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Interview

Vor 70 Jahren: Polioausbruch in NRW

Interview - Vor 70 Jahren: Polioausbruch in NRW
Vor 70 Jahren: Schwerste Polio-Epidemie in Deutschland und im Distrikt 1870 © Brützel

Vor 70 Jahren ereignete sich in Deutschland der schwerste Polioausbruch in der Geschichte. Fast die Hälfte der Erkrankungen betrafen das Land NRW. Es gab noch keine Impfungen. Dr. Brigitta Hofebauer-Mews und Silvia Fleck, Polio-Beauftrage im Distrikt 1870, interviewten Prof. Dr. Hans-Iko Huppertz.

Christoph Brützel01.10.2022

Das Land NRW war mit 4431 Fällen und 3,23 je 10.000 Einwohner von der größten Polioepidemie in Deutschland deutlich stärker betroffen als der Durchschnitt des damaligen Bundesgebietes (1,92 Fälle). Es gab noch keine Impfungen.  Die Krankheit hatte auch schon in den Jahren vor 1952 steigende Inzidenzen und brachte großen Schrecken für die Familien durch fieberhafte Krankheit mit Lähmungserscheinungen meist eines Beines, aus dem sich später lebenslängliche Beinverkürzungen, Fußdeformierungen und Versehrtheiten ergaben.

Prof. Dr. Hans-Iko Huppertz  (RC Bremen- Neuenlande) ist ehemaliger Chefarzt der größten Bremer Kinderklinik und Mitglied der "Nationalen Kommission zur Eradikation von Poliomyelitis" am Robert-Koch-Institut. Er stammt aus Essen und damit aus einem "Hot Spot" des damaligen Ausbruchs mit einigen Tausend Erkrankten.

Dr. Brigitta Hofebauer-Mews (RC Datteln-Lippe) und Silvia Fleck (RC  Gelsenkirchen-Buer), beide Poliobeauftragte im Distrikt 1870 haben den Experten zu der damaligen Epidemie, zur Entwicklung von Impfstoffen zur Bekämpfung des Virus und deren heilbringende Wirkung befragt. 

Wir haben gelesen, dass vor 70 Jahren ein besonders schwerer Polioausbruch in Deutschland mit Schwerpunkt NRW stattfand und damit auch im Distrikt 1870 viele Erkrankungen verursacht hat. Schwimmbäder und Kirmesveranstaltungen mussten geschlossen werden. Wie viele Menschen waren betroffen?

Im Jahr 1952 waren in NRW 4431 Menschen von Poliomyelitis betroffen, zumeist Säuglinge und Kleinkinder. Davon hatten 2837 Lähmungen, 291 starben. Es war der bis dahin schwerste Ausbruch an ansteckender Kinderlähmung: Die Inzidenz lag bei 32 Fällen auf 100.000 Einwohner. Bei der vorangegangenen Epidemie 1948 lag sie im Bund bei zwölf und in NRW bei neun auf 100.000. Typischerweise werden in einer ungeimpften Bevölkerung Polio-Ausbrüche schlimmer, wenn der Hygienestandard steigt, wie das in der Nachkriegszeit war. Unter sehr unhygienischen Verhältnissen erwerben Säuglinge über den Mutterkuchen einen passiven Immunschutz und infizieren sich daher weniger häufig.

Über 50 Prozent der Fälle betrafen Kinder unter sechs Jahren. Knapp 15 Prozent der Fälle erkrankten im Erwachsenenalter. Bei den über 20-jährigen war die Sterblichkeit zweieinhalbmal so hoch wie im Gesamtschnitt. Damals gab es bereits die "eiserne Lunge" zur Beatmung, allerdings überlebten weniger als die Hälfte der Patienten diese Behandlung. Mit modernen Methoden der Beatmung von heute hätte man sicherlich viele Kinder retten können.

Gab es regionale Unterschiede? Und woran lag es, dass Menschen verstorben sind oder gelähmt blieben?

Besonders viele Fälle wurden in Aachen und in den großen Städten des Ruhrgebietes, zum Beispiel in Essen, registriert. Dies ist vermutlich auch damit zu erklären, dass hier die Bevölkerungsdichte höher war und dadurch mehr Ansteckungsmöglichkeiten gegeben waren. Wenn eine Lähmung aufgetreten ist, verschwindet diese nicht mehr. Obwohl es zu einer gewissen Besserung und Anpassung des Körpers durch Übung etc. kommen kann.

Wie ging es nach der Entwicklung der Impfstoffe weiter?

