Bonn
Rotary und die Wiedervereinigung
Über die beeindruckende Gründungswelle und die große Dynamik rotarischer Clubs in den fünf östlichen Bundesländern berichtete Governorin Claudia Mayer bei der gemeinsamen Veranstaltung der Bonner Clubs zu "35 Jahre Wiedervereinigung".
Die elf Clubs der Bonner Region, die seit über 50 Jahren in einem Koordinierungsausschuss miteinander verbunden sind, kommen alljährlich zu einer gemeinsamen Veranstaltung zusammen. In diesem Jahr hatte der RC Bonn die Federführung. Traditionsgemäß wird ein prominenter Redner eingeladen. Diesmal war es Matthias Gehler, Pressesprecher der letzten – und einzigen frei gewählten – DDR-Regierung. Er diskutierte im 35. Jahr der Wiedervereinigung mit dem Präsidenten des Hauses der Geschichte in Bonn, Harald Biermann, wie es um das Zusammenwachsen bestellt ist.
Governorin Claudia Mayer nahm dies zum Anlass, auf die Entwicklung des rotarischen Lebens in den fünf östlichen Bundesländern zurückzublicken. Hier ihr Grußwort:
Heute feiern wir zwei bedeutende Jubiläen: 35 Jahre Wiedervereinigung Deutschlands und die Gründung der Rotary Clubs in den neuen Bundesländern nach der Wende. Diese Meilensteine stehen für den Mut, die Zusammenarbeit und den Willen, Brücken zwischen Ost und West zu bauen. Rotary hat sich seit den ersten Clubgründungen 1990 als eine Gemeinschaft bewährt, die Menschen unabhängig von Herkunft und Lebensentwürfen zusammenführt. Die Wiedervereinigung war nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich ein Neuanfang, bei dem Rotary eine zentrale Rolle spielte, um Werte wie Freundschaft, Dienstbereitschaft und gegenseitige Unterstützung zu fördern.
Rotary in den neuen Bundesländern begann mit einer beeindruckenden Gründungswelle: Bereits im ersten Jahr nach der Wiedervereinigung entstanden 49 Clubs, und bis 1995 waren es bereits 91. Die Clubs haben sich über die Jahre eigenständig weiterentwickelt und leisten durch lokale Projekte einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft. Wie aber ging es los? Die folgende Darstellung, die ich Matthias Schütt verdanke und der sie in ihren Grundzügen bereits 2009 erstellte [1], fasst wie kaum eine andere die Dichte geschichtlicher Momente zusammen. Deshalb soll sie hier in einiger Länge zitiert werden:
"Berlin-West, Hotel Hilton: Im Foyer warten an diesem Novemberabend 1989 Hunderte Teilnehmer eines internationalen Rotary-Institutes auf Taxis, um zu ihren Berliner Gastgebern zu gelangen. Doch der Weg zum Hotel ist versperrt. Die Nervosität steigt bei den Gästen wie bei den Organisatoren um Peter Lorenz, Rotary Club Berlin-Spree, dem wir diese Erinnerung verdanken. Dann plötzlich ertönt über Mikrofon eine freundliche Stimme: ‚Sie müssen leider noch Geduld haben, weil die bestellten Taxis nicht zum Hotel durchkommen. Aber wie Sie sehen können, blockieren die Zufahrt zig Tausende Besucher aus dem Ostteil der Stadt, die wir seit 28 Jahren eingeladen und erwartet haben. Sie sind auf dem Fußmarsch zur Gedächtniskirche und dem Ku’damm. Wir warten schon so lange auf sie und wir bitten Sie, warten Sie mit uns: Das Tor und die Mauer sind auf.' Deutschland im Ausnahmezustand, Deutschland im Freudentaumel." [2]
Ein, wie ich finde, liebe Freundinnen und Freunde, auch heute noch ergreifender Moment!
