Das verkürzte Gymnasium – eine durchwachsene Bilanz
Bildung statt »?Kompetenz?«
Aktuelle Bildungspolitik in Deutschland tut so, als müsse sie Wilhelm von Humboldt unwiderruflich an den Kragen. Folge: Universitäten (siehe „Bologna“) und Gymnasien (siehe „G8“) werden umdefiniert zu Anstalten, deren Zweck die möglichst rasche Abrichtung auf Beruf und Erwerb (vulgo: „employability“) ist.
Bleiben wir beim Gymnasium: Was ist daraus geworden, was soll aus ihm werden? Die Wirtschaft möchte gymnasiale Bildung verzweckt, beschleunigt, tauglich für ein Ranking sowie auf ephemeres Just-in-Time- und Download-Knowledge getrimmt sehen; nicht wenige Eltern wünschen sich ein weichgespültes Gymnasium mit Abitur-Vollkaskoanspruch; eine auf Wählerschaft schielende Politik schließlich will all diese Wünsche zugleich bedienen. Vor allem hat sich die Politik quer durch alle Parteien einem Wettrüsten um immer höhere Abiturienten-, Studier- und Akademikerquoten verschrieben.
Das Ergebnis heißt G8 – achtjähriges Gymnasium. Es soll ein Turbo-Gymnasium sein, das seine Absolventen mit 18 Jahren entlässt – das Ganze auf angeblich höherem Niveau und mit rund eintausend Unterrichtsstunden weniger als zuvor. Mit den Leitlinien einer Schulform, die nicht nur die erfolgreichste, sondern auch im Bildungsverständnis breiteste der Welt wurde, hat diese Vorstellung wenig zu tun. Im Zuge der in mehreren deutschen Ländern obendrein reichlich dilettantisch inszenierten G8-Implementation kamen nämlich nicht nur Fächer wie Geschichte, Kunst oder Musik unter die Räder, auch für schulisches Orchester und Theater finden sich kaum noch freie Nachmittage. Vor allem aber verloren mit dem G8 die Sprachen. So gibt es gymnasiale Klassenstufen in deutschen Ländern, in denen das Fach Deutsch sowie die erste und zweite Fremdsprache in nur noch je drei Stunden pro Woche unterrichtet werden.
Das sind Irrwege. Denn umfassende gymnasiale Bildung muss breit aufgestellt sein und einen übernützlichen Wert haben. Um mit Friedrich Nietzsche zu sprechen: Bildung darf nicht dem Dogma eines möglichst großen Geldgewinns als Zweck von Bildung ausgeliefert werden. Sonst wäre dem Menschen nur so viel Kultur gestattet, wie im Interesse des Erwerbs ist. Die auch in der hohen Schulpolitik verbreitete quasi-souveräne Schnoddrigkeit, breite Allgemeinbildung und umfassendes Allgemeinwissen gleichsam als Sperrmüll abzutun (siehe die Forderung nach „Entrümpelung“ der Lehrpläne) und durch Kompetenztraining ersetzen zu wollen, ist ein Symptom von Halb- oder Unbildung. In dieser Hinsicht gilt wohl Theodor Adornos Urteil von 1959: Für ihn ist das Halbverstandene und das Halbgewusste nicht die Vorstufe von Bildung, sondern ihr Todfeind.
Wir brauchen gerade im Gymnasium wieder einen Primat der Inhalte vor den Methoden. Die im Zuge der G8-Einführung mehr und mehr exekutierte Pädagogik der inhaltsleeren Vermittlung von sogenannten Kompetenzen droht zum Trojanischen Pferd für das Gymnasium zu werden. Vielmehr müsste gerade am Gymnasium der Kanon-Gedanke wieder zum Zuge kommen – dergestalt dass es etwa im Fach Deutsch und in den Fremdsprachen einen Grundbestand an Literaturkenntnis, in Musik und Kunst einen Grundbestand an Werkkenntnis geben muss. Solches kanonisches Wissen ist das Gegenteil von einem Wissen „unter aller Kanone“ und zugleich eine unverzichtbare Kommunikationsgrundlage, denn ein zu schmales Wissen lässt anspruchsvolle Kommunikation erst gar nicht entstehen. Wissen, auch präsentes Wissen hat zudem mit staatsbürgerlicher Mündigkeit zu tun. Von angehenden Eliten mit gymnasialer Bildungsbiographie muss man diese erwarten können.
