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Herkunft des Wortes „Heimat“

Ein deutsches Gefühl?

Gedanken zur Identität unserer Gesellschaft, die sich nicht nur in diesen Tagen auf dramatische Weise verändert, sondern auch in der Vergangenheit immer wieder fundamentalen Wandlungen unterlag.

Etienne François30.09.2015

Gehört der Begriff Heimat zu diesen Worten, die, so der französische Historiker Marc Bloch (1886–1944), „eine zu deutsche Klangfarbe besitzen, um sich in eine andere Sprache, die in eine ganz andere Gedächtniskultur eingebettet ist, in irgendeiner Weise übertragen zu lassen?“ Ein schneller Blick in die Internet-Enzyklopädie Wikipedia scheint diese weitverbreitete Ansicht zu bestätigen. Übereinstimmend erklären die englischen, italienischen und französischen Einträge zu „Heimat“, dass es sich dabei um ein Wort handle, das kein Äquivalent in der englischen wie auch in den romanischen Sprachen besitze. In der Tat übt dieses Wort, über das weltweite Echo hinaus, das die Film-Serie „Heimat“ von Edgar Reitz gefunden hat, eine Art Faszination auf viele ausländliche Wissenschaftler aus, die sich mit der deutschen Geschichte und Kultur befassen: In ihrer Untersuchung über „The German Idea of Heimat“ definierte 1990 die US-amerikanische Historikerin Celia Applegate Deutschland als „A Nation of Provincials“, während die britischen Germanistinnen Elizabeth Boa und Rachel Palfreyman in ihrem 2000 erschienenen Buch über „Regional Loyalties and National Identity in German Culture, 1890–1990“ sogar von Heimat als „A German Dream“ sprachen. Dies war im Übrigen der Grund, warum Hagen Schulze und ich in unseren„Deutschen Erinnerungsorten“ dem Thema Heimat ein ganzes Kapitel widmeten, in dem wir so unterschiedliche Einträge wie den Schrebergarten, „Blut und Boden“, den Gesangverein, Neuschwanstein oder noch den Karneval thematisierten.

Ursprünge in der Rechtssprache

Diese Übereinstimmung sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass die heutige Bedeutung des Worts Heimat mit seiner starken emotionalen Komponente eine relativ junge Erscheinung darstellt. Ursprünglich war Heimat ein Begriff aus der Rechtssprache: Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein galt sie als der Ort, dem man aufgrund seiner Geburt oder Heirat, aber auch durch Verleihung des Heimatrechts oder Anstellung durch die Gemeinde zugehörte, woraus sich das Recht zum Aufenthalt, zur Ausübung eines bürgerlichen Gewerbes oder zum Erwerb von Grundbesitz ergab. Besitz spielte dabei eine erhebliche Rolle – der Besitzlose war ein heimatloser Geselle.

Dieser Rechtsbegriff trat in dem Maße zurück, in dem das Recht auf Freizügigkeit und die Gewerbefreiheit an Boden gewannen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden – vorwiegend im Zuge der Industrialisierung – 85 Prozent der Bevölkerung von den Menschenströmen erfasst; 70 Prozent von ihnen blieben zwar in Europa, wanderten aber vom Land in die Städte. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert lebten zwei Drittel der Deutschen an einem anderen Ort als dem ihrer Geburt. Daraus ergab sich eine massenweise Entfremdung, und die Heimat, die man hinter sich gelassen hatte, erhielt eine ganz neue Bedeutung. So definierte das „Bilder-Conversations-Lexikon für das deutsche Volk“ von 1838 Heimat als „das Land, wo man geboren wurde“.

Als Metapher zur Darstellung der lokalen wie nationalen Gemeinschaften bekam die Heimat einen hohen Stellenwert für die Nationalisierung der Massen. Dies traf mehr oder weniger in allen europäischen Ländern zu: So ist das 1834 im Pariser Exil geschriebene Versepos „Pan Tadeusz“ des polnischen Dichters Adam Mickiewicz (1798–1855) nichts anderes als der Versuch einer Wiederauferstehung durch die Literatur der verlorenen und geteilten polnischen Heimat, während der böhmische Komponist Bedřich Smetana (1824–1884) in seinem symphonischen Zyklus „Mein Vaterland“ sechs unterschiedliche Orte seiner Heimat verklärte. Und auch wenn es stimmt, dass es auf Französisch kein Pendant zum deutschen Wort Heimat gibt, so gibt es für mich keine bessere Beschreibung einer Heimat im vollen Sinne des Wortes, d.h. mit ihrer räumlichen, zeitlichen, sozialen, kulturellen und emotionalen Dimension, als im ersten Band „In Swanns Welt“ („Du côté de chez Swann“) des Romanzyklus von Marcel Proust, bildet doch die Wiederentdeckung durch den Erzähler nach der bekannten Episode mit Madeleine und dem Lindentee der verschütteten Erinnerung an seine Jugend in der überschaubaren, ländlichen und kleinstädtischen Welt von Combray, die ihn bis ans Ende seines Lebens geprägt hat und in der alle Orte, Menschen und Objekte ihren festen Platz hatten, das Fundament seiner Rückeroberung der verlorenen Zeit.

