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Mit Eckhard Henscheid am Wasserhäuschen

Titelthema - Mit Eckhard Henscheid am Wasserhäuschen
Frankfurt: Das Nox in Sachsenhausen ist das vielleicht schönste Wasserhäuschen Frankfurts. Einen solch pittoresken Ort hätte Eckhard Henscheid niemals für das Elendstrinken ausgewählt © carlitho agency

Eine Gruppe Schriftsteller trifft sich zum „Elendstrinken“ an einem Frankfurter Kiosk und lärmt, bis die Polizei kommt. Erinnerungen von Martin Mosebach

Martin Mosebach01.07.2023

Der aus Amberg stammende Schriftsteller Eckhard Henscheid hat viele Jahre in Frankfurt am Main gelebt und dort seine berühmt gewordenen Romane geschrieben, die in der Zeit ihres Erscheinens eine unerhörte Provokation gegen den „sozialdemokratischen Realismus“ der allmählich verscheidenden Gruppe 47 darstellten. Die Vollidioten, Geht in Ordnung – sowieso – genau, Dolce Madonna Bionda, Die Mätresse des Bischofs und Maria Schnee gehören seitdem zu den Werken der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die dauerhaft von ihrer Zeit zeugen werden.


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Henscheid war ein galliges Temperament, von schneidender Schärfe und vernichtendem Witz, den er sich viel kosten ließ, wenn ihn Beleidigungsklagen erreichten. Zurücknehmen gab es nicht, hatte er doch die Wahrheit gesprochen. Aber wenn er sich vom Schreibtisch erhob, war er ein überaus geselliger Mensch. Man könnte sogar sagen, wenn man seine Fähigkeit betrachtet, Menschen zusammenzubringen, ein soziales Genie. Im Alter hat er Frankfurt verlassen und ist in seine Geburtsstadt zurückgekehrt – was er dort treibt, ist dem Autor dieser Zeilen unbekannt; umso mehr sind Henscheids Erfindungen auf dem Gebiet der zwanglosen Geselligkeit allen unvergesslich geblieben, die daran teilgenommen haben. Es handelte sich vor allem um das „Elendstrinken“.

Gedränge vor der Luke

Henscheid bediente sich für die Einladungen dazu der Post, mit kunstvoll ausgesuchten Postkarten, auf denen Rehkitze oder Maiglöckchen abgebildet waren, vermutlich aus einer Apotheke – der Text war aber nicht lieblich, sondern barsch und ordnete an, der Empfänger möge sich an einem bestimmten Tag zur bestimmten Stunde vor einem Wasserhäuschen, einem Büdchen, einem Kiosk, kurzum in Bornheim einfinden. Dieses Wasserhäuschen lag niemals vereinsamt da. Ein fester Kreis von Trinkern pflegte hier die Kunst der Konversation, kleine Schnapsfläschchen und große Bierflaschen wurden aus dem Schalter herausgereicht – das wirkte, als befinde man sich im dämmerigen Innern des Ladens in einer sicheren Verbarrikadierung und freue sich darüber, einen zu engen Kontakt mit der Kundschaft draußen vermeiden zu können.

Die kleine Öffnung über dem Ladentisch hatte etwas von der Luke, durch die Gefangene ihren Blechnapf gereicht bekommen, sie war so niedrig, dass der Kopf des Kioskbetreibers verborgen blieb. Dieses Arrangement mochte angesichts einer gelegentlich wohl unruhigen und lärmenden Kundschaft nützlich sein. Man drückte sich um Nachschub drängelnd vor dem Loch herum, als würden dort Almosen ausgeteilt.

Suchen und Finden des Authentischen

Wie hatte Henscheid dieses Institut gefunden? Bei seiner Auswahl herrschte keine Willkür, er verfuhr nach strengen ästhetischen Prinzipien. Für das Elendstrinken kam kein pittoresker Ort infrage, keinesfalls ein Wasserhäuschen aus einem Fotobildband. Es ging ihm um das unübertrefflich trostlose Grau, an einen anderen Ort hätte er seine schreibenden Freunde nicht bestellt. Seine Miene, mit der er die Eintreffenden empfing, war von gewohnt gelassenem Hochmut – ein einverständliches Grinsen über den Un-Ort war verpönt. Man könnte sagen, dass er, der jeden falschen Ton und jedes verbrauchte Wort in seiner Sprachkritik („Dummdeutsch“) unbarmherzig verfolgte, mit dem Elendstrinken vielleicht doch einer Feuilleton-Mode entsprach – der Suche nach dem, was noch nicht verbraucht, benutzt, ausgesogen war, nach dem Nicht-Korrumpierten, dem – jetzt kommt das Wort, das er hasste – Authentischen.