Freilich kann man es drehen und wenden, wie man will: Die Politik wird den Weg zurück zu einem neunjährigen Gymnasium, das all dies in höherem Maße leisten konnte bzw. wieder leisten könnte, nicht beschreiten. Zu sehr wäre eine Rückkehr zum G9 ein Eingeständnis politischen Versagens. Da mag es noch so viele Belege geben, die das G8 als Flop erkennen lassen: dass die Reifung junger Menschen eben nicht beschleunigt werden kann; dass das „gewonnene“ Jahr mitnichten für einen früheren Einstieg ins Studium genutzt wird; dass die Hochschulen noch über Jahre hinweg unter doppelten Abiturjahrgängen zu ächzen haben.
Eine nun in verschiedenen deutschen Ländern diskutierte Parallelität von G9 und G8 – ein G9 für die Langsameren, ein G8 für die Schnelleren – kann freilich auch nicht die Lösung sein. Eine solche Parallelität käme einer Atomisierung des Gymnasiums gleich. Also müssen unsere Schüler, Eltern und Lehrer durch: durch ein G8, das hoffentlich besser aufgestellt wird, das optimal mit Lehrerstunden zur individuellen Förderung versorgt ist, das wenigstens einen Teil der Woche als gebundene Ganztagsschule geführt wird. Eines allerdings darf nicht geschehen: Dass vor lauter Stressdebatte, die im Zuge der G8-Debatte schier zum Selbstzweck geworden ist, immer noch mehr Unterrichtsstunden und Ansprüche abgespeckt werden. Sonst wird trotz (oder wegen) immer besserer Abiturdurchschnittsnoten aus Studierbefähigung bloße Studierberechtigung.
Bleiben wir beim Gymnasium: Was ist daraus geworden, was soll aus ihm werden? Die Wirtschaft möchte gymnasiale Bildung verzweckt, beschleunigt, tauglich für ein Ranking sowie auf ephemeres Just-in-Time- und Download-Knowledge getrimmt sehen; nicht wenige Eltern wünschen sich ein weichgespültes Gymnasium mit Abitur-Vollkaskoanspruch; eine auf Wählerschaft schielende Politik schließlich will all diese Wünsche zugleich bedienen. Vor allem hat sich die Politik quer durch alle Parteien einem Wettrüsten um immer höhere Abiturienten-, Studier- und Akademikerquoten verschrieben.
Das Ergebnis heißt G8 – achtjähriges Gymnasium. Es soll ein Turbo-Gymnasium sein, das seine Absolventen mit 18 Jahren entlässt – das Ganze auf angeblich höherem Niveau und mit rund eintausend Unterrichtsstunden weniger als zuvor. Mit den Leitlinien einer Schulform, die nicht nur die erfolgreichste, sondern auch im Bildungsverständnis breiteste der Welt wurde, hat diese Vorstellung wenig zu tun. Im Zuge der in mehreren deutschen Ländern obendrein reichlich dilettantisch inszenierten G8-Implementation kamen nämlich nicht nur Fächer wie Geschichte, Kunst oder Musik unter die Räder, auch für schulisches Orchester und Theater finden sich kaum noch freie Nachmittage. Vor allem aber verloren mit dem G8 die Sprachen. So gibt es gymnasiale Klassenstufen in deutschen Ländern, in denen das Fach Deutsch sowie die erste und zweite Fremdsprache in nur noch je drei Stunden pro Woche unterrichtet werden.
