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Deutsche Einheit

Wie Rotary in West und Ost zueinander kam

Die Wende in der DDR im Herbst 1989 und der Fall der Berliner Mauer waren auch der Auftakt zur Wiedervereinigung Rotarys. Unmittelbar nach dem Maurefall begannen Rotarier mit der Planung von Clubgründungen in der ehemaligen DDR.

Matthias Schütt15.10.2009

Berlin-West, Hotel Hilton: Im Foyer warten an diesem Novemberabend 1989 Hunderte Teilnehmer eines internationalen Rotary-Institutes auf Taxis, um zu ihren Berliner Gastgebern zu gelangen. Doch der Weg zum Hotel ist versperrt. Die Nervosität steigt bei den Gästen wie bei den Organisatoren um Peter Lorenz, Rotary Club Berlin-Spree, dem wir diese Erinnerung verdanken. Da plötzlich ertönt über Mikrofon eine freundliche Stimme: „Sie müssen leider noch Geduld haben, weil die bestellten Taxis nicht zum Hotel durchkommen. Aber wie Sie sehen können, blockieren die Zufahrt zig-Tausende Besucher aus dem Ostteil der Stadt, die wir seit 28 Jahren eingeladen und erwartet haben. Sie sind auf dem Fußmarsch zur Gedächtniskirche und dem Ku’damm. Wir warten schon so lange auf sie und wir bitten Sie, warten Sie mit uns: Das Tor und die Mauer sind auf.“

Berlin im Ausnahmezustand, Deutschland im Freudentaumel. So wie in Berlin reagieren überall in Deutschland die Rotarier auf die unverhoffte Wende. Schnell bilden sich in Distrikten und Clubs Initiativen, die im ersten Schritt Hilfslieferungen aller Art organisieren für Über- und Umsiedler aus der DDR bzw. direkt für die wieder erreichbaren Landsleute im Osten, und in einem zweiten Schritt wird auch schon an den Export der rotarischen Idee gedacht.

Ottfried Dascher, Berichterstatter im damaligen Distrikt 190, hält im Januar 1990 fest: „Selten hat ein Ereignis die Diskussionen in den Clubs so spontan erfasst und bestimmt wie ‚die Wende’ in der DDR. Auf einmal erinnert man sich bei Rotary wieder daran, dass in Chemnitz, Dresden, Erfurt, Görlitz, Halle, Leipzig, Magdeburg, Plauen und Zwickau-Glauchau Rotary Clubs bestanden haben. Die Beiträge in den aktuellen fünf Minuten zeigen, dass Rotary vor der eigenen Haustüre eine Riesenaufgabe entdeckt.“ Um von vornherein jeden Wildwuchs bei Clubgründungen zu vermeiden, kommen die Governors der damals elf deutschen und zwei österreichischen Distrikte gleich im Januar zu einer Sondersitzung zusammen.

Noch bevor RI die DDR als Gründungsgebiet freigibt (März 1990), macht man sich Gedanken, wie die Jahrhundertaufgabe am besten anzugehen ist. Ergebnis der Beratungen ist eine „unkomplizierte Zwischenlösung“, wie der Sprecher es Deutschen Governorrates, Bruno Rother, formuliert, die sich aber als erstaunlich haltbar erweisen sollte: Die Governors beschließen, vier Leitdistrikten jeweils bestimmte Regionen der DDR zuzuordnen: Distrikt 180 Sachsen-Anhalt, 188 Thüringen und Sachsen, 189 Mecklenburg, Vorpommern und Brandenburg. Gleichzeitig werden die österreichischen Distrikte 191 und 192 gebeten, die Entwicklungen in Ungarn und Jugoslawien bzw. in der Tschechoslowakei zu begleiten. Diese Struktur besteht im Kern heute noch, 1995 gewinnt sie mit den neuen Distrikten 1940 und 1950 bleibende Form. Tschechien und Slowakei werden 1999 zum selbstständigen Distrikt 2240, Ungarn wird 2007 zum Distrikt 1911, seit 2011 bildet Slowenien den Distrikt 1912 und Kroatien den Distrikt 1913.

EINZIGARTIGE GRÜNDUNGSWELLE

Unter dieser Maßgabe wird die „Riesenaufgabe“ zur Riesen-Gründungswelle. Nicht nur aus den Leitdistrikten, auch aus Karlsruhe, Mainz, Hanau, Kaufbeuren und anderen Städten machen sich Rotarier auf, um in Ostdeutschland für Rotarys Ziele zu werben.

