Rotary Aktuell
„Das Leben der anderen schwimmt an dir vorbei“
Die Hochwassernacht vom 14. auf den 15. Juli dieses Jahres veränderte alles im Leben der Menschen an der Ahr. Allein im RC Bad Neuenahr-Ahrweiler sind 22 Familien unmittelbar betroffen. Wir haben vier von ihnen besucht.
Unauffällig und ruhig schlängelt sich die Ahr durch die Landschaft. Der Fluss ist wie ein roter Faden, der sich durch die Geschichten der Menschen im Ahrtal zieht. Die Geschichten sind endlos lang, zutiefst bewegend und noch lange nicht auserzählt. Die Protagonisten sind die Menschen selbst.
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„Wie hoch das Wasser genau gestiegen ist, kann ich Ihnen nicht sagen. Ich habe mich die ersten sechs Wochen nicht aus meinem Dorf herausbewegt, weil ich das Elend nicht sehen wollte“, sagt Alexander Stodden während unserer Autofahrt durch Bad Neuenahr-Ahrweiler und fügt nachdenklich hinzu: „Da ist sicher auch viel Eigenschutz dabei.“ Plötzlich biegt er ab, obwohl er geradeaus fahren könnte auf dem Weg zu seinem Weingut in Rech, etwa zehn Kilometer außerhalb der Stadt gelegen. Er möchte das Elend zeigen. Inzwischen hat er es selbst schon gesehen. „Wir machen jetzt die Horrortour“, sagt er entschlossen. Auf dem Schlenker durch besonders stark betroffenes Gebiet führt die Fahrt entlang des Ahrufers teils über unbefestigte Schotterpisten. Von der einst befestigten Straße ist nichts mehr übrig. Die Häuser stehen leer. Eins um das andere. Es ist eine verlassene Gegend geworden. Kein Ort mehr zum Verweilen.
Eine Bleibe finden
Schräg gegenüber auf der anderen Seite des Flusses erhebt sich das schwer gezeichnete Steigenberger Hotel, ein ehrwürdiger Bau mit klassizistischer Fassade – einst das Clublokal seines RC Bad Neuenahr-Ahrweiler. „Das ist Geschichte“, sagt Alexander Stodden. Zurzeit haben sie einen Gastwirt gefunden, der ihnen einmal im Monat an seinem Ruhetag einen Raum zur Verfügung stellt. Dazwischen gibt es Online-Meetings. Von Januar bis März kommen die rotarischen Freunde in einem Golfrestaurant unter, das von der Flut verschont geblieben ist. Ab Saisonbeginn im Frühjahr ist das Zeitfenster allerdings wieder für die Herrenrunde der Golfer reserviert. Die Rotarier müssen dann weitersehen, vielleicht den Wochentag für die Meetings wechseln. Flexibel sein. Wie so oft in der letzten Zeit.
Neben dem Anbaugebiet am Berg hinter seinem Haus besaß Winzer Alexander Stodden auch zwei Hektar Wein in der Ebene, direkt am Fluss auf der gegenüberliegenden Straßenseite seines Weinguts. „Die gibt es jetzt nicht mehr“, sagt er und zeigt auf eine provisorisch eingerichtete Brücke, die jetzt dort die Ufer der Ahr verbindet, wo er einst Weinbau betrieb. „Und gegenüber“, sagt er und zeigt auf die andere Seite des Flusses, „fehlen 13 Häuser.“ Die Flut hat auch sie zunichtegemacht.
Dann kam die Welle
Auf dem Weingut Stodden kam das Wasser gegen 22 Uhr an, strömte durch alle Kellerräume, durchbrach die Haustür aus massivem Eichenholz, schoss dann durch alle Betriebsräume im Erdgeschoss und war gegen 5 Uhr morgens wieder weg.
Die privaten Wohnräume der fünfköpfigen Familie liegen im Obergeschoss und die Wände im Keller und im Erdgeschoss sind aus Beton, die Räume ausgelegt mit Industrieboden. Dennoch: Alexander Stodden schätzt seinen monetären Schaden auf 1,5 bis zwei Millionen Euro. „Ich habe mal ausgerechnet, dass wir vier Millionen Liter Wasser im Keller hatten“, sagt er. Alle Weinfässer musste er austauschen, denn das durchströmende Wasser war kontaminiert mit Heizöl, das die Flut mitbrachte. 14 Tage lang haben er und freiwillige Helfer jede der geschätzt 35.000 bis 40.000 eingelagerten Weinflaschen per Hand von Schlamm und Matsch befreit. Eine von vielen Herkulesaufgaben der letzten Monate.