Aber man muss auch bei diesem strengen Verdacht bewundern, wie sehr es ihm gelungen war, die „Authentizitätsfalle“ dann doch zu unterlaufen; nein, dies Wasserhäuschen seiner Wahl würde niemals und unter keinem Gesichtspunkt jemals chic werden können. Allenfalls das nahegelegene Urinal besaß Chancen auf Originalität: Es gehörte zu einem alten Straßenbahndepot und war im Tudor-Stil mit falschem Fachwerk und geschnitzter Giebelbekrönung errichtet worden, ungezählte Straßenbahnschaffner hatten dort über zwei Weltkriege hin ihre Blasen geleert. Längst steht es unter Denkmalschutz, ist zum Schmuckstück restauriert worden und dient nun weniger anrüchigen Zwecken.

Männer mit Flaschen in der Hand, in geräuschvoller Unterhaltung in einem Haufen vor einem Wasserhäuschen stehend wirken auf Frauen, die sich dahindurch einen Weg bahnen müssen, nicht sehr angenehm – insofern gehörte es zum Gewinn für Henscheids Gäste, ein wenig von der Verachtung erfahren zu dürfen, die dem üblichen Trinkerkreis zuteilwird; diese Stammkundschaft, sonst selbst mitteilungsfreudig, suchte zunächst Verbindung zu den Neuen, erkannte dann, dass die irgendwie zusammengehörten, und verzog sich an die Ränder.

Schwarzer Bass löst Tumult aus

Es war schon so: Die Henscheidsche Einladung hatte, für einen Abend jedenfalls, eine gewisse Verdrängung der Indigenen zur Folge. Wer dies als Schönheitsfehler empfinden will, der hat dafür Argumente – es handelt sich hier im Grunde um dasselbe Phänomen wie bei Volksfesten, die von Touristen entdeckt werden und ihren Charakter verlieren, aber im Henscheidschen Fall war jedenfalls keine dauerhafte Enteignung damit verbunden. Die meisten, die zu diesen Zusammenkünften kamen, die übrigens nicht nur an warmen Sommerabenden, sondern auch an regnerischen Herbst- und frostigen Wintertagen stattfanden, waren es nicht gewohnt, auf der Straße mit Flasche in der Hand herumzustehen; solche dreiste Inbesitznahme des öffentlichen Raumes war für sie ein Privileg der Leute, die sich um soziale Respektabilität nicht mehr kümmerten.

Für einen Abend sollte man nun selbst zu denen gehören, die sich um die öffentliche Ordnung nicht scherten. Es wurde lauter, während die Sonne sank, damit war ein besonderer Genuss verbunden. Henscheid war ein großer Musikkenner und pflegte eine Freundschaft mit einem Sänger, der zwar niemals auf einer Opernbühne gestanden hatte, aber einen mächtigen Bass, einen sogenannten „schwarzen Bass“ hatte. Es war nie mit Überredung verbunden, ihn zum Singen zu bewegen. Als er in einer Johannisnacht die Partie des Hans Sachs aus den Meistersingern anstimmte, kam es zu Szenen, die an den Tumult im zweiten Akt dieser Oper erinnerten: Fenster öffneten sich, es wurde geschimpft und „Ruhe“ gebrüllt, und zur Freude der Versammelten kam schließlich sogar die Polizei.

Als Henscheid wegzog, ist es noch einmal zu Versuchen gekommen, die von ihm gestiftete Tradition des Elendstrinkens fortzuführen, aber ohne ihn ist nichts Rechtes mehr daraus geworden.

Martin Mosebach

Martin Mosebach ist Autor zahlreicher Romane und Essaybände. Zu seinen wichtigsten Titeln gehören „Westend“ (1992), „Der Nebelfürst“ (2001), „Schöne Literatur. Essays“ (2005) und „Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind“ (2007). Zuletzt erschienen „Die 21: Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer“ (Rowohlt Buchverlag, 2018). Martin Mosebach ist u.a. Träger des Kleist-Preises (2002) und des Georg-Büchner-Preises (2007). 

martin-mosebach.de

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