Juni kam und was darauf folgte. Es gibt solche Westdeutschen bestimmt, aber allzu zahlreich können sie nicht sein.

In der DDR war der 17. Juni ein Tabu. Mein Vater, dem ich in diesem Falle einen Hang zum schwarzen Humor nachsagen muss, ging am 16. Juni zum Friseur und erklärte: Morgen ist der 17. Juni, da wird bei uns gefeiert. Erstarrte Gesichter ringsum. Ist der Apotheker lebensmüde? Und dann die Entwarnung: Da habe ich nämlich Geburtstag.

Wenn der 17. Juni in der DDR überhaupt erwähnt wurde, wurde er als faschistischer Putsch bezeichnet, angezettelt vom Westen, namentlich vom RIAS, dem Rundfunk im Amerikanischen Sektor von Berlin. Zwei Briefmarken, die im Herbst 1953 in Westberlin zur Erinnerung an den 17. Juni erschienen, wurden auf Briefen in die DDR mit schwarzem Lack unkenntlich gemacht. Im Sammlerkatalog stand zu diesen Marken: "Nr. 110 und 111 fallen aus." Tatsächlich ist die Erinnerung an den 17. Juni in der DDR fast völlig erloschen.

Deshalb versuche ich mich zunächst als erinnernder Chronist.  

Am 17. Juni 1953 kam es in 700 Orten der DDR zu Streiks und Demonstrationen. Ausgelöst waren sie durch die zehnprozentige Normerhöhung, die die SED-Regierung Ende Mai zu Ehren von Ulbrichts 50. Geburtstag verfügt hatte. Bei den Lohnzahlungen am Sonnabend, dem 13. Juni, wurden sie erstmals wirksam.

Am Montag, dem 15. Juni, verfassten die Bauarbeiter des Krankenhauses Berlin-Friedrichshain eine Resolution an den Ministerpräsidenten Otto Grotewohl und forderten, "dass von dieser Normerhöhung auf unserer Baustelle Abstand genommen wird. Wir erwarten Ihre Stellungnahme bis spätestens morgen Mittag."  Der Vorsitzende der Betriebsgewerkschaftsleitung und drei Arbeiter brachten die Resolution in das Haus der Ministerien. Als am 16. Juni keine Antwort vorlag, zogen etwa 10.000 Demonstranten zum Haus der Ministerien. Inzwischen hatte das Politbüro die Normerhöhung zurückgenommen. Als aber Minister Selbmann dies den Demonstranten mitteilte, wurde er niedergeschrieen. Ein Arbeiter rief: "Was Du uns da erklärt hast, interessiert uns überhaupt nicht. Wir wollen frei sein. Wir fordern freie und geheime Wahlen." Ein anderer: "Für morgen rufen wir den Generalstreik aus."

Eine Abordnung der Demonstranten suchte den RIAS in Westberlin auf, der in der ganzen DDR gehört wurde. Der RIAS informierte über die Berliner Ereignisse des 16. Juni und verbreitete vier Forderungen der Demonstranten: Rücknahme der Normerhöhung, Senkung der Lebenshaltungskosten, freie und geheime Wahlen, keine Maßregelungen der Streikenden. Den Aufruf zum Generalstreik erwähnte der RIAS nicht, meldete aber korrekt die Rücknahme der Normerhöhung durch das Politbüro. Kurz darauf verbot ein amerikanischer Offizier dem RIAS die Verbreitung jener Forderungen, weil er fürchtete, Westberlin könnte tangiert und ein Krieg ausgelöst werden.

Am 16. Juni, 23 Uhr wandte sich der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, über den RIAS an die Ostberliner und Ostdeutschen mit der Bitte, "sich weder durch Not, noch durch Provokationen zu unbedachten Handlungen hinreißen zu lassen. Niemand soll sich selbst und seine Umgebung in Gefahr bringen."

Am 17. Juni, 5.15 Uhr meldete sich der Westberliner DGB-Vorsitzende Scharnowski über den RIAS zu Wort: "Tretet der Bewegung der Ostberliner Bauarbeiter, BVGer und Eisenbahner bei. … Je größer die Beteiligung ist, desto machtvoller und disziplinierter wird die Bewegung für Euch mit gutem Erfolg verlaufen."