Halt in der Massengesellschaft

Mit der verklärten Erinnerung an die Heimat ließ sich auch die Wurzellosigkeit der industriellen Massengesellschaft kompensieren. Dies galt insbesondere für das durch eine rasante Industrialisierung und Verstädterung gekennzeichnete Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Kein Wunder, dass dort der Begriff Heimat zum Kernbegriff nostalgischer, rückwärtsgewandter Orientierungen in Kunst wie Politik wurde. Heimatkunst ließ sich polemisch gegen die „Asphaltkultur“ der großen, als seelenlos empfundenen Städte ausspielen. Ihr Sprachrohr wurde seit 1900 die Zeitschrift Heimat, in der Autoren wie Friedrich Lienhard, Adolf Bartels und Eduard Wachler ihre affektgeladene Reaktion auf die Moderne formulierten. Sie wie viele Autoren fanden sich später im Lager des Nationalsozialismus wieder, wo sie halfen, unter dem Stichwort „Blut und Boden“ ein umfassendes gefühlsmächtiges Orientierungsmuster bereitzustellen.

Allerdings stellte Deutschland hierbei keinen Einzelfall in Europa dar: In Frankreich, zum Beispiel, vertrat 1899 der Romancier, Journalist und Politiker der nationalen Rechten Maurice Barrès (1862–1923) die These, „la terre et les morts“ (der Boden und die Toten) seien das Fundament des französischen Nationalbewusstseins.

Die großen Flüchtlingsbewegungen und Massenvertreibungen des 20. Jahrhunderts warfen die politisch folgenreiche Frage nach dem Bestehen eines „Rechts auf Heimat“ auf, womit der Bogen zurück zum ursprünglich juristischen Heimatbegriff geschlagen wurde. Die heute überall in Europa festzustellende Kritik am angeblichen Zentralismus der EU-Behörden wie auch die zahlreichen Autonomiebestrebungen von Katalonien bis Flandern, Schottland oder der Ost-Ukraine, beflügelten die Idee der regionalen Selbstständigkeit. In Deutschland hängt die Wiederbelebung lokaler und regionaler Kulturen im Namen der Heimat auch mit besonderen deutschen Traditionen der kleinen, überschaubaren politischen Einheiten und mit der Idee der lokalen Selbstverwaltung zusammen, für die der Name des Freiherrn vom Stein steht, wie auch mit dem insbesondere durch die katholische Soziallehre entwickelten Subsidiaritätsprinzip.

Als West- und Mitteldeutschland am Ende des Zweiten Weltkriegs und in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit der Ankunft von mehr als zehn Millionen Flüchtlingen aus den ehemaligen ostdeutschen Provinzen wie auch aus Mittel- und Osteuropa konfrontiert wurden, erwiesen sie sich nur zu oft als eine „kalte Heimat“, um die Formulierung des Historikers Andreas Kossert in seinem 2008 erschienen Buch aufzugreifen. Heutzutage erlebt Deutschland die stürmische Ankunft von Millionen von Kriegsflüchtlingen und Heimatvertriebenen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak oder Eritrea, die bei uns eine neue Heimat suchen. Diese Entwicklung geht weit über das hinaus, was Deutschland mit den Flüchtlingen aus der DDR, den Spätaussiedlern und den Kriegsflüchtlingen aus dem Balkan zu bewältigen hatte. Werden Deutschland und Europa auf der Höhe dieser neuen Herausforderung sein? Eine Antwort auf diese Frage hängt nicht nur von den staatlichen und europäischen Institutionen ab, sondern auch und vor allem von dem persönlichen Engagement eines jeden von uns. Nur unter dieser Voraussetzung wird es möglich sein, dass Deutschland und Europa zu einer neuen Heimat für die Menschen werden, die bei uns Zuflucht suchen.

Etienne François
Professor Dr. Etienne François ist der Begründer des Centre Marc Bloch in Berlin und war bis zu seiner Emeritierung 2008 Professor für Neuere Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut und am Frankreich-Zentrum der Freien Universität Berlin. Zusammen mit Mit Uwe Puschner ist François Herausgeber von: "Erinnerungstage – Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart". (C.H. Beck 2010). www.cmb.hu-berlin.de

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