Das sind Irrwege. Denn umfassende gymnasiale Bildung muss breit aufgestellt sein und einen übernützlichen Wert haben. Um mit Friedrich Nietzsche zu sprechen: Bildung darf nicht dem Dogma eines möglichst großen Geldgewinns als Zweck von Bildung ausgeliefert werden. Sonst wäre dem Menschen nur so viel Kultur gestattet, wie im Interesse des Erwerbs ist. Die auch in der hohen Schulpolitik verbreitete quasi-souveräne Schnoddrigkeit, breite Allgemeinbildung und umfassendes Allgemeinwissen gleichsam als Sperrmüll abzutun (siehe die Forderung nach „Entrümpelung“ der Lehrpläne) und durch Kompetenztraining ersetzen zu wollen, ist ein Symptom von Halb- oder Unbildung. In dieser Hinsicht gilt wohl Theodor Adornos Urteil von 1959: Für ihn ist das Halbverstandene und das Halbgewusste nicht die Vorstufe von Bildung, sondern ihr Todfeind.
Wir brauchen gerade im Gymnasium wieder einen Primat der Inhalte vor den Methoden. Die im Zuge der G8-Einführung mehr und mehr exekutierte Pädagogik der inhaltsleeren Vermittlung von sogenannten Kompetenzen droht zum Trojanischen Pferd für das Gymnasium zu werden. Vielmehr müsste gerade am Gymnasium der Kanon-Gedanke wieder zum Zuge kommen – dergestalt dass es etwa im Fach Deutsch und in den Fremdsprachen einen Grundbestand an Literaturkenntnis, in Musik und Kunst einen Grundbestand an Werkkenntnis geben muss. Solches kanonisches Wissen ist das Gegenteil von einem Wissen „unter aller Kanone“ und zugleich eine unverzichtbare Kommunikationsgrundlage, denn ein zu schmales Wissen lässt anspruchsvolle Kommunikation erst gar nicht entstehen. Wissen, auch präsentes Wissen hat zudem mit staatsbürgerlicher Mündigkeit zu tun. Von angehenden Eliten mit gymnasialer Bildungsbiographie muss man diese erwarten können.
Freilich kann man es drehen und wenden, wie man will: Die Politik wird den Weg zurück zu einem neunjährigen Gymnasium, das all dies in höherem Maße leisten konnte bzw. wieder leisten könnte, nicht beschreiten. Zu sehr wäre eine Rückkehr zum G9 ein Eingeständnis politischen Versagens. Da mag es noch so viele Belege geben, die das G8 als Flop erkennen lassen: dass die Reifung junger Menschen eben nicht beschleunigt werden kann; dass das „gewonnene“ Jahr mitnichten für einen früheren Einstieg ins Studium genutzt wird; dass die Hochschulen noch über Jahre hinweg unter doppelten Abiturjahrgängen zu ächzen haben.
Eine nun in verschiedenen deutschen Ländern diskutierte Parallelität von G9 und G8 – ein G9 für die Langsameren, ein G8 für die Schnelleren – kann freilich auch nicht die Lösung sein. Eine solche Parallelität käme einer Atomisierung des Gymnasiums gleich. Also müssen unsere Schüler, Eltern und Lehrer durch: durch ein G8, das hoffentlich besser aufgestellt wird, das optimal mit Lehrerstunden zur individuellen Förderung versorgt ist, das wenigstens einen Teil der Woche als gebundene Ganztagsschule geführt wird. Eines allerdings darf nicht geschehen: Dass vor lauter Stressdebatte, die im Zuge der G8-Debatte schier zum Selbstzweck geworden ist, immer noch mehr Unterrichtsstunden und Ansprüche abgespeckt werden. Sonst wird trotz (oder wegen) immer besserer Abiturdurchschnittsnoten aus Studierbefähigung bloße Studierberechtigung.
Josef Kraus war Lehrer und Schulleiter und von 1987 bis 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Er hat mehrere Bücher zum Thema Bildung verfasst, zuletzt „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt. Und was Eltern jetzt wissen müssen“, (Herbig Verlag, 2017) und „50 Jahre Umerziehung: Die 68er und ihre Hinterlassenschaften“, (Manuscriptum, 2018). lehrerverband.de
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