Bereits zum ersten Jahrestag der Wiedervereinigung zählt der Der Rotarier „trotz behutsamen Vorgehens“ 49 Clubs auf DDR-Gebiet, die entweder schon gegründet oder in Vorbereitung sind. In vielen Fällen bieten alte persönliche Verbindungen den Anknüpfungspunkt, manchen Patenschaften zwischen West- und Ostclubs gehen aber auch Städtepartnerschaften voraus wie zwischen Grömitz in Schleswig-Holstein und Kühlungsborn in Mecklenburg. Grömitzer Mitglieder im RC Neustadt-Ostsee sondieren daraufhin das Potenzial für einen Rotary Club und finden es in den Mitgliedern des „Runden Tisches“. Mit der Gründung des RC Kühlungsborn- Bad Doberan im Mai 1991 beginnt eine bis heute intensiv gepflegte Clubfreundschaft, die in regelmäßigen Besuchen und Unternehmungen sowie gemeinsamen Projekten ihren Ausdruck findet.

CLUBLOKALE FEHLEN

Zwei Erfahrungen teilen viele Gründer in dieser Anlaufphase: Es finden sich kaum geeignete Clublokale und Versammlungssäle, sodass Rolf Heimannsberg (RC Goslar-Nordharz) für die Charterfeier des von ihm gegründeten RC Wernigerode mit Festredner Hans-Dietrich Genscher gar in eine Kirche ausweichen muss. Und der RC Plauen in die Räume einer LPG, erinnert sich Past-Gov. Horst Steinkamp. Der RC Magdeburg tagt eine Zeit lang in einem Museum – „wir waren wohl damals der einzige Rotary Club, der von allen am Meeting Beteiligten eine Mark Eintritt erhob“, wie Gründungspräsident Wilhelm Thal berichtet.

Er formuliert auch treffend die zweite Grunderfahrung: die Zurückhaltung vieler Ostdeutscher, einem Serviceclub beizutreten. „Die politische Wende, die uns Befreiung und Befangenheit zugleich brachte und die uns beruflich enorm forderte, ließ Rotary nicht immer die Priorität.“ So erstreckte sich in manchen Fällen die Gründungsphase über viele Monate, bis man die erforderliche Zahl von 25 Gründungsmitgliedern zusammenhatte. Das übrigens damals noch unter strengen Klassifikationsregeln, die bei wenigen Ausnahmen grundsätzlich nur ein Mitglied pro Beruf zuließen. Die Auswahl der künftigen Clubmitglieder blieb tunlichst den neuen Clubs selbst überlassen. Obschon auch das unliebsame Überraschungen nicht ausschloss wie in Wernigerode, wo, so Heimannsberg, „trotz aller Sorgfalt ein Spitzel und ein Opfer jahrelang im Meeting an einem Tisch saßen“

Haben die West-Ost-Patenschaften die 20 Jahre überdauert? Die Frage wird von allen Interviewpartnern positiv beantwortet. Natürlich haben sich die Clubs selbstständig weiterentwickelt und viele pflegen nicht mehr den engen Kontakt der Anfangsjahre. Und doch ist die bewegende Anfangszeit in vielen Fällen immer noch ein Element im Clubleben. So veranstaltet der Rotary Club Brandeburg-Havelland ein großes Fest

zum Tag der Deutschen Einheit im Dom zu Brandenburg.


Fünf Jahre nach der Einheit, im Herbst 1995, veröffentlichte diese Zeitschrift eine Liste von 91 Clubs, die in den neuen Bundesländern entstanden waren. Diese Veröffentlichung sollte den Endpunkt der Aufbauphase markieren. Viel besser aber zeigte sich die neue Normalität in der Gründungsgeschichte eines ganz unspektakulären Clubs in Unterfranken, des RC Karlstadt-Arnstein, der auf ein markantes Alleinstellungsmerkmal verweisen kann: Er ist der erste West-Club, der von einem Ost-Club gegründet wurde, 1994 vom RC Bad Salzungen.
Matthias Schütt

Matthias Schütt ist selbständiger Journalist und Lektor. Von 1994 bis 2008 war er Mitglied der Redaktion des Rotary Magazins, die letzten sieben Jahre als verantwortlicher Redakteur. Seither ist er rotarischer Korrespondent des Rotary Magazins und seit 2006 außerdem Distriktberichterstatter für den Distrikt 1940.