Hoffmeisters Empfehlungen
Wege der Zartheit
Fragiles aus Alltagswelten, kraftvolle Bilder und pflanzliche Metamorphosen.
Fragilität und Zartheit stehen nicht unbedingt hoch im Kurs in einer Zeit, in der bereits die Affinität zu Verfeinerung und Distinktion wahlweise als hedonistische, hochmütige, esoterische oder anachronistische Geste desavouiert wird. Nur zu gerne ignoriert der Furor nivellierten Zeitgeistes die Grundlagen zivilisatorischer Wegmarken. So gilt es denn mehr denn je, die Magie des Zarten in den Blick zu nehmen. Hoffart als Mahnung.
Zartheit neigt zum Verborgenen, zur Unscheinbarkeit. Ihre Komplexität liegt in der Reduktion, ihre Wirkung greift Raum unter der Oberfläche. Anne Brannys Einlassungen zum Thema erfassen Sinne und Verstand des Lesers in leiser, unaufgeregter Manier. Sie sind ebenso genau wie poetisch, ebenso philosophisch wie spekulativ, in jedem Fall inspirierend. Unter Überschriften wie „Atem“, „Erröten“, „Geheimnis“ oder „Wunder“ spürt die Autorin den vielgesichtigen Aspekten des Sujets, dessen Kern, überdies evidenten Vernetzungen nach. Fragiles aus Alltagswelten, Wissenschaft, Philosophie, Kunst und Literatur präsentiert sich in „enzyklopädischer“ Dimension.
Die Sonaten des Neapolitaners Domenico Scarlatti repräsentieren nichts weniger als die Idee der Nuance. Sie sind Inbegriff des Grazilen, der Zerbrechlichkeit, eine Feier zudem des Komplexen und der Differenz. Wenige Pianisten vermögen diesem diffizilen Tastenkosmos interpretatorisch und handwerklich gerecht zu werden. Skrupulös modelliert Christoph Ullrich die Preziosen, formt luzide Tableaus, leuchtet Farb- und Dynamikwerte aus und akzentuiert rhythmische Finessen. Solitäre Klangbilder von mediterraner Strahlkraft.
Alexander Ekmans Hommage an skandinavische Mittsommer-Rituale zählt zu den suggestivsten Ballettfilmen der vergangenen Jahre. Mit kraftvollen Bildern, avancierter Musik und einem Ensemble, das stilsicher zwischen tradierten Tanzformen und zeitgenössischem Ausdruckstanz variiert, arrangiert der Choreograph mit leichter Hand ein surreales Schauspiel, das das Spannungsfeld von Natur, Kultur und Mythologie ebenso reflektiert wie die Phänomene Rausch und Entgrenzung.
Jane Austens Romane stehen für verbale Distinktion, unbedingte Präzision, schneidende Ironie und schattierte psychologische Charakterzeichnung. Mit seziererischem Blick auf die gehobene englische Gesellschaft des Regency definierte die Autorin zeitlose literarische Maßstäbe.
Gleich das – posthum veröffentlichte – Roman-Debüt skizziert mit der Protagonistin Lady Susan einen unverwechselbaren Austen-Typus, der, auf der Suche nach einer „guten Partie“, sämtliche Spielarten von Intrige, Bosheit, Heuchelei und Niedertracht zelebriert. Schauspielerin Eva Mattes versteht sich idealtypisch auf den spezifischen Klang des Austen’schen Sprachkosmos. Ihr Ton balanciert Gleichmaß und Understatement ebenso, wie er souverän das Spiel mit subtilem Rubato und punktgenauer Akzentuierung beherrscht. Selten wurden Abgründe und Intrigen mit zarterer sprachlicher und sprecherischer Eleganz inszeniert.
Um seinen Schülern das Sehen als ästhetische Kategorie zu vermitteln und deren Auge für Details zu schärfen, fotografierte, fixierte und vergrößerte der Bildhauer und Zeichner Karl Blossfeldt Pflanzen. Natur fand sich ins Abstrakte überführt, filigrane Strukturen generierten rätselhafte Schönheit. Der Essay des niederländischen Autors Cees Nooteboom feiert die Metamorphosen als „neue Grammatik des Sehens“.
Infos:
• Anne Brannys, Eine Enzyklopädie des Zarten, Frankfurter Verlagsanstalt, 298 Seiten, 38 Euro
• Cees Nooteboom, Karl Blossfeldt und das Auge Allahs, SchirmerMosel, 64 Seiten, 19,80 Euro
• Midsummer Night's Dream, A Piece by Alexander Ekman, Music Mikael Karlsson, Royal Swedish Ballet, BelAir Classiques, BAC 141, DVD
• Domenico Scarlatti, Complete Piano Sonatas Vol. 2, Sonatas K. 43 - K. 97, Christoph Ullrich, Tacet 0237-0, CD
• Jane Austen - Lady Susan, Sprecherin: Eva Matthes, Argon Edition, 2 CDs, Hörbuch
Martin Hoffmeister publiziert regelmäßig in nationalen und internationalen Magazinen und Zeitungen. Als Redakteur im Kulturressort des MDR-Hörfunk beobachtet er die Musik- und Literaturszene seit mittlerweile drei Jahrzehnten. Im Rotary Magazin empfiehlt er Neuerscheinungen aus dem Kulturleben und Fundstücke von seinen Reisen.
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