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Titelthema

Kein Anfang bei null

Titelthema - Kein Anfang bei null
Nandi-Holzskulptur Südindien (19./20. Jh.) Der fast lebensgroße Stier ist das Reittier von Hindu-Gott Shiva. Nandis Aufgabe ist es auch, Shivas Tempel zu bewachen. © smb/museum für asiatische kunst/stiftung humboldt forum im berliner schloss/jester blank gbr, uni freiburg/britt shilling

Kolonialkritische Studien gibt es schon seit den 1960ern, aber sie interessierten jahrzehntelang nur wenige Experten.

Andreas Eckert01.09.2021

Eines muss man dem gelernten Politikwissenschaftler und Publizisten Götz Aly neidlos lassen: Er hat ein Händchen dafür, zum richtigen Moment auf dem Buchmarkt präsent zu sein. Aly, bekannt durch provokante und kontrovers diskutierte Studien zum Nationalsozialismus und zu den 68ern, veröffentlichte vor einigen Monaten Das Prachtboot, in dem er die Provenienz eines der Vorzeigeobjekte des Humboldt-Forums kritisch unter die Lupe nimmt. Damit gelang ihm ein echter Medien-Coup. Die bisherige Lesart, das 16 Meter lange, hochseetaugliche und reich verzierte Luf-Boot sei zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf untadelige Weise aus der Südsee in die Bestände des Berliner Ethnologischen Museums gelangt, verweist Aly ins Reich der Legenden. Folgen wir seiner Lesart der Quellen, handelt es sich bei dem Objekt um koloniales Raubgut, das schlicht enteignet und einer gnadenlos dezimierten Inselbevölkerung weggenommen worden sei.


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Wozu denn noch Türen einrennen ...

Die von ihm rekonstruierte Geschichte des Luf-Bootes bettet Aly ein in eine Darstellung der deutschen Kolonialherrschaft in der Südsee, die von Gewalt, Zerstörung und Raub gekennzeichnet war. In einer Reihe von Interviews zum Thema seines Buches behauptet Aly dann, dass sich Historiker mit dem Kolonialismus bisher kaum befasst hätten und die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte bisher noch am Anfang stehe. Wirklich? Es mag sein, dass sich in einer breiteren Öffentlichkeit und in der Politik erst langsam die Erkenntnis durchsetzt, dass Kolonialismus auch für die deutsche Geschichte ein wichtiges Thema sein könnte. An wissenschaftlichen Arbeiten dazu herrscht freilich seit geraumer Zeit kein Mangel. Nicht wenige, die zuletzt dieses inzwischen trendige Thema für sich entdeckt haben, tendieren allerdings dazu, den Neuigkeitswert ihrer Einsichten zu übertreiben und lautstark Türen einzurennen, die bereits weit geöffnet sind.

Dabei hätte regelmäßige Lektüre häufig vor allzu großen Neuentdeckungen geschützt. Neben kolonialapologetischen und relativierenden Studien zum deutschen Kolonialismus begann um 1960 – vor allem in der DDR, deren Historiker privilegierten Zugang zu den in Potsdam archivierten Beständen des Reichskolonialamtes hatten – eine substanzielle Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialherrschaft, in der Gewalt, Rassismus und Willkür der Kolonialherren stark unterstrichen wurden. Aber auch in der Bundesrepublik kam das Thema auf, man denke nur an Helmut Bleys 1968 publizierte kolonialkritische Pionierstudie zu Deutsch-Südwestafrika. Selbst wenn man aus heutiger Sicht einiges an diesen Werken bekritteln mag, so lassen sie an der Tatsache, dass es sich im deutschen Fall keineswegs um einen „Kolonialismus light“ gehandelt hat, keine Zweifel. Das über Jahrzehnte akkumulierte Wissen blieb freilich gleichsam eine Fußnote und nur wenige Spezialisten interessierten sich dafür.

... wenn die bereits weit offen stehen?

Dies änderte sich erst langsam mit der Jahrtausendwende. Wie Sebastian Conrad kürzlich im Merkur noch einmal hervorgehoben hat, mussten koloniale Fragestellungen, um „Einlass in den Kreis der legitimen Fragestellungen zu erhalten, (...) ihre Relevanz gewissermaßen durch den Bezug auf die Gewaltverbrechen des Nationalsozialismus unter Beweis stellen“. Die etwa von Jürgen Zimmerer seinerzeit formulierte provokante These vom Herero-Genozid als Vorläufer des Holocaust und die gegenwärtig so vehement geführten Debatten über die Erinnerungen an Kolonialismus und Shoah sind Ausdruck davon. Daneben hat nicht zuletzt das Humboldt-Forum und damit verbunden die Diskussion über die Restitution von Kunstobjekten das öffentliche Interesse am Thema Kolonialismus befeuert. Diese Konjunktur ist ohne Zweifel zu begrüßen. Aber der zuweilen suggerierte Eindruck, man müsse quasi bei null anfangen, ist schlicht und einfach falsch.


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