Hoffmeisters Empfehlungen
Aufbruch in den Frühling
Wunderbare Werke für Spaziergang und Konzerte im Quarantäne-Wohnzimmer
Der Mai bewegt. Die Natur lädt ins Freie. Selbst die Gemüter ergeben sich der Aufruhr. Singend (und musizierend) rahmen und spiegeln Mensch und Tier die pralle Szenerie. Das Fest der Frühlings-Lichte nimmt seinen Lauf.
Gehen, Spazieren, Wandern, Pilgern, Flanieren: Die Affinität des Menschen zur (Fort-)Bewegung bestimmt seit jeher nachhaltig seine Existenz. Entsprechend vielgesichtig und umfangreich ist das Echo des Sujets in
Wissenschaft, Literatur, Kunst, Religion und Philosophie. Mit „Wanderlust“ präsentiert Rebecca Solnit erstmals einen breit gefächerten wie systematischen Einblick in die „Geschichte des Gehens“. Dabei überblendet die US-Autorin suggestiv und sprachgewaltig akademischen Diskurs, Beispiele aus Literatur unterschiedlicher Provenienz und eigene Geh-Erfahrungen. Ob als Kulturhandlung, Ritual, archaisches Muster oder Grundlage konsistenter Denkprozesse – das Gehen gewährt die „Übereinstimmung von Geist, Körper und Welt“.
Seit dem Altertum fungiert die Nachtigall als Symbol für Frühling, Liebe, Poesie, die Lobpreisung Gottes, aber auch für Trauer und Klage. Ihr magischer Gesang und die aufgeladene Emblematik inspirierte insbesondere zahllose Dichter und Komponisten zu solitären Werken. Mit rund 3000 Exemplaren beheimatet keine zweite europäische Stadt mehr Nachtigallen als Berlin. Nach der Winterpause in Afrika sammeln sich die Vögel ab Mitte April alljährlich in ihren angestammten Quartieren in Gärten, Laubwäldern, Parks oder Friedhöfen, um nach Einbruch der Dunkelheit, solistisch oder im Ensemble, zu vielstimmigem Konzert zusammenzufinden. Ein Repertoire aus circa 190 verschiedenen Strophen-Typen gebunden an überbordende Varianz in Lautstärkewert, Tonhöhe, Tempo und Rhythmus verspricht überraschende dramaturgische Volten. Fasziniert von den Vogelklängen begab sich 2014 Autor, Philosoph und Experimentalmusiker David Rothenberg zum Forschungsaufenthalt nach Berlin. Die intensive Auseinandersetzung mit der vokalen Balz der männlichen Nachtigallen mündete nicht nur in emphatischen Aufzeichnungen, sondern überdies in gemeinsamen nächtlichen Konzert-Sessions von Tier(en) und Mensch(en). Besonders vorliegendes Audio-Feature mit Sprecherin Eva Mattes vermag die versammelten Erkenntnisse Rothenbergs mit den aufgezeichneten musikalischen „Dialogen“ authentisch zusammenzubinden. Im Zeichen der Nachtigall avanciert Berlin zum poetischen Hotspot.
Mit zahllosen Konzerten in authentischen Wiener Beethoven-Spielstätten und einer integralen Einspielung der Sinfonien lehrten der österreichische Dirigent Martin Haselböck und sein Ensemble Orchester Wiener Akademie viele Mainstream-Beethoven-Exegeten und das schönklang-fixierte Publikum seit Jahren das Fürchten. So rasant wie rau, stürmisch, bisweilen wild, zugleich durchsichtig, schattiert und apart koloriert schickte der Maestro Beethovens Klangbotschaften auf historischem Instrumentarium in die Welt. Den Abschluss des Zyklus’ bilden vorliegende Aufnahmen der 5. und 6. Sinfonie, die exemplarisch Schicksalhaftes respektive das Glück exzessiver Naturerfahrung reflektieren.
"Stravaganza d'Amore" – mit dem opulenten Spiegelsaal des Versailler Schlosses könnte die Szenerie für dieses Klangfest der Liebe und Sinne nicht adäquater ausgewählt worden sein. Dirigent Pichon versammelt für das Konzert-Dokument Werke führender italienischer Meister der Renaissance und des Frühbarock wie Allegri, Caccini, Peri oder Monteverdi. In sinnstiftender Korrespondenz finden sich beispielhafte Instrumental-Intermezzi, wie sie am legendären Hof der Medici zur Aufführung gelangten, und zauberische Vokaltableaus, die stilistisch die ersten Schritte der Gattung Oper markieren.
- Rebecca Solnit, Wanderlust – Eine Geschichte des Gehens, Mattes & Seitz, 384 S., 30 Euro
- David Rothenberg, Stadt der Nachtigallen – Berlins perfekter Sound, Sprecherin: Eva Mattes, Argon Hörbuch
- Orchester Wiener Akademie, Martin Haselböck, Resound Beethoven Vol. 8, Symphonies 5 & 6 „Pastoral“, Alpha Classics, CD
- Stravaganza D’Amore, The Birth of Opera at the Medici Court, Raphael Pichon, Pygmalion, Choir & Orchestra, Chateau de Versailles CVS 019., DVD
Martin Hoffmeister publiziert regelmäßig in nationalen und internationalen Magazinen und Zeitungen. Als Redakteur im Kulturressort des MDR-Hörfunk beobachtet er die Musik- und Literaturszene seit mittlerweile drei Jahrzehnten. Im Rotary Magazin empfiehlt er Neuerscheinungen aus dem Kulturleben und Fundstücke von seinen Reisen.
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