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Der Anfang vom Ende

Forum - Der Anfang vom Ende
Die alliierte Invasion in der Normandie: Landungsschiffe, die Mitte Juni 1944 bei Ebbe am „Omaha Beach“ Fracht an Land bringen. © Wikimedia Commons/Public Domain

Vor 80 Jahren begannen die Durchbrüche der Alliierten im Westen und im Osten. Sie leiteten die Endphase des Zweiten Weltkrieges in Europa ein.

Konstantin Sakkas01.06.2024

Gold, Juno, Sword, Omaha, Utah – die Codenamen der fünf nordfranzösischen Strände, an denen ab dem Morgengrauen des 6. Juni 1944 binnen eines Tages über 150.000 Soldaten der Westalliierten an Land gingen, sind zur Legende geworden. Zum 80. Mal jährt sich im Juni die Landung in der Normandie. Erst sie – nicht die schweren Niederlagen der deutschen Wehrmacht zuvor – war, wie der Historiker Klaus-Jürgen Bremm schreibt, „die entscheidende Schlacht des Krieges“. Ohne die „zweite Front“ im Westen hätte der Zweite Weltkrieg in Europa wohl noch länger gedauert und wäre es fraglich, ob es zu jener anderen großen Offensive gekommen wäre, die ebenfalls im Juni vor 80 Jahren stattfand: Operation Bagration, der sowjetische Vorstoß durch Weißrussland bis zur Weichsel.


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Unbekannter Durchbruch im Osten

Operation Neptune, das eigentliche Landungsunternehmen, war die größte amphibische Operation der Weltgeschichte, Bagration die schwerste Niederlage der deutschen Militärgeschichte. Doch das Erinnern an die beiden Operationen ist höchst ungleich: Ist D-Day seit Jahrzehnten fester Bestandteil der westeuropäischen und west-, später gesamtdeutschen Erinnerungskultur, so ist der Name „Bagration“ nur wenigen ein Begriff. Selbst in der DDR erinnerte man vor allem an Stalingrad, die Schlacht im Kursker Bogen und die Seelower Höhen, kaum aber an die sowjetische Sommeroffensive 1944, obwohl sie erst das Tor nach Mitteleuropa aufstieß. Heute scheint Bagration aus dem kollektiven deutschen Gedächtnis vollends verschwunden, die wenigsten wissen mit dem Codenamen etwas anzufangen; D-Day hingegen ist durch die offizielle Gedenkkultur, insbesondere aber durch seine filmische Verarbeitung von The Longest Day (1962) bis zu Saving Private Ryan (1998) unsterblich geworden. Beide Operationen waren auf der Konferenz von Teheran im November 1943 beschlossen worden. Seit Sommer 1943 befand sich das Deutsche Reich in der Defensive, die Hauptlast des Kampfes hingegen trug seit 1941 die Sowjetunion. Verzweifelt drängte Josef Stalin auf die Eröffnung einer zweiten Front im Westen. Winston Churchill bevorzugte eine Landung im Mittelmeerraum, insbesondere, weil dies die Chance bot, vor der Roten Armee nach Mitteleuropa zu gelangen – der Kalte Krieg warf seine Schatten voraus.

Doch unter dem Druck Stalins und Roosevelts fiel die Entscheidung für eine Landung in Nordfrankeich. Sie traf die Wehrmacht nicht unvorbereitet: Bereits im August 1942 hatte es eine Probelandung kanadischer Truppen in Dieppe gegeben, und Hitler erwartete ein großes Landungsunternehmen geradezu in der Hoffnung, den Alliierten dann eine große Entscheidungsschlacht liefern zu können.

Die Schlacht tobte den ganzen Juli hindurch

Als am 6. Juni 1944, einem Dienstag, 5000 Schiffe vor der Küste der Normandie auftauchten, war die Überraschung trotzdem groß. Das deutsche Militär rechnete mit einer Landung am Pas de Calais, der zum einen weiter östlich, zum anderen näher an England und damit logistisch günstiger lag. Auch die Alliierten waren nicht vollends siegessicher, den Tagesbefehl für den Fall eines Fehlschlags hatte General Eisenhower bereits geschrieben.

Doch die Landung verlief erfolgreich, anfangs aber nicht im geplanten Tempo und unter schweren Verlusten. Mithilfe zweier künstlicher Häfen und zahlloser Transportschiffe und dank der absoluten Luftüberlegenheit der Alliierten konnte die eigentliche Landung bis 30. Juni abgeschlossen werden. Zugute kam den Alliierten am D-Day auch, dass die deutschen Panzerreserven auf Befehl Hitlers vorerst zurückgehalten wurden und dass es an Treibstoff mangelte. Am 26. Juni fiel Cherbourg und damit der erste große Hafen. Den ganzen Juli hindurch tobte die Schlacht in der Normandie, bis die Alliierten Anfang August in der Operation Cobra aus dem Brückenkopf bei Avranches ausbrechen, zur Seine vorstoßen und anschließend die Deutschen bei Falaise einkesseln. Am 25. August wurde Paris befreit, drei Tage später Marseille, nachdem Amerikaner und freifranzösische Kräfte Mitte August auch an der Côte d’Azur gelandet waren (Operation Dragoon). Frankreich war für das Dritte Reich verloren, „Overlord“ abgeschlossen. Es folgten die Schlachten um Belgien und um das Rheinland.

