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„Sie sind einfach immer unter Strom“

Rotary Aktuell - „Sie sind einfach immer unter Strom“
Ins Lego-Technik-Spiel vertieft: Andreas Bahners und sein Adoptivsohn Luca © Michael Lübke

Das Wort ist sperrig, die Bedeutung für viele unbekannt: Die fetale Alkoholspektrumstörung ist eine tückische Erkrankung, die das Leben schon im Mutterleib für immer verändert. So wie das von Luca Ben Bahners, dessen Mutter während der Schwangerschaft Alkohol konsumierte – mit fatalen Folgen.

Insa Fölster01.12.2022

Sie kommen oft. Sie kommen unvermittelt. Und sie kommen mit voller Wucht. Sie treiben ihn, seine Adoptiveltern, seine Geschwister und sein gesamtes Umfeld kurzfristig in den Wahnsinn. Immer wieder, Tag für Tag. Ein Leben lang. Für seine Wutanfälle kann Luca nichts. Er ist an der fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD) erkrankt, zeigt Auffälligkeiten des zentralen Nervensystems, weil seine leibliche Mutter in der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat. Heilungsaussichten? Keine. FASD ist irreparabel. Die Liste der Symptome ist je nach Grad der Ausprägung lang. Neben körperlichen Merkmalen sind unter anderem die kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt, es gibt Auffälligkeiten im sozialen Verhalten, Gefühle sind schwer zu regulieren. So wie auch bei Luca.


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Neues Familienmitglied

„Sie sind immer unter Strom“, sagt Andreas Bahners (RC Düsseldorf-Süd), der Luca gemeinsam mit seiner Frau Anja zu sich in die Familie holte. Nach der Geburt der ersten Tochter Anna, heute 13 Jahre alt, hieß es, das Ehepaar könne keine Kinder mehr bekommen.

Die Bahners entschieden sich für eine Adoption. „Wir schaffen nur ein gesundes Kind“, dachten die beiden damals und ließen alle Kreuze auf dem Fragebogen der Adoptionsunterlagen bei den Themen Drogen, Alkohol, Inzest et cetera weg. Das trauten sie sich nicht zu, waren ehrlich zu sich selbst. Dann kam der Anruf. Für ein gesundes Kind wurde eine