Hoffmeisters Fundstücke
Das starke Geschlecht
Neue Werke von und mit Frauen bieten Einblicke in die mentale Grundverfasstheit.
Insbesondere bei Musikern hat der Lockdown tiefgreifende Spuren hinterlassen. Einige, die es sich leisten konnten, entwickelten in der erzwungenen Klausur solitäre künstlerische Projekte, die, geschärft und angefeuert durch den Ausnahmezustand, musikalische Anliegen mit existenziellen Botschaften zu verknüpften wussten.
Zu Recht gilt vor diesem Hintergrund Angela Hewitts aktuelles Album „Love Songs“ als ihr persönlichstes. Im besten Sinne versehrt und aufgeladen von Emotion, Innenschau und dem Bedürfnis nach Zwischentönen, präsentiert die kanadische Pianistin über 20 Lieder von Meistern (Schumann, Schubert, Strauss, Mahler, Grieg, Gershwin) des 19. und 20. Jahrhunderts in hochkarätigen Bearbeitungen. Dass das „Lieder-ohne-Worte-Projekt“ bereits heute zu den bemerkenswertesten Klavier-Produktionen des Jahres gerechnet werden muss, ist der originären Programmatik, der Substanz der Transkriptionen und Subtilität und Nuancierunspotenzialen von Hewitts Pianistik geschuldet. Eine Hommage an die Macht des Fragilen.
Havanna und Mozart? Mozart in Havanna? Fraglos drängen sich zunächst andere Destinationen auf, wenn es um die stilgerechte Aufführung der Musik des Salzburger Granden geht. Steht nicht die kubanische Metropole eher für Jazz, Worldmusic und Mambo? Die Solohornistin Sarah Willis der Berliner Philharmoniker belehrt uns mit dem Projekt „Mozart y Mambo“ eindrücklich eines Besseren. Landete bereits die gleichnamige CD der Britin an der Seite kubanischer Solisten und dem Havanna Lyceum Orchestra mit Originalkompositionen Mozarts, Mozart-Mambo-Arrangements und anderen Werken kubanischer Provenienz in den Verkaufscharts, so legt das französische Label Alpha nun mit der entsprechenden DVD nach. Unbedingt suggestiv vermitteln Konzertmitschnitte und Bonus-Dokumentation einen Eindruck von Vitalität, Niveau und Potenzialen der kubanischen Musikszene.
Der weibliche Blick auf sich selbst, auf andere Frauen und auf ihre Umgebung zeitigt seit je spezifische, singuläre, mithin unverzichtbare Erkenntnisse. Aufschlussreiche Zeugnisse in diesem Zusammenhang geben insbesondere Literatur- und Kunstgeschichte wobei Entdeckungen in erster Linie die bildende Kunst offeriert. „Close-Up“, die aktuelle Ausstellung der Fondation Beyeler in Basel, nimmt Protagonistinnen der Moderne seit 1870 (bis heute) in den Blick, deren Fokus auf Porträts und Selbstporträts liegen. Nachzuvollziehen sind hier nicht nur die Metamorphosen weiblichen künstlerischen Selbstverständnisses vor gesellschaftlichen und politischen Hintergründen aus wechselnden Perspektiven, sondern immer wieder auch der sämtliche Werke einende Doppelblick auf die Sujets. Ob von Schmerz, Trauer, Grimm, Kontemplation, Melancholie, Wut oder Indifferenz gezeichnete Gesichter: Die Bilder von Paula Modersohn-Becker, Frida Kahlo, Cindy Sherman, Berthe Morisot, Marlene Dumas oder Elizabeth Peyton und anderen geben in exemplarischer Manier Einblicke in die mentale Grundverfasstheit ihrer Modelle.
Stefan Moses (1928–2018) zählt zu den stilbildenden Fotografen der Nachkriegszeit. Seine Porträts von Prominenten, Zeitzeugen und Emigranten ebenso wie seine dokumentarischen Arbeiten über Menschen aus verschiedenen Berufsgruppen bilden nicht nur markante Charakterstudien, sondern spiegeln überdies deutsche respektive europäische Mentalitäts- und Gesellschaftsgeschichte. Dass Moses’ Kunst nie auf Brillanz und Effekt, vielmehr auf höchste Authentizitätswerte, Verdichtung und handwerkliche Details zielte, untermauert beispielhaft vorliegender Porträt-Band. Die zwischen 1950 und den 1990er Jahren entstandenen Arbeiten zeigen bekannte und in Vergessenheit geratene Frauen, die das kulturelle und gesellschaftliche Leben der Nachkriegsjahre in besonderer Weise mitgestaltet und geprägt haben. Publizist und Historiker Christoph Stölzl begleitet den Fotoreigen mit kuratierten Einlassungen.
- Angela Hewitt, Love Songs, Hyperion Records, CDA 68341, CD
- Sarah Willis, Mozart y Mambo, Alpha Classics, ALP 741, 101 Min., DVD
- „Close Up“, Berthe Morisot, Mary Cassatt, Frida Kahlo u. a., bis 2. 1. 2022, Fondation Beyeler, Baselstrasse 101, CH-4125 Riehen/Basel, info@fondationbeyerler.ch, Ausstellung
- Christoph Stölzl, Stefan Moses. Die Zeit der Frauen, Elisabeth Sandmann Verlag, 192 S., 120 Fotografien, 58 Euro
Martin Hoffmeister publiziert regelmäßig in nationalen und internationalen Magazinen und Zeitungen. Als Redakteur im Kulturressort des MDR-Hörfunk beobachtet er die Musik- und Literaturszene seit mittlerweile drei Jahrzehnten. Im Rotary Magazin empfiehlt er Neuerscheinungen aus dem Kulturleben und Fundstücke von seinen Reisen.
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