Zur selben Zeit vollzogen sich im Osten Europas Kämpfe von ähnlich großem Ausmaß. Am 22. Juni, dem dritten Jahrestag des deutschen Überfalls, startete das sowjetische Oberkommando die Operation Bagration. Benannt nach dem russischen Feldherrn der Napoleonischen Kriege, der sich bei Borodino 1812 dem französischen Vormarsch entgegengestellt hatte, wurde Bagration zum Musterbeispiel der „tiefen Operation“. Die von Wladimir Triandafillow entwickelte Militärdoktrin sah die Massierung von Truppen am schwächsten Punkt der gegnerischen Front vor, um sie von dort aus aufzureißen; das Gegenstück zum „Blitzkrieg“.

Weißrussland bot hierfür ideale Bedingungen. Denn nach der Aufhebung der Blockade von Leningrad im Januar und der Rückeroberung der Ostukraine Anfang des Jahres erwartete die Wehrmacht an diesen Abschnitten weitere Vorstöße; der Frontvorsprung der Heeresgruppe Mitte in Weißrussland war deshalb nur schwach besetzt.

Gerade hier griffen im Juni vier sowjetische Fronten (Heeresgruppen) unter der Gesamtkoordination der Marschälle Wassilewski und Schukow an. Nahziele waren die Städte Witebsk und Orscha, Mogilew und Bobruisk. Alle vier Städte waren von Hitler zu festen Plätzen erklärt worden; sie mussten rasch aufgegeben werden. Binnen Kurzem war hier „mehr Loch als Front“, wie Hitler sich ausdrückte. Am 4. Juli wurde Minsk befreit, und Ende Juli, etwa zeitgleich zum Ausbruch der Westalliierten aus dem NormandieBrückenkopf, hatte die UdSSR den deutschen Frontverlauf wieder auf den Stand von 1939 zurückgedrängt. Schon nach wenigen Tagen war der überforderte Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte, Feldmarschall Busch, entlassen worden; ihm folgte Walter Model, der zuvor schon die Heeresgruppen Nord und Nordukraine stabilisiert hatte und als „Frontfeuerwehr“ galt. In der Panzerschlacht bei Warschau Mitte August brachte Model schließlich auch den sowjetischen Vormarsch zum Halten und wurde anschließend nach Nordfrankreich abberufen.

Weshalb griff die Rote Armee nicht ein?

Bagration kostete die Deutschen 28 Divisionen und rund 400.000 Mann, wobei, wie bei fast allen Großoperationen des Zweiten Weltkrieges, bis heute Unsicherheit über die tatsächlichen Zahlen (auf beiden Seiten) herrscht. Quasi im Schatten der Offensive in Weißrussland stieß die Rote Armee im Juli auf Galizien, im August auf Rumänien und Moldawien vor; infolgedessen kam es in Rumänien zum Staatsreich gegen den faschistischen Diktator Marschall Antonescu, woraufhin das Land der Anti-Hitler-Koalition beitrat.

Bagration gab auch den finalen Ausschlag zur Auslösung des Warschauer Aufstandes. Vom 1. August bis Anfang Oktober führten Polnische Heimatarmee (Armia Krajowa) und Zivilbevölkerung einen verzweifelten Kampf gegen die deutschen Besatzungstruppen. Warum die Rote Armee, obwohl sie im August das Ostufer der Weichsel erreichte, nicht helfend eingriff, wird bis heute kontrovers diskutiert; ihren Vormarsch auf das Reichsgebiet im Norden setzte sie erst im Januar fort. Auch die Vernichtungsstätten der Schoah gerieten durch Bagration in großem Umfang in den alliierten Machtbereich; so wurde Ende Juli 1944 das ehemalige Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek bei Lublin befreit.

Overlord und Bagration markieren den Anfang vom Ende des Krieges in Europa. Die Niederlagen in Nordfrankreich und Weißrussland brachten Wehrmacht und deutsche Kriegswirtschaft an den Rand ihrer Ressourcen und läuteten das Ende der NS-Gewaltherrschaft in Europa ein. Während der beiden Großoffensiven ging das Morden in Auschwitz unvermindert weiter; die sogenannte Ungarn-Aktion mit rund 400.000 unmittelbar ermordeten Juden etwa lief bis Anfang Juli 1944. Dass sich zur selben Zeit der militärische deutsche Widerstand um Graf Stauffenberg final zum Attentat auf Hitler und zum Staatsstreich entschloss, hatte sicherlich auch mit der nun manifesten Ausweglosigkeit der außenpolitischen Lage zu tun.

Weltgeschichtlich bedeutete die alliierte Doppeloffensive auch den Auftakt zum amerikanischsowjetischen Kondominium über Europa. So wie die exilfranzösische Regierung und das geschwächte Großbritannien nicht in der Lage gewesen waren, Westeuropa ohne Hilfe der USA zu befreien, so hing die Befreiung Osteuropas von der Stärke und Entschlossenheit der UdSSR unter Stalin ab. Und so begann im Juni 1944 auch der Wettlauf der beiden Supermächte nach Mitteleuropa.

Die neoimperialistische russische Aggression unter Wladimir Putin heute mag dazu verleiten, darüber hinwegzusehen, dass auch Millionen sowjetischer, auch russischer Soldaten und Zivilisten ihren Anteil an der Rettung Europas vor Hitler geleistet haben. Doch im Juni vor 80 Jahren waren Witebsk und Bobruisk ebenso Schlachtfeld dieses Befreiungskampfes wie Caen und Saint-Lô und Osteuropa ebenso Schauplatz brutaler deutscher Kriegsverbrechen wie das besetzte Frankreich.

Konstantin  Sakkas

Konstantin Sakkas ist studierter Philosoph und Historiker und arbeitet als unabhängiger Wissenschaftler und Publizist für zahlreiche überregionale Medien. Er lebt in Berlin.