Tot im Garten
Er hat die Hilferufe noch im Ohr. Die ganze Nacht, sagt Rainer Friedrich, habe sein 85-jähriger Nachbar von einem Baum aus in seinem Garten um Hilfe gerufen. Eine Flutwelle hatte ihn aus seinem Haus gespült. Doch Rainer Friedrich und seine Tochter konnten nichts tun. Sie mussten sich selbst in den ersten Stock ihres Hauses retten, um zu überleben. Der Nachbar hatte diesen Moment verpasst. Die Flut übermannte ihn. Er lag am nächsten Morgen tot in ihrem Garten.
Vielleicht sind es Erlebnisse wie diese, die Rainer Friedrich heute demütig werden lassen: „Wir haben alles behalten, was uns wichtig war: unsere Familienangehörigen und unser Leben.“ Seine Frau fuhr in jener Nacht irgendwann einfach los, um ihre jüngere Tochter von der Abi-Feier abzuholen. Das Wetter war ihr nicht mehr geheuer. Auf dem Rückweg kamen sie nicht mehr nach Hause. Wassermassen versperrten den Weg. Geistesgegenwärtig parkte sie ihr Auto etwas oberhalb am Berg. Dann übernachteten sie bei Fremden. Bevor irgendwann auch die Handyverbindung abbrach, konnten sie und ihr Mann sich noch kurz verständigen, dass alle in Sicherheit waren.
Gemeinsam mit seiner Frau führt Rainer Friedrich seit dem Jahr 2000 eine Tierarztpraxis mit Räumlichkeiten im Keller und im Erdgeschoss ihres Hauses in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Alles hatten sie sich über die Jahre aufgebaut, Abläufe optimiert, ihr Angebot erweitert und professionalisiert. Die Oberwohnung war vermietet an eine Familie mit drei Kindern. Die Familie ist weggezogen aus dem Ahrtal. Sie waren ja nur Mieter. Konnten einfach gehen.
Wir bleiben da(hr)
Für Familie Friedrich ist das keine Option, einfach zu gehen. Sie haben sich Praxis-T-Shirts anfertigen lassen. „Wir bleiben da(hr) – Tierarzt Dr. Friedrich“, steht da auf ihrer Brust. Sie tragen sie voller Überzeugung und fangen einfach wieder von vorn an. Denn von den Praxisräumen in Erdgeschoss und Keller ist nichts mehr übrig. Genau wie in ihrem Privathaus, 800 Meter die Straße hinunter, stehen dort nur noch die Grundmauern. In der ersten Zeit war an eine Versorgung der Tiere – viele hatten Durchfall, Erbrechen, Fellprobleme – nicht zu denken. Später lieh ihnen eine befreundete Tierärztin einen umgebauten VW-Bulli, ein Tierarzt-Mobil, mit dem sie durch das Ahrtal fuhren und nach den Tieren sahen, die es noch gab. Inzwischen ist ihre leer stehende Oberwohnung wieder mit Wasser, Strom und Heizung versorgt. Nach zwei Monaten in der Ferienwohnung nutzen die Friedrichs die eine Hälfte der Wohnung nun privat und haben sich in der anderen Hälfte notdürftig ein kleines Praxiszimmer eingerichtet. Die Ausstattung ist minimal, und fast alles an Materialien und Equipment für einen gewohnten Arbeitsablauf fehlt noch. Doch besser als nichts ist es allemal. Die Tierbesitzer in Bad Neuenahr-Ahrweiler haben wieder eine Anlaufstelle. Für die Flutopfer gibt es eine Kartei. Die Behandlung ist für deren Tiere kostenlos.
Notversorgung
„Sie versorgen“, sagt Heinz Brands. „Sie achten nicht auf Wirtschaftlichkeit.“ Der 63-Jährige führt eine Apotheke in einem Kaufhaus in der Innenstadt von Bad Neuenahr-Ahrweiler. In jener Nacht, als das Wasser durch die Stadt schoss, hatte sein Sohn Julian Brands alleine Notdienst. Gegen 23 Uhr fiel der Strom aus. Er sei hauptsächlich damit beschäftigt gewesen, die Elektronik zu sichern. Später half die Freiwillige Feuerwehr, pumpte das Wasser aus der Apotheke, sodass die Arbeit möglichst schnell wieder aufgenommen werden konnte – für die Notversorgung der Bevölkerung. Dabei war die Apotheke selbst in Not geraten. Denn auch im Kaufhaus waren die Kellerräume der Apotheke bis zu 3,30 Meter geflutet. Labor, Sanitärbereich, Kühlraum, Lager, Sozialraum, Klimaanlage, alles befand sich im Keller und ist heute nur noch eine große Fläche Schutt. Im Verkaufsraum, in dem das Wasser 30 Zentimeter hoch stand, muss aus hygienischen Gründen die komplette Einrichtung ausgetauscht werden.