In Westdeutschland wurde der Lebendimpfstoff ab 1962 eingesetzt. Nach einer Epidemie mit 4667 Fällen, von denen 160 verstarben, ging nach der flächendeckenden Einführung der Impfung die Fallzahl rasch zurück. 1990 wurde die letzte durch einheimische Wildviren verursachte Polio berichtet, der letzte durch importierte Wildviren verursachte Fall ereignete sich 1992. 1999 wurde dann in Deutschland von der Impfung mit Lebendvirus auf den Totimpfstoff umgestellt, der unter die Haut gespritzt werden muss. Schluckimpfung ist damit in Deutschland vorbei, aber nicht weltweit.

Es können damit auch keine Fälle mehr mit dem vom Impfstoff abgeleiteten rückmutierten Virus auftreten. Der Lebendimpfstoff eignet sich hervorragend, um in einem Land die Poliomyelitis auszurotten. Um dieses Ergebnis zu halten, ist der injizierbare Impfstoff besser geeignet. Bei allen Impfstoffen kommt es darauf an, möglichst früh zu impfen, also auch bereits die Säuglinge zu schützen, um die Impfrate in der Bevölkerung über 90 Prozent, möglichst 95 Prozent, zu halten.

Seit wann ist Rotary International mit der Kampagne End Polio Now beschäftigt? Und wie ist es mit der Impfung: Wer soll wann geimpft werden?

Im Jahr 1979 wurde Rotary erstmals auf den Philippinen, einer früheren amerikanischen Kolonie, aktiv und impfte nach einer Abmachung mit dem philippinischen Gesundheitsminister sechs Millionen Kinder gegen Polio für damals 760.000 US-Dollar. Wegen des großen Erfolges dieser ersten Kampagne wurde dann 1985 Polio Plus ins Leben gerufen und zusammen mit der WHO 1988 die Global Polio Eradication Initiative.

Drei Milliarden Kinder wurden seither mit Hilfe von Rotary International geimpft.

Gibt es Probleme, die beim Reisen zu berücksichtigen sind, man liest so viel über London, New York, Afrika und Israel?

Die STIKO (ständige Impfkommission, wir kennen sie von Corona) empfiehlt die Impfung gegen Polio für alle Kinder mit zwei, vier und elf Monaten. Danach erfolgt eine Auffrischungsimpfung zwischen dem 9. und 16. Lebensjahr. Leider erhalten sie nicht alle Kinder in Deutschland. Nicht ausreichend geimpfte Kinder können Lähmungen entwickeln. Die Impfrate ist zum Teil in wohlhabenden Gegenden besonders gering, der Schrecken der Erkrankung ist weit weg. Wenn man ein Land bereist, in dem es Poliomyelitis durch zirkulierende Viren noch gibt (Afghanistan, Pakistan, Ukraine, Jemen, Afrika, der Staat New York) und die eigene letzte Impfung mehr als zehn Jahre zurückliegt, sollte man sich impfen lassen. Besondere Regeln gelten, wenn man sich vier Wochen oder länger in einem Land aufhält, in dem noch Wildviren oder vom Impfstoff Typ 1 abgeleitete Viren zirkulieren.

Was sagen Sie zu den in der Presse beschriebenen Ausbrüchen mit Nachweis von Impfstoff-abgeleiteten Erregern im Abwasser von New York, London, Israel?

Die vom Impfstoff abgeleiteten Viren können ebenso wie die Wildviren eine Polioerkrankung mit Lähmung auslösen. Allerdings ist bei diesen häufig die Zahl der Gelähmten unter den Infizierten geringer.

Im Staat New York ist ein Fall von Poliomyelitis mit Lähmung bei einem ungeimpften jungen Erwachsenen aufgetreten. Die weitere Untersuchung hat gezeigt, dass das Virus vom Impfstoff Typ 2 abgeleitet in der Umgebung zirkulierte. Die Impfrate war dort niedriger als im Durchschnitt in den USA. In London hat man im Abwasser krank machende Polioviren gefunden. Wegen der möglichen Gefahr bietet man nun eine Million Kindern eine erneute Impfung gegen Polio an.

Danke für das Gespräch.

Christoph Brützel

Christoph Brützel wurde 1954 in Brauweiler bei Köln geboren, machte Abitur und Studium der BWL in Köln mit Promotion. Er arbeitete unter anderem als Direktor der Lufthansa und Geschäftsführer der LTU, als Professor an der Internationalen Hochschule Bad Honnef und als Berater und Autor im Bereich Luftverkehr. Verheiratet, drei Kinder. Seit 1995 im RC Düsseldorf-Süd, Sekretär 2002-2022, Präsident 2022/2023, Distrikt-Sekretär 2022-2024, PHF+2.