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Titelthema

Ein künstliches Paradies

Titelthema - Ein künstliches Paradies
Kein Massentourismus, keine feinen Sandstrände, dafür enge Gassen, Maulesel und ein Hauch vom echten Griechenland. © Dagmar Schwelle/laif

Hydra bildet das Ideal einer griechischen Insel. Doch der Preis, der für die Vollkommenheit dieses Erhaltungszustands zu zahlen ist, ist hoch.

Martin Mosebach01.08.2019

Hydra – ein Name, der im Griechischen nach Wasser klingt, und dabei ist es gerade der Mangel an Wasser, der diese Insel im Saronischen Golf charakterisiert. In einer Landschaft, in der jeder Quadratmeter von Geschichte durchtränkt ist, war Hydra lange unbesiedelt; hier finden sich keine Reste von Tempeln oder Theatern. Ein lang gestreckter verkarsteter Felsen, vor dem Peloponnes gelegen, menschenfeindlich, unfruchtbar, nur im Schein von Morgen- und Abendsonne rosig-sinnlich erscheinend. Wer mit dem Boot an der hydriotischen Küste entlangfährt, entdeckt kaum eine Bucht zwischen den splittrigen steilen Gesteinsmassen, die gestatten würde, an Land zu gehen. Und dann die Verblüffung: Es ist, als ob die Stachelschale einer exotischen Frucht aufplatzt – so öffnet sich das Wüstengebirge und lässt eine Stadt aus sich herauswachsen. Von einem natürlichen Hafen steigt sie amphitheatralisch in die Höhe, bedeckt die Hänge in dichtester Verklammerung, eine riesenhafte kubistische Skulptur.

Diese Stadt, die von Urbanisten und Architekten als eines der schönsten Beispiele für eine an einen Hang geschmiegte, in Treppen aufsteigende menschliche Siedlung angesehen wird, in ihrer Vollkommenheit alterslos, wie es nur das Uralte, das Archaische sein kann, ist eben keineswegs uralt, sondern erst im achtzehnten Jahrhundert als Stadt entstanden. Aus ihrer Heimat vertriebene Albaner waren hier dank Privilegien unter türkischer Zwingherrschaft zu erfolgreichen Reedern und Kaufleuten geworden. Hydra trieb Handel bis weit ins westliche Mittelmeer und sogar bis zum Atlantik, eine Verbindungsstation zwischen Ost und West war dieses Städtchen zu der Zeit, als Athen und Piräus zu kümmerlichen Dörfern herabgesunken waren.

Nach dem Befreiungskampf der Griechen von 1821 wurde Piräus zum wichtigsten griechischen Hafen und die Insel sank zu wirtschaftlicher Bedeutungslosigkeit herab. Es ist die ökonomische Katastrophe, die über die Insel hereingebrochen ist, die ihr die Schönheit gerettet hat – in dieser Hinsicht ist das winzige Hydra mit dem großen Wunderwerk Venedig vergleichbar. Aus einer Stadt, die bis zum Zweiten Weltkrieg immerhin um die 20.000 Bürger hatte, wurde ein Dorf mit 1500, die im Sommer auf 3000 anschwellen, wenn die vielen zu Ferienresidenzen gewordenen Häuser sich mit ausländischen Bewohnern füllen.

Autos sind auf der Insel verboten und könnten ohnehin durch die engen Treppenstraßen nicht fahren; den Transport übernehmen die Maulesel, die auf ihren geduldigen Rücken Koffer und Kühlschränke die Berge hinan befördern. In Hydra regiert ein strenger Denkmalschutz – nichts darf das Aussehen der Stadt verändern. Swimmingpools und Fernsehantennen sind verboten, und obwohl die Neu-Hydrioten meist sehr wohlhabend sind, müssen sie auf die Helikopter verzichten, welche die Pest von Saint Tropez und Capri geworden sind. Es gibt keine großen Hotels und keine langen Strände, ein Sonnenbad muss man auf der eigenen Terrasse nehmen. Wer hierher kommt sucht die Stille und die Zeit, um dicke Bücher zu lesen und sollte im Herbst jedenfalls, wenn es besonders schön ist auf der Insel, auch selbst viel Zeit haben, denn bei agitiertem Meer kann man auch einmal mehrere Tage dort festsitzen.

Gassen voll bruchloser Harmonie
Was ist eigentlich gemeint, wenn viele Menschen heute nach dem „Authentischen“ suchen? Ist nicht alles, was man sich unter einer griechischen Insel erträumt, in Hydra auf das schönste bewahrt? Aber es scheint, das in unserer Zeit für die Schönheit ein hoher Preis zu bezahlen ist, und das betrifft keineswegs nur das Finanzielle – das auch, aber noch weit mehr. Schönheit und Ruhe sind in Europa offenbar nur noch in Schutzzonen zu haben, deren hohe Zäune mit Gesetzen und Geld aufrechterhalten werden müssen. Wer durch die unerschöpfliche Vielgestaltigkeit der hydriotischen Gassen in ihrer bruchlosen Harmonie streift und hin und wieder einem Maulesel ausweichen muss, der könnte meinen, eine Zeitreise unternommen zu haben. Aber es hilft nichts: Die Vollkommenheit dieses Erhaltungszustands ist ebenso artifiziell wie ein hochtechnisiertes Kreuzfahrtschiff – die Pointe liegt nur darin, dass in der hydriotischen Schönheit vor allem Leute Ferien machen, die durch ihren ökonomischen Erfolg dafür gesorgt haben, dass weite Teile Europas eben nicht mehr so aussehen wie Hydra.

Martin Mosebach

Martin Mosebach ist Autor zahlreicher Romane und Essaybände. Zu seinen wichtigsten Titeln gehören „Westend“ (1992), „Der Nebelfürst“ (2001), „Schöne Literatur. Essays“ (2005) und „Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind“ (2007). Zuletzt erschienen „Die 21: Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer“ (Rowohlt Buchverlag, 2018). Martin Mosebach ist u.a. Träger des Kleist-Preises (2002) und des Georg-Büchner-Preises (2007). 

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