Nach der ersten groben Schadensbeseitigung hatte die Apotheke trotzdem 14 Tage durchgehend rund um die Uhr Notdienst. Die Menschen hatten keine Versichertenkarten, keine Scheckkarten, keine Rezepte. Arzneimittel brauchten sie trotzdem. In der Nacht wurden die Arzneimittelbestellungen der Hilfsorganisationen bearbeitet. „Es hat Wochen gedauert, bis die Struktur wieder da war“, sagt Heinz Brands. „Die Ärzte waren ja auch betroffen.“
Noch immer stehen ein Dixi-Klo und ein Lager-Container auf dem Hof. Die sensiblen Geräte haben eine Zuleitung zu einem Stromaggregat. Die normale Stromversorgung ist immer noch nicht nutzbar. Ähnlich sieht es bei Familie Brands zu Hause aus. Zumindest das Haus selbst blieb verschont. Es liegt außerhalb der Hochwasserzone. Die Infrastruktur aber war auch dort zusammengebrochen. Wochenlang gab es keinen Strom, kein Wasser und keine Heizung. Die Brands haben sich eigene Aggregate und einen Gaskocher besorgt. Trinkwasser wurde in Containern gebracht. „Als Erstes habe ich mir ein Radio mit Batterien gekauft, um überhaupt etwas mitzubekommen“, sagt Heinz Brands. Weihnachtlich wird er das Geschäft dieses Jahr wohl nicht dekorieren. Danach ist ihm nicht zumute. Die Weihnachtsdekoration war im Keller gelagert. „Ich sehe Weihnachten eher als Punkt, an dem man innehalten und vielleicht mal zu einer inneren Ruhe findet, um durchzuatmen“, sagt Heinz Brands.
Die Luft roch nach Gas
Insgesamt vier Stunden saß Anke Wächter auf dem Dach. „Bevor das Wasser kam“, sagt sie, „hat die Luft nach Gas gerochen und es knallte überall. Dann kamen Benzole hinzu.“ Spätestens als sie sah, wie die Autos in ihrer Nachbarschaft alle nach vorn kippten und sie nur noch die Rücklichter sah, wusste sie, dass es ernst werden würde. Überall piepten die Alarmanlagen der Autos und die Nachbarn schrien um Hilfe. Die Strömung war laut. Und sie wurde immer lauter, je näher sie kam. Sie spülte neben gewaltigen Wassermassen, Schlamm und Bäumen auch Hausrat aller Art durch die Straßen, Gärten und Häuser. „Das Leben der anderen schwimmt an dir vorbei“, sagt Anke Wächter. Die anderen, dazu zählten sie und ihr Mann Karsten Wächter nun auch. Sie waren von Zuschauern zu Betroffenen geworden.
„Die Flut macht alle gleich. Da spielt es keine Rolle mehr, woher du kommst“, sagt Karsten Wächter. Er ist Militärseelsorger bei der Bundeswehr und Mitglied im RC Bad Neuenahr-Ahrweiler. Die Vernetzung und die Solidarität unter den Rotariern haben dem Ehepaar großen Halt gegeben. Sofort wurde im Club eine Whatsapp-Gruppe ins Leben gerufen, in der für die insgesamt 22 betroffenen rotarischen Familien Hilfe angeboten und Hilfe angenommen wurde. „Das funktioniert bis heute prima“, sagt auch Clubpräsident Roland Brunner, selbst schwer betroffen von der Flut.
Erinnerungsstücke
Dennoch: Es gibt nicht für alles einen Ersatz. Etwa für Sachen, die einem am Herzen liegen. Für Karsten Wächter ist es zum Beispiel eine aus Holz geschnitzte Krippe. Ein Soldat hatte sie ihm einst für seinen Afghanistan-Einsatz geschnitzt. „Die ist weg und fehlt mir wirklich“, sagt er. Der Umzug von der Ferienwohnung in ihre Oberwohnung steht kurz bevor. Bis die unteren Etagen ihres Hauses wieder bewohnbar sind, wollen sie sich hier übergangsweise einrichten. Denn auf einmal kein Nest mehr zu haben, das, sagt Karsten Wächter, mache das Leben gerade anstrengend. Seine Frau und er möchten es sich wieder aufbauen. Ganz von vorn. Aber mit genauso viel Herzblut, wie sie es vor drei Jahren gemacht haben, als sie das Haus gemeinsam gekauft haben. Und auch jetzt schon in der Weihnachtszeit wollen sie es sich zumindest wieder etwas schön machen. Die geschnitzte Krippe wird einen ganz besonderen Platz in der Erinnerung bekommen. Denn die kann einem auch die Flut nicht nehmen.
Die Reportage aus dem Unteren Ahrtal lesen Sie hier: Hingebungsvolles Engagement
Die Reportage aus Hagen lesen Sie hier: Spuren noch immer sichtbar
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