Ahrtal-Reportage
Hingebungsvolles Engagement vor Ort
Auch Monate nach der Flutkatastrophe sind Rotarier im Dauereinsatz und ein Ende ist nicht in Sicht – Ihre Hilfe wird dringend benötigt
„Wir sind hier am Ende der Welt“, sagt Edeltraud Klein und blickt Zustimmung suchend zu Thomas Sander. Dieser antwortet nicht, sondern greift derweil zum Handy. Er will es gleich erledigt haben. Nichts verdient am Ende eines anstrengenden Vormittags Aufschub. Auch nicht am „Ende der Welt“. Frau Klein hatte zuvor erzählt, welche Krankenhaus- und Arzt-Odyssee sie nach einem Armbruch hinter sich hat. Man kann sich gut vorstellen, wie resolut sie schon im Krankenhaus aufgetreten ist. Die 78-Jährige ist alleinstehend, hat keine Kinder und wohnt in Müsch, was zur Verbandsgemeinde Adenau gehört. Ihr Haus steht mitten im Ahrtal. Als die Flutwelle der Ahr im Juli durch das Tal schoss, war ihr Haus mittendrin.
„Nachbarn haben mich am Tag danach auf das Schicksal von Frau Klein aufmerksam gemacht“, erzählt Thomas Sander vom Rotary Club Adenau-Nürburgring. „Ich bin mit meinem Traktor, ein 72er Deutz, durch das Tal gefahren und habe gefragt, wer Hilfe braucht.“ Da habe man ihn auf die alleinstehende Frau aufmerksam gemacht. Nun ist er wieder zu Besuch. Sander will schauen, ob die Bautrockner laufen, wie der Zustand der Wände ist und nach dem chemischen Gutachten fragen. Mitglieder des RC Deidesheim, der Club ist Pate von Frau Klein, haben die Tage zuvor tatkräftig geholfen. Nun muss er selbst wieder kurz ran.
Edeltraud Klein hatte in einem Anzeigenblättchen die Werbung für kostenlose kleine Küchenzeilen entdeckt, die der benachbarte Rotary Club Bad Neuenahr-Ahrweiler spendet. Genau so eine könnte sie gut gebrauchen. Sander schickt sofort eine SMS an die rotarischen Freunde. „Ich melde mich die Tage nochmal wegen der Küche“, erklärt er und begutachtet anschließend den Keller. „Das sieht doch schon gut aus. Was hat das Gutachten ergeben?“, fragt er. „Es war miserabel, aber abgerissen werden muss das Haus nicht“, antwortet Klein nüchtern. Sander lächelt aufmunternd. „Ich komm nächste Woche mit einem Bauleiter vorbei“, sagt er und verabschiedet sich.
Auf der Eingangstreppe bleibt er kurz stehen, greift in mit der rechten Hand in eine Tasche seiner Weste und zieht eine minzgrüne Zigarettenschachtel der Marke Elixyr hervor. Er nimmt eine Zigarette heraus und steckt sie sich an. „Die Frau beeindruckt mich. Wie die mit 78 Jahren mit der Katastrophe fertig wird, verdient Hochachtung.“ Dann denkt er nochmal über die Küche nach. 50 Stück vergibt der Nachbarclub. „Wenn die 50 schon weg sind, dann finden wir auch noch eine 51. Küchenzeile.“ Sander denkt pragmatisch und stets optimistisch. Anders wird man mit solchen Katastrophen nicht fertig. Anders kann man nicht helfen am „Ende der Welt“.
Das „Ende der Welt“ ist das südliche Ahrtal in Rheinland-Pfalz. Es ist Mittwoch, der 27. Oktober. Der erwähnte anstrengende Vormittag beginnt am Markt von Adenau. Thomas Sander sitzt im Ford Fiesta seiner Frau, neben ihm Claudia Rössling-Marenbach, Präsidentin des Rotary-Clubs Adenau-Nürburgring. Die beiden Rotarier haben sich verabredet, um einen Vormittag lang durch das Ahrtal zu fahren. Seit der verheerenden Flutkatastrophe Mitte Juli ist der Club fast täglich im Einsatz.
