Anthropozän
Die Umformung der Erde
Wissenschaftler wollen ein neues Erdzeitalter ausrufen – das Anthropozän. Leben wir nicht längst darin?
Nun ist es offiziell: die Anthropocene Working Group (AWG), ein Gremium der International Union for Geological Sciences (IUGS) hat am 11. Juli 2023 vorgeschlagen, einen neuen erdgeschichtlichen Abschnitt namens Anthropozän einzuführen. Auf einer weiteren Konferenz in Südkorea im August 2024 will die IUGS definitiv über diesen Vorschlag abstimmen. Wird er angenommen, so gilt offiziell, dass die Menschheit seit dem Jahr 1950 nicht mehr im Holozän, sondern im Anthropozän lebt.
Der Begriff setzt sich aus den griechischen Wörtern für Mensch (ánthropos) und neu (kainós) zusammen und schreibt die Terminologie der bisherigen geologischen Stufen der so genannten Erdneuzeit seit etwa 66 Millionen Jahren fort.
Was hat es damit auf sich? Der Mensch kann sich weltgeschichtlich und naturgeschichtlich verorten. Die Weltgeschichte im engeren Sinne beginnt mit den ersten Hochkulturen vor circa 6000 Jahren und entwickelt sich entlang der Zeitalter Antike, Mittelalter und Neuzeit. Was davor kommt, heißt Vor- (Bronzezeit, Jungsteinzeit) und Frühgeschichte. Aber diese Menschenzeit ist naturgeschichtlich eingebettet in die geologische Tiefenzeit (deep time), die sich nicht in Jahrhunderten oder Jahrtausenden vollzieht, sondern in Jahrmillionen und -milliarden. Periodisiert wird sie nach massiven naturgeschichtlichen Einschnitten, durch die Klima, Fauna und Flora umgewälzt werden.
Das wohl bekannteste Beispiel für einen solchen Einschnitt ist der Einschlag des Chicxulub-Asteroiden vor eben 66 Millionen Jahren, der die Dinosaurier aussterben ließ; andere Beispiele sind die beginnende Vereisung von Antarktika vor 33 Millionen Jahren, die mit einem globalen "Faunenschnitt" verbunden war, das Zufrieren auch der Arktis vor 2,6 Millionen Jahren und schließlich der große Erwärmungsschub vor 11.700 Jahren, mit dem – aus bislang nicht vollständig geklärter Ursache – die letzte Kaltzeit mit Gletschern bis nach Mitteleuropa endet und das Holozän beginnt: Homo Sapiens verlässt die Höhlen und wird dank eines warmen, feuchten Klimas sesshaft; es beginnt die Zivilisation und damit die Weltgeschichte im engeren Sinne.
Nun soll das Holozän also abgelöst worden sein. Woran wird das festgemacht? Anhand gut erhaltener Sedimente im Erdboden zeigt sich ab etwa dem Jahr 1950 ein stark erhöhter Anteil von Plutonium-239 und -240. Diese Spur koinzidiert mit den damals einsetzenden massenhaften Tests von Atomwaffen. Besonders gut nachweisen lässt sich diese Konzentration am vom Menschen relativ unberührten Crawford Lake in der kanadischen Provinz Ontario. Ein Sedimentstück vom Boden des Crawford Lake hat nun die AWG in Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt in Berlin bei einer virtuellen Pressekonferenz als Global Stratigrafic Section and Point (GSSP) vorgeschlagen; von dort aus soll symbolisch die neue Erdepoche ausgegangen sein.
Die Idee, dass der Mensch zum geologischen Faktor geworden sei, ist nicht neu. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt man den Menschen als "biologischen Agenten" oder "geologischen Faktor" zu beschreiben. Der Begriff "Anthropozoic" lässt sich erstmals 1854 bei Thomas Jenkyn nachweisen, popularisiert wird er 1873 als "Era Antropozoica" durch Antonio Stoppani. 1922 spricht der russische Geologe Alexei Pawlow erstmals vom "Anthropogen" oder "Anthropozän".
All diese frühen Überlegungen beziehen sich freilich auf die Spuren, die der Mensch durch Waldrodung, Kanalisation, Berg- und Städtebau in der Landschaft hinterlassen hat. Die unsichtbaren, aber viel weitreichenderen atmosphärischen Spuren geraten erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts in den Fokus, und so ist der Anthropozändiskurs inhärenter Teil des um 1950 einsetzenden Umweltdiskurses und des Klimawandeldiskurses, der mit dem Bericht des Club of Rome 1972 an Fahrt aufnimmt.