Am 17. Juni begannen von früh an landesweit Demonstrationen. Allein in Berlin waren schließlich 150.000, im ganzen Land etwa eine Million auf der Straße, zu allermeist friedlich, es kam aber auch zu Gewaltakten. Gebäude wurden gestürmt, Kioske und das Columbushaus in Berlin in Brand gesteckt. Es gab Fälle von Lynchjustiz. Zwischen zehn und 15 Personen kamen durch Aufständische ums Leben. Die Sicherheitskräfte der SED waren völlig machtlos. Nicht wenige Polizisten gingen zu den Demonstranten über.

Um zehn Uhr ließ der sowjetische Botschafter Semjonow die handlungsunfähige SED-Führung in geschlossener Wagenkolonne nach Karlshorst in die sowjetische Kaserne abtransportieren.

13 Uhr verhängte die Besatzungsmacht den Ausnahmezustand über alle großen Städte und über 167 der 217 Landkreise. Allein in Ostberlin fuhren 600 sowjetische Panzer auf. Es wurde geschlossen, erst über die Köpfe hinweg und, wo das nicht wirkte, gezielt auf Personen. Auf Moskauer Anordnung wurden sofort willkürlich 18 standrechtliche Erschießungen vorgenommen und zur Abschreckung mit Plakaten veröffentlicht. Die Zahl der Toten wird insgesamt auf 60 bis 150 geschätzt, die der Verwundeten ist unbekannt. 13.000 wurden schließlich verhaftet, 2.000 zu harten Zuchthausstrafen verurteilt, zwei zum Tode. Besonders hart wurden die Organisatoren der Streiks bestraft, obwohl die DDR-Verfassung das Streikrecht garantierte.

Was als Streik der Arbeiter gegen Lohnkürzungen begann, wurde in wenigen Stunden zu einem landesweiten Aufstand mit politischen Forderungen: freie Wahlen, Freilassung der politischen Gefangenen, Rücktritt der Regierung, Pressefreiheit, Wiedervereinigung. Beteiligt waren schließlich alle Schichten der Bevölkerung, auch Mitglieder der Parteien und der Gewerkschaft, auch der SED. Auf dem Lande gab es Bauerndemonstrationen. Viele Demonstrationen führten vor die Gefängnisse mit der Forderung nach Freilassung politischer Häftlinge, oft mit Erfolg. Aber nach 36 Stunden endete das alles in einer blutigen Tragödie.

Wie kam es zu diesem Aufstand? Die Normerhöhung war bloß der Anlass. Die Ursachen lagen tiefer, sie lagen ein Jahr zurück.

Auf der Zweiten Parteikonferenz der SED vom 9. bis 12. Juni 1952 wurde der Aufbau des Sozialismus in der DDR proklamiert und das hieß: Die DDR wird nach dem Muster der Sowjetunion umgestaltet. Es folgte das schlimmste Jahr der DDR-Geschichte.

1947 waren auch in der sowjetischen Besatzungszone Länderverfassungen in Kraft gesetzt worden, die der deutschen Verfassungstradition verpflichtet waren, wenn auch bereits eingeschränkt. Mit Gesetz vom 23. Juli 1952 wurden die Länder abgeschafft und in vierzehn Bezirke aufgeteilt. Mit den Ländern verschwanden die Verwaltungsgerichte und die Finanzgerichte. Zweihundert Richter wurden entlassen, nicht weil sie Nazis waren, denn die hatte die sowjetische Besatzungsmacht längst entlassen, sondern weil ihre Unparteilichkeit störte. Sie wurden durch unausgebildete SED-treue "Neurichter" ersetzt, die besonders gut kurzen Prozess machen konnten.

Die Erklärung der Zweiten Parteikonferenz beginnt mit einem Aufruf zum "nationalen Befreiungskampf gegen die amerikanischen, englischen und französischen Okkupanten in Westdeutschland" und zum "Sturz ihrer Vasallenregierung in Bonn". Die "Festigung und Verteidigung der Grenze" und die "Organisierung bewaffneter Streitkräfte, die mit der neuesten Technik ausgerüstet" sind, werden angekündigt. Einen Monat zuvor, am 26. Mai 1952, war die Westgrenze abgeriegelt worden. Die Aufrüstung der DDR begann. Der Ausbau der Schwerindustrie wurde auf Kosten der Konsumgüterindustrie forciert. Milliardeninvestitionen wurden für Schiffsbau und Flugzeugbau vorgesehen, weil die DDR auf beiden Gebieten ihre eigenen Rüstungsgüter produzieren sollte. Das alles brachte die Wirtschaft der DDR in eine schwere Krise.