Der Weg führt die beiden zunächst nach Altenahr, vorbei an Felsvorsprüngen und steilen Hängen. Ein mit Schutt beladener Lastwagen kommt ihnen entgegen. Immer wieder blicken die beiden durch ihre Seitenscheibe. Wie weit inzwischen die Aufräumarbeiten sind? „Da stand mal ein Haus“, erklärt Sander und deutet mit dem Zeigefinger nach links. Zu sehen ist nur ein friedlich fließender kleiner Fluss und eine große, freie Rasenfläche. „Mutter und Tochter haben es nicht überlebt“, ergänzt Rössling-Marenbach. Während Vater und Sohn vor den Wassermassen auf einen großen Baum flüchteten, hatten sich Mutter und Tochter auf das Dach des Hauses gerettet, berichtet Sander. Das Haus sei von den Wassermassen mitgerissen worden, der Baum stehengeblieben.
Es ist nur eines von vielen grausamen Schicksalen, von denen sie berichten können. Wer mit ihnen fährt, dem bleiben einige dieser Geschichten nicht erspart. Sie unterstreichen nicht nur, mit welch tödlicher Gewalt die Wassermassen der Ahr sich ihren Weg bahnten, sondern wie schwer es die dort lebenden Menschen getroffen hat. Menschen, die Hilfe brauchen. Auch Monate später.
Das Auto biegt der Ahr folgend nach rechts Richtung Altenahr ab. Zu sehen ist nun eine zerstörte Brücke. Auf einem Parkplatz hält Sander an. Wie ein Mahnmal steht die Brücke im engen Tal. Betroffenes Schweigen. Dann erklärt Thomas Sander: „40.000 Menschen sind vom Hochwasser betroffen, 10.000 Häuser ganz oder teilweise zerstört und 7.000 Autos wurden weggeschwemmt. 500 Kubikmeter Wasser pro Sekunde sind hier durchgerauscht.“ Sander rattert diese Ahrtal-Zahlen runter, während er sich eine Zigarette ansteckt. „240.000 Tonnen Sperrmüll müssen entsorgt werden, was etwa 500 Millionen Euro kosten wird“ erklärt er. Wie viele Häuser genau abgerissen werden müssen, sei noch nicht klar. Aber schon jetzt sei sicher, dass einige Besitzer nicht in ihr altes Zuhause zurückkehren können. Mehr noch: Einige werden auf ihrem Grundstück auch kein neues mehr errichten dürfen.
„Hinzu kommt das Problem, dass es in Antweiler und Schuld derzeit keine Baugrundstücke gibt“, berichtet Claudia Rössling-Marenbach. „Somit werden einige ihren Heimatort verlassen müssen. Dabei wollen fast alle bleiben“, erklärt sie. Die großartige Hilfe, die die Region und auch ihren Club erreicht habe, ermuntere die Menschen, ihrer Heimat nicht den Rücken zu kehren. Sie schaut zur zerstörten Brücke. „So stelle ich mir eine Kriegssituation vor.“ Für eine Minute herrscht erneut Stille. Die Blicke der beiden schweifen über die Ahr in Richtung Ortschaft. Dann erklingt ein Glockenschlag. Sander blickt zu seiner Clubpräsidentin und beide machen sich auf den Weg zurück zum Auto. Über Ahrbrück führt nun der Weg nach Schuld.
Der Rotary Club Adenau-Nürburgring betreut zehn Orte im Ahrtal, die anderen der zweite Club im Landkreis, der RC Bad Neuenahr-Ahrweiler. 23 Patenschaften hat der Adenauer Club inzwischen an andere Rotary-Clubs vermittelt, fünf selbst übernommen. „Mein eigentlicher Hauptberuf Vorruhestand liegt völlig brach“, erzählt Thomas Sander schmunzelnd und schaltet in den dritten Gang. Er war in leitender Funktion für einen Energiekonzern in Köln tätig, hatte 800 Leute unter sich, ehe er vor drei Jahren mit seiner Frau überlegte, wo sie gemeinsam ihren Lebensabend verbringen könnten. Die Wahl fiel auf die einstige Bilderbuchlandschaft des Ahrtals mit seinen malerischen Weindörfern. Ihr Wohnhaus steht am Hang mit Blick ins Tal.
Thomas Sander will sich mit Claudia Rössling-Marenbach heute ein Bild vom Fortschritt einiger dieser Patenschaften machen. In Schuld halten sie bei Kfz-Mechaniker Dirk Hupperich. Sander geht zielstrebig auf die Werkstatt zu, seine Club-Präsidentin folgt mit etwas Abstand. Aufgrund einer Fußverletzung benötigt sie eine Krücke. Werkstatt samt Wohnhaus stehen mitten im Ahrtal, der kleine Fluss fließt keine 200 Meter entfernt. „Ich habe dank Rotary nun eine kleine Hebebühne für Autos, um wieder arbeiten zu können“, sagt Hupperich. Er lässt sich nicht entmutigen, präsentiert sich gut gelaunt, auch wenn fast alles, was die Flut nicht mit sich riss, anschließend Plünderer stahlen.