In Berlin und in ganz Deutschland ergreifen die Rotary Clubs und Distrikte rasch Initiativen, Hilfslieferungen aller Art zu organisieren für die Menschen im Osten, und ebenso rasch entstanden die ersten Überlegungen, Rotary auch in die noch existierende und bald ehemalige DDR zu bringen. Schon wenige Monate später schrieb Ottfried Dascher, Berichterstatter im damaligen Distrikt 190: "Selten hat ein Ereignis die Diskussionen in den Clubs so spontan erfasst und bestimmt wie die Wende in der DDR. Auf einmal erinnert man sich bei Rotary wieder daran, dass in Chemnitz, Dresden, Erfurt, Görlitz, Halle, Leipzig, Magdeburg, Plauen und Zwickau-Glauchau Rotary Clubs bestanden haben." [3]
Anfang 1990 kamen die amtierenden Governor der deutschen und österreichischen Distrikte zusammen, um Möglichkeit und Verfahren neuer Clubgründungen in der noch existierenden DDR zu erörtern. Rotary International gab im März 1990 die DDR als sogenanntes Gründungsgebiet frei. Mittlerweile hatten die Governor eine Zwischenlösung, so Bruno Rothers, Sprecher der Deutschen Governorrates, beschlossen, wonach vier Leitdistrikten jeweils bestimmte Regionen der DDR zugeordnet wurden. [4] In der Fortfolge kam es zu einer Riesen-Gründungswelle[5], und aus vielen Städten im Westen machten sich Rotarier auf den Weg gen Osten, um dort für die rotarischen Ziele und Werte zu werben. So konnte "Der Rotarier" bereits ein Jahr nach der Wiedervereinigung die zuvor erwähnten 49 Clubs nennen, die bereits gegründet waren oder sich in Gründung befanden. Auf den Weg gebracht wurden diese Clubgründungen durch beispielweise Städtepartnerschaften wie zwischen Grömitz in Schleswig-Holstein und Kühlungsborn in Mecklenburg, Patenschaften zwischen West- und Ostclubs und zumeist bestehende persönliche Verbindungen, die nun genutzt werden konnten. [6]
Das größte Problem war jedoch, dass es kaum geeignete Clublokale gab. Versammlungssäle gab es kaum, so dass auch hier Improvisationstalent gefragt war: Die Charterfeier des RC Wernigerode mit ihrem Festredner Hans-Dietrich Genscher fand in einer Kirche statt, der RC Plauen bezog die Räume einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG), und der RC Magdeburg tagte in einem Museum, was eine Mark Eintritt pro Clubmitglied und Clubmeeting erforderlich machte. [7]
Delikat war die Auswahl der neuen Clubmitglieder, galt es hier doch zu beachten, inwieweit politische Vorgeschichten eine kritische Rolle spielen konnten. Verfahren und Entscheidung über eine Aufnahme übernahmen die neu gegründeten Clubs selbst und ließen sich da auch nicht hineinreden. Bei aller Prüfung mit Blick auf eine womöglich problematische Vergangenheit kam es auch zu unliebsamen Überraschungen wie im RC Wernigerode, wo "trotz aller Sorgfalt ein Spitzel und ein Opfer jahrelang im Meeting an einem Tisch saßen", wie Rolf Heimannsberg vom RC Goslar-Nordharz bekundete, auf den die Gründung des neuen Clubs zurückgegangen war. [8]
Andersherum jedoch gab es auch Bemerkenswertes, festzumachen zum Beispiel an der Gründung des RC Karlstadt-Arnstein, der als einziger Westclub 1994 von einem Ostclub und zwar dem RC Bad Salzungen gegründet wurde. Wie stellte Matthias Schütt richtig fest: "Jeder Club war und ist so etwas wie ein Workshop auch für die Probleme im Gefolge der Wiedervereinigung." [9]
Zur aktuellen Situation der Rotary-Clubs in den östlichen Bundesländern
In den östlichen Bundesländern sind die inzwischen weit über 100 Rotary-Clubs fest etabliert und tragen aktiv zur Förderung von Bildung, sozialem Engagement und internationaler Verständigung bei. Sie sind Teil der Distrikte 1800, 1880, 1940 und 1950, die auch andere Regionen umfassen. Die Clubs zeichnen sich durch Vielfalt aus – sowohl in ihrer Zusammensetzung als auch in ihren Projekten – und spiegeln die Einheit Deutschlands wider.