Der Anfang dieses Jahres verstorbene australische Klimawissenschaftler Will Steffen, ein Pionier des Anthropozändiskurses, prägte für die Epoche seit 1950 den Begriff der "Great Acceleration", der "Großen Beschleunigung". Er zeigt an, dass die Intensität der menschlichen Eingriffe in die Bio- und Geosphäre seitdem exponentiell zunimmt: Die Gesamtmasse an Menschen und Nutztieren überwiegt den an Wildtieren, desgleichen der an menschengenutzten Flächen den an naturbelassenen. Fast überall auf und in der Erde lässt sich menschliches Eingreifen nachweisen, sei es durch Bodenbeläge oder Mikroplastik. "Einen empirisch gesicherten Bruch", schreibt der Anthropologe Christoph Antweiler, "bildete der weltweite Trendwechsel von Bausteinen zu Beton bei Gebäuden seit etwa 1950 und die plötzliche Zunahme von Asphalt als Straßenbelag ab 1960."
Der heute am meisten diskutierte Faktor ist sicherlich die atmosphärische CO2-Konzentration, die seit etwa 1780, koinzident zur Industrialisierung, von etwa 270 auf 420 ppm (parts per million) angestiegen ist und voraussichtlich weiter ansteigen wird. Aufgrund dessen haben der Meteorologe Paul Crutzen (1933-2021) und der Meeresbiologe Eugene Stoermer (1934-2012), die den Begriff "Anthropozän" im Jahr 2000 offiziell eingeführt haben, dafür plädiert, das Anthropozän im Jahr 1784 beginnen zu lassen.
Die Datierung auf 1950 hingegen entspricht sowohl dem Paradigma der "Großen Beschleunigung" als auch der Aussage von Jan Zalasiewicz, bis 2020 Vorsitzender der AWG, am 16. Juli 1945 um 11:29 Uhr Weltzeit habe eine neue Epoche begonnen; in diesem Augenblick wurde in Alamogordo die erste Atombombe gezündet (woran gerade erst Christopher Nolans Film Oppenheimer bildgewaltig erinnert hat). Anders als der Anstieg des CO2 zeigt sich der Anstieg von Plutonium in den Sedimenten sprungartig und plötzlich. Weitere sedimentierte Elemente, die eine Datierung auf 1950 stützen, sind Flugasche und Stickstoff, deren erhöhtes Vorkommen von der seit 1950 stark zunehmenden Verbrennung fossiler Energieträger herrührt.
Ist es also ausgemacht, dass wir im Anthropozän leben? Die Frage hat auch eine philosophische Dimension, denn die Benennung einer Erdepoche nach dem Menschen bedeutete einerseits die Geologisierung der Menschheitsgeschichte und andererseits die Anthropisierung der Naturgeschichte. Man kann fragen, ob die Naturgeschichte nicht, seit es den Menschen gibt, eine Menschengeschichte ist und ob umgekehrt die Menschengeschichte nicht durch die Natur – ob von ihm beeinflusst oder nicht – determiniert wird. Auch in der Geologie ist das Konzept "Anthropozän" umstritten, und es scheint gut möglich, dass die IUGS im kommenden Jahr die Ausrufung eines neuen Erdabschnitts ablehnen wird.
Fest aber steht, dass sich die wechselseitige Beeinflussung von Mensch und Natur im Zeichen des anthropogenen Klimawandels und der Kernenergie anders darstellen. War das Risiko, dass den Menschen "der Himmel auf den Kopf falle", früher eine abstrakte und mythische Idee, so ist sie heute zwar nicht vorhersagbar, aber berechenbar. Und war umgekehrt früher der Einfluss des Menschen auf die Bio- und Geosphäre etwa durch Ausrottung von Flora und Fauna nicht für alle Erdbewohner gleichermaßen greifbar, so ist er in der globalisierten Welt von heute vom absterbenden Korallenriff bis zum Great Pacific Garbage Patch oder den sich gerade häufenden Wetteranomalien selbst in Europa nicht mehr zu übersehen. Die Welt als Global Village und als Raumschiff Erde – diese dominante und prekäre Doppelgestalt unserer irdischen Existenz wird schon länger und mit Grund durch den Terminus "Anthropozän" ausgedrückt.
Konstantin Sakkas ist studierter Philosoph und Historiker und arbeitet als unabhängiger Wissenschaftler und Publizist für zahlreiche überregionale Medien. Er lebt in Berlin.
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