Während Thomas Sander mit Dirk Hupperich nochmal durch die Werkstatt geht, bleibt Claudia Rössling-Marenbach davor und unterhält sich mit Hupperichs Frau. Rössling-Marenbach ist evangelische Pastorin und ausgebildete Notfallseelsorgerin. Sie weiß, wie wichtig es ist, den Menschen zuzuhören, ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie mit ihrem Schicksal nicht alleingelassen werden. Unzählige Stunden hat sie zugehört, viele im Ahrtal haben Nahtoderfahrungen und davon berichtet. Da fällt es selbst einer Notfallseelsorgerin schwer, die eigenen Emotionen zu kontrollieren. Sie weiß noch Monate später genau, wann und wo zum ersten Mal ihr die Tränen in den Augen standen.
Wieder im Auto überlegt Thomas Sander kurz, wie sie nun nach Antweiler kommen. Noch immer sind nicht alle Straßen beidseitig befahrbar. Er startet den Motor und biegt nach links ab. Auf zu den nächsten Betreuungsfällen. „Nach der ersten Flut hat uns eine zweite Flut erreicht. Die Flut an Spenden“, berichtet Rössling-Marenbach. „Das ist wirklich beeindruckend. Wir haben allein so viele Schulrucksäcke bekommen, das reicht für die nächsten drei, vier Jahre.“
In Antweiler trennen sich zunächst die Wege von Sander und Rössling-Marenbach. Sander geht zielstrebig auf die Pizzeria „Da Paolo Due“ zu. Kaum an der Eingangstreppe angekommen, geht auch schon die Tür auf. Es folgt eine herzliche Begrüßung von Betreiber Wolfgang Pinhammer. Was mal eine Pizzeria mit schönem Ambiente war, ist heute nur noch eine Art Rohbau. Nackte Wände, Bautrockner von Rotary bereitgestellt im Dauerbetrieb und mittendrin ein kleiner Pizzabäcker, der nicht mehr weiß, wo links und rechts ist. „Ich brauche dringend einen Elektriker“, berichtet er Thomas Sander. „Ich lass mir was einfallen“, antwortet dieser. Wann hier mal wieder eine leckere Pizza gebacken wird? „Ich habe keinen Plan“, lautet die Antwort von Pinhammer und dokumentiert Hilflosigkeit. Sie unterstreicht zugleich, wie wichtig die rotarische Hilfe hier ist.
Gegenüber im Haus von Heinrich Suhr steht Claudia Rössling-Marenbach ebenfalls im Erdgeschoss. Möbel sucht man vergebens. Die Flutwelle schoss mittendurch, riss alles mit sich. Die Familie, Herr Suhr ist Witwer mit zwei Kindern, muss nun eine Etage höher in zweieinhalb Zimmern leben. Er lächelt einen kurzen Moment in Richtung der Rotary-Präsidentin. Es ist ein vertrauter Blick. Ein Holzofen steht in der Mitte der Etage und ist in Dauerbetrieb, um die Wände zu trocknen. Der wurde vom RC Saarbrücken-Sankt Johann bereitgestellt. Das im Nebenraum gelegene Brennholz stammt vom RC Nagold-Herrenberg. Rotarische Hilfe greift hier Hand in Hand und erreicht genau diejenigen, die es am dringendsten benötigen.
Es wird nicht der letzte Besuch in der Pizzeria und bei Heinrich Suhr gewesen sein. Dessen sind sich Thomas Sander und Claudia Rössling-Marenbach bewusst. Die Flutkatastrophe wird den Club noch lange beschäftigen. Sie könnten noch viel mehr Patenschaften vermitteln. Mit dem Auto fahren sie nun in den Adenauer Stadtteil Müsch.
Am Ende der Tour will Thomas Sander noch schnell bei Frau Klein vorbeischauen. Claudia Rössling-Marenbach bleibt derweil im Auto sitzen. Die Besuche zerren an den Nerven, gehen nicht spurlos an ihr vorbei. Sie atmet tief durch. Thomas Sander ist da schon an der Haustür.
Die Reportage aus dem Oberen Ahrtal lesen Sie hier: Das Leben der Anderen schwimmt an dir vorbei
Die Reportage aus Hagen lesen Sie hier: Spuren noch immer sichtbar
Copyright: Andreas Fischer
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