Ein großes Thema ist natürlich nicht erst seit der letzten Bundestagswahl, als die AfD in allen fünf östlichen Bundesländern stärkste Partei geworden ist, der Umgang mit einer Partei, deren Grundprinzipien den rotarischen Werten in vielerlei Hinsicht widersprechen. Ein Eingang dessen in die rotarische Welt muss uns weiter beschäftigen. Rotary steht für Werte wie Toleranz, Respekt und Völkerverständigung. Diese Prinzipien stehen im klaren Widerspruch zu den Grundsätzen der AfD, insbesondere zu deren Positionen zur Ausgrenzung und Intoleranz. Die Aufnahme neuer Mitglieder erfolgt durch individuelle Entscheidungen der Clubs, wobei die Übereinstimmung mit rotarischen Werten ein entscheidendes Kriterium ist. Es ist bekannt, dass Rotary keine politische Organisation ist; dennoch wird erwartet, dass Mitglieder demokratische Grundwerte vertreten. Wir werden noch weiter darüber zu diskutieren haben – auch vor dem Hintergrund des Verhaltens vieler Rotary Clubs zur Zeit des Nationalsozialismus.
Abschließend bleibt festzuhalten: Rotary hat seit der Wiedervereinigung eine wichtige Rolle gespielt, um Brücken zwischen Ost und West zu schlagen. Die Clubs in den neuen Bundesländern sind lebendige Beispiele für Einheit und Zusammenarbeit – ein Erfolg, auf den wir stolz sein können. Was ist Rotary: Menschen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen unter einem Dach zusammenzuführen auf der Grundlage unserer gemeinsamen Werte – zum Wohle der Gesellschaft und zur Stärkung der Schwächsten unten ihnen.
[1] Im Folgenden stütze ich mich auf Matthias Schütt: Wie Rotary in West und Ost zueinander kam. In: Rotary Magazin, 15. Oktober 2009, https://rotary.de/gesellschaft/wie-rotary-in-west-und-ost-zueinander-kam-a-249.html sowie ders.: Die ersten Rotary Clubs in Deutschland. In: Rotary Magazin, 1. März 2017, https://rotary.de/was-ist-rotary/geschichte/die-ersten-rotary-clubs-in-deutschland-a-10284.html
[2] Schütt (2009), ebd.
[3] Zit. n. ebd.
[4] Distrikt 180 für Sachsen-Anhalt, Distrikt 188 für Thüringen und Sachsen, Distrikt 189 für Mecklenburg, Vorpommern und Brandenburg. Die beiden österreichischen Distrikte 191 und 192 kümmerten sich um Ungarn, Jugoslawien und die Tschechoslowakei. Die damals gewählte Struktur blieb im Wesentlichen bestehen, als ab Januar 1991 die Distrikte neue Bezeichnungen in Form von vierstelliger Nummerierung erhielten, D1800 und D1880 sich in ihrer heutigen Form bildeten und 1995 D1940 sowie D1950 neu gegründet wurden. Vgl. Manfred Wedemeyer: 1927 – 2002. Den Menschen verpflichtet. 75 Jahre Rotary in Deutschland, S. 209 ff.
[5] Matthias Schütt (2009), a. a. O.
[6] Ebd.
[7] Ebd.
[8] Ebd.
[9] Ebd.

Monika Hörig ist seit 2006 Rotarierin, zunächst beim RC Bonn-Rheinbach, dem sie 2011/12 als Präsidentin vorstand. 2016 gründete sie den englischsprachigen RC Bonn-International, dessen erste Präsidentin sie war. Die studierte Althistorikerin und Archäologin war bis 2021 Pressesprecherin der Stadt Bonn. Ab 2024 ist sie Distrikberichterstatterin im Distrikt 1810.
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