Die neue Losung: "Aufbau des Sozialismus" hieß zugleich "Verschärfung des Klassenkampfes", den "feindlichen Widerstand brechen". Im Klartext: die Staatsmacht wurde zur Waffe der Partei gegen die Bürger, das war mit Klassenkampf gemeint.

Der Klassenkampf richtete sich gegen wirtschaftlich Selbständige – wer Angestellte hatte, war jetzt "Kapitalist" -, also gegen Bauern und Bürgertum. Ihnen, nämlich zwei Millionen,  wurden die Lebensmittelkarten entzogen. Und die Justiz wurde regelrecht als Terrorinstrument eingesetzt, getreu nach Lenin: "Das Gericht soll den Terror nicht beseitigen…, sondern ihn prinzipiell, klar, ohne Falsch und ohne Schminke begründen und gesetzlich verankern." (WW 33,344)

Von August 1952 bis Ende Januar 1953 kam es zu 1.250 Gerichtsverfahren gegen Bauern, die das erhöhte Ablieferungssoll nicht erreichten oder daraus resultierende Steuerschulden nicht begleichen konnten. Ein Beispiel: In Prenzlau wurde ein Bauer zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt und enteignet, weil er aus Krankheitsgründen das Soll nicht erfüllt hatte. Mehr als 15.000 Bauern flüchteten damals nach Westen. 500.000 Hektar lagen schließlich brach, wie die sowjetische Botschaft nach Moskau meldete.

Aufgrund des "Gesetzes zum Schutze des Volkseigentums" wurden bis Ende 1953 ca. 10.000 Personen verurteilt, meist Arbeiter. Auch dafür ein Beispiel: Ein Lagerarbeiter aus Luckenwalde wurde zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er den Diebstahl von einem Paar Hausschuhen durch einen anderen geduldet, nicht etwa selbst begangen hatte.

Der private Handel und Großhandel wurde mittels verweigerter Kredite, Zulieferungsverboten und systematisch eingesetzter schikanöser Steuerprüfverfahren zerschlagen. Bei der Zerschlagung des Großhandels wurden in 3.000 Betriebsprüfungen 2.100 Strafverfahren eingeleitet, 2.300 Personen verhaftet und ein Vermögen von 335 Millionen Mark eingezogen. März/April 1953 kam es zu einem regelrechten Kirchenkampf. Die Junge Gemeinde wurde als Tarnorganisation des US-Imperialismus denunziert. 3000 Jugendliche wurden von den Oberschulen verwiesen, weil sie nicht bereit waren, sich vor versammelter Schülerschaft von der Jungen Gemeinde loszusagen. Lehrer wurden strafversetzt oder entlassen. 70 Pfarrer und Jugendleiter waren inhaftiert. 600 Studenten wurden exmatrikuliert, weil sie zur Studentengemeinde hielten. Gegen Johannes Hamel, Studentenpfarrer in Halle, und Johannes Althausen, Generalsekretär der Studentengemeinden in der DDR, beide inhaftiert, wurden publizistisch Schauprozesse vorbereitet. Der Religionsunterricht in den Räumen der Schule, durch die DDR-Verfassung garantiert, wurde unter Verfassungsbruch verboten.

In diesem einen Jahr "Aufbau des Sozialismus" verdoppelte sich die Zahl der Häftlinge auf 64.400. Mehrere hunderttausend flohen in diesem Jahr über Westberlin – bloß mit Handgepäck.

Der Klassenkampf richtete sich auch gegen SED-Mitglieder. Eine "Säuberung" von "feindlichen Elementen" mit Schauprozessen wurde vorbereitet. Im Januar 1953 wurden Juden als "zionistische Agenten" aus der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN) ausgeschlossen. Seit dem 11. September 1952 wurden an die SED-Funktionäre bis auf die Kreisebene hinab persönliche Waffen ausgegeben, die erst im November '89 wieder eingesammelt wurden. In der letzten Sitzung des ZK der SED beklagte ein Altkommunist unter Tränen die Demütigung, die Waffe abgeben zu müssen, die der Verteidigung des Sozialismus dienen sollte.    

Nach Stalins Tod am 7. März 1953 beobachtete die neue sowjetische Führung die repressive Politik der SED mit wachsender Sorge, weil sie um die Stabilität ihres westlichen Vorpostens fürchtete. Deshalb wurde die SED-Führung vom 2. bis 4. Juni nach Moskau einbestellt. Ihr wurde ein umfangreiches Schriftstück zur Stellungnahme vorgelegt, in dem als Hauptursache für die Massenflucht der DDR-Bürger und die Wirtschaftskrise "der Kurs auf einen beschleunigten Aufbau des Sozialismus in Ostdeutschland" verantwortlich gemacht wurde, der, obwohl seinerzeit vom ZK der KPdSU gebilligt, nun "für nichtig zu halten" sei. Kritisiert werden namentlich die Repressionen gegen Bauern, gegen das "Privatkapital", die Forcierung der Schwerindustrie zulasten der Versorgung der Bevölkerung und die Einmischung in die Angelegenheiten der Kirche. Der SED wurden "Maßnahmen zur Stärkung der Gesetzlichkeit und Gewährung der Bürgerrechte" auferlegt. Nicht erwähnt wird die Normerhöhung, möglicherweise deshalb, weil sie erst nach Fertigstellung des Papiers von der SED angekündigt worden war. Sie wurde offenbar einfach übersehen. Das sollte schwerwiegende Folgen haben. Diese Kurskorrektur sollte der "Stärkung unserer Position sowohl in Deutschland selbst als auch in der Deutschlandfrage auf der internationalen Ebene" dienen.

Die SED-Führung gehorchte umgehend. Noch von Moskau aus ließ sie die Verbreitung ihres Propagandamaterials sperren und die pompösen Vorbereitungen zu Ulbrichts Geburtstag stoppen, die die Sowjetführung als Personenkult kritisiert hatte. Am 9. Juni beschloss das Politbüro der SED ein Kommuniqué, in dem es seine Fehler eingestand, das ganze Inventar der Repressionen noch einmal aufzählte und deren Rücknahme ankündigte – mit zwei Ausnahmen. Das Wort "Bürgerrechte" fehlte und – die Normerhöhung. Die Arbeiter- und Bauernregierung hatte die Arbeiter vergessen, denn Moskau hatte diesbezüglich nichts angeordnet.  Weil sie sich zu Recht übergangen sahen, traten die Arbeiter in den Streik. So kam es zum 17. Juni.

Welche Folgen hatte der 17. Juni?

Eine paradoxe Folge, die weder die Demonstranten noch die Sowjetunion gewollt haben: Der 17. Juni rettete Walter Ulbricht. Er triumphierte gegen seine innerparteilichen Widersacher und säuberte die Partei. Kriterium war der 17. Juni. Wer zurückgewichen war oder gar Verständnis für die Forderungen der Demonstranten gezeigt hatte, verlor seinen Posten. Bis 1954 wurde etwa die Hälfte der SED-Funktionäre auf allen Ebenen ausgewechselt. Nicht wenige wurden ausgeschlossen. Dagegen war es nun nicht mehr so wichtig, ob jemand früher Nazi war. Im Februar 1954 ermittelten parteiinterne Statistiker, dass der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder in der SED zunahm. Waren es bisher 8,6 Prozent, waren es nun bei den Aufnahmeanträgen 9,3 Prozent. Bei Mitgliedern der SA und SS stieg die Zahl gar von sechs Prozent auf zehn Prozent. Als die SED-Kreisleitung Pasewalk am 27. Januar 1954 eine Kommission bilden wollte, um den steigenden Anteil von Altnazis in der SED des Kreises zu untersuchen, wurde ihr das strikt verboten.

Unmittelbar nach dem 17. Juni begann erneut der Justizterror. Ab 1954 wurde die Jugendweihe zum neuen Kirchenkampfinstrument. Ab 1958 wurde die Kollektivierung der Landwirtschaft wieder forciert. Die Reste der privaten Industrie, inzwischen meist zu "halbstaatlichen Betrieben" umgewandelt, zerschlug Erich Honecker Anfang der 70er Jahre, obwohl sie überproportional am Export beteiligt waren.

Aber die SED begann nun auch, die Lebensverhältnisse zu verbessern, um die Arbeiter für sich zu gewinnen. Später hieß das: "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik". Nichts gegen Sozialpolitik! Die SED aber betrieb sie als Gnadengabe für Wohlverhalten. Das Ziel war: zufriedene Knechte, nicht Bürgerrechte.

Der 17. Juni blieb das Trauma der SED. Als dem Stasiminister Erich Mielke am 31. August 1989 über die brisante Lage berichtet wurde, fragte er: "Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?"

Aber auch für die Bevölkerung der DDR blieb der 17. Juni ein Trauma. Alle Losungen von damals waren seitdem tabu, namentlich freie Wahlen und Pressefreiheit.

Wir mussten lernen: Gegen Panzer ist Zivilcourage machtlos. Das haben wir 1956 in Ungarn und 1968 in der CSSR wieder erlebt. Wo sich der Ruf nach Freiheit meldete, erscheinen die sowjetischen Panzer. Budapest wurde 1956 weit stärker zerstört als im 2. Weltkrieg. Daraus ergab sich zwingend: Der Schlüssel für große Veränderungen lag nicht in der DDR, er lag in Moskau. Wenn allerdings dort ein Nagy oder Dubcek auftrat, dann würden keine Panzer rollen. Er kam schließlich und hieß Gorbatschows.

Was genau nun war dieser 17. Juni?

Die SED hatte bis zuletzt behauptet: Das war ein von außen gelenkter faschistischer Putsch. Erfreulicherweise hat sich der Vorstand der PDS 1993 davon distanziert. Trotzdem gibt es bis heute noch Vertreter der These vom faschistischen Putsch.  

Peinlich ist, dass alle DDR-Schriftsteller, die sich vor 1989 zum 17. Juni geäußert haben, Stefan Hermlin, Anna Seghers, Heiner Müller, der These vom faschistischen Putsch oder, so Stefan Heim, vom halbfaschistischen Putsch, gefolgt sind. Kurt Bartel, der sich KuBa nannte und furchtbare Hymnen auf Stalin verfasst hatte, schrieb in einem Flugblatt gegen die Ostberliner Bauarbeiter, dass er sich für sie schäme. "Da werdet ihr sehr viel und sehr gut mauern … müssen, ehe diese Schmach vergessen ist." Dergleichen mag Bertold Brecht veranlasst haben, nach dem 17. Juni zwar öffentlich seine Solidarität mit der SED zu bekunden, zu Hause aber heimlich für sich "Die Lösung" aufs Papier zu bringen: Die Regierung möge das Volk auflösen und ein anderes wählen, wenn das Volk das Vertrauen der Regierung verspielt habe.

Zum 50. Jahrestag des 17. Juni haben sich Westdeutsche zu Wort gemeldet, die erklärten, der 17. Juni sei kein Ruhmesblatt für die Deutschen. Hubertus Knabe warf dem Westen vor, nicht eingegriffen zu haben. Gerhard Besier warf den ostdeutschen Kirchen beim 17. Juni Versagen vor. Solche Besserwisserei post festum und vom Schreibtisch aus nervt.

Hätte der Westen am 17. Juni eingegriffen, hätte tatsächlich ein Weltkrieg gedroht. Die Sowjetunion hatte nach 1945 nicht, wie die Westalliierten, abgerüstet.

Und hätten die Kirchen vor oder nach dem 17. Juni zu Demonstrationen aufgerufen, hätten sie bloß die Zahl der Opfer erhöht. Es ist zweierlei: Märtyrer werden, nämlich schwere Nachteile für seinen Glauben hinnehmen müssen – das ist damals vielen Christen in der DDR widerfahren – und Märtyrer machen. Das ist den christlichen Kirchen verwehrt und dabei soll es bleiben.

Nochmals: Gegen Panzer ist Zivilcourage machtlos. Zuletzt ist uns das 1989 in China auf dem Platz des Himmlischen Friedens demonstriert worden.

Aber wenn der 17. Juni gar keinen Erfolg haben konnte, war der 17. Juni dann nicht bloß eine große Torheit?

Immanuel Kant hat zur Französischen Revolution bemerkt: Bedenkt man, mit wie viel Elend und Gräuel sie verbunden war, könnte niemand verantworten, sie auf diese Kosten noch einmal zu unternehmen. Trotzdem finde diese Revolution "in den Gemüthern der Zuschauer  eine Theilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt", weil sich da gegen den Despotismus der Gedanke des Rechts Geltung verschafft hat (AA 7, 85ff). So müssen  wir auch den 17. Juni sehen. Ihn noch einmal zu initiieren, könnte der hohen Opfer wegen niemand verantworten. Aber Bewunderung nötigt uns ab, dass der Wunsch nach Einigkeit und Recht und Freiheit damals so unerwartet mächtig wurde. Widerlegt wurde damit, dass den Deutschen der Untertanengeist angeboren sei.

Das wurde im Herbst 89 noch einmal widerlegt.

War die Herbstrevolution die Fortsetzung des 17. Juni?

Nein. Die oppositionellen Gruppen in der DDR und die Demonstranten des Herbstes haben sich nicht auf dieses Datum bezogen. Eher könnte man sagen: Weil eine neue Generation junger Nonkonformisten nicht durch die Erinnerung an den 17. Juni gelähmt war, erlaubten sie sich unbekümmert Kritik bei den Themen Umwelt, Frieden und Abrüstung, Dritte Welt. Das brachte die SED in Verlegenheit, weil sie diese Themen nicht, wie die Forderungen des 17. Juni, als staatsfeindlich abgestempelt hatte.

Sie forderten nicht freie Wahlen, sondern zählten bei der Kommunalwahl im Mai 1989 mit, um die Wahlfälschung zu dokumentieren und dann nach DDR-Gesetzen Anzeige zu erstatten.

Diese Gruppen unter dem Dach der Kirche entdeckten die Vernetzung als Schutz. Als es zu Verhaftungen kam, wurde durch Fürbittgottesdienste Öffentlichkeit hergestellt, und zwar via Westfernsehen, denn inzwischen gab es Westkorrespondenten in der DDR.

Nicht von Baustellen und Betrieben nahmen die Demonstrationen des Herbstes '89 ihren Ausgang, sondern von Friedensgebeten. Und es wurden Verhaltensmaßregeln gelernt. Wer verhaftet wird, ruft seinen Namen, damit er nicht namenlos verschwindet. Und: "Keine Gewalt!" Als die Montagsdemonstration zur Massenbewegung anschwoll und auch an der Leipziger Stasizentrale, der "Runden Ecke", vorbeiführte, schützten Demonstranten mit Kerzen das Gebäude, damit auch nicht eine zerschlagene Fensterscheibe den Anlass für Gewalt gab. Der Volkskammerpräsident Horst Sindermann (SED) bemerkte später dazu resigniert: "Auf alles waren wir vorbereitet, bloß nicht auf Kerzen und Gebete."  

Nach dem 17. Juni 1953 waren die Arbeiterkampfgruppen gegründet worden zum Kampf gegen die Konterrevolution. Als sie 36 Jahre später, im Herbst '89, zum ersten Mal gegen "Konterrevolutionäre" eingesetzt werden sollten, verweigerten 346 Kampfgruppenangehörige den Befeh mit der Begründung: Die Demonstranten seien keine Konterrevolutionäre, da seien doch Kollegen dabei. 

Die deutsche Einheit gehörte nicht zu den Forderungen der oppositionellen Gruppen in der DDR. Erst als die Mauer fiel und die Ohnmacht des Regimes offenbar war, begannen Demonstranten aus der Nationalhymne der DDR zu skandieren: "Deutschland einig Vaterland". Nur in der sächsischen Stadt Plauen war die deutsche Einheit schon vor dem Mauerfall gefordert worden. Und da waren die drei wieder zusammen: Einigkeit und Recht und Freiheit.

Bei dem Text handelt es sich um seine Rede, die er am 17. Juni 2009 anlässlich des 56. Jahrestags des Volksaufstands in der DDR vor dem Bundestag hielt.

 (Die Darstellung bezieht sich – nicht nur bei den Zahlenangaben - auf: Ilko-Sascha Kowalczuk, 17. 6. 1953: Volksaufstand in der DDR. Ursachen – Abläufe – Folgen, Edition Temmen Bremen 2003)

Richard Schröder
Prof. Dr. Richard Schröder (RC Berlin-Brandenburger Tor) war bis zu seiner Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie in Verbindung mit Systematischer Theologie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Er war Abgeordneter und Fraktionsvorsitzender der SPD in der letzten und einzig frei gewählten Volkskammer der DDR sowie Abgeordneter im Deutschen Bundestag zur Zeit der Wiedervereinigung. Schröder ist Vorsitzender des Fördervereins Berliner Schloss und Vorstandsvorsitzender der Deutschen Nationalstiftung. Zuletzt veröffentlichte er „Weltoffenes Deutschland?: Zehn Thesen, die unser Land verändern“ (Herder Verlag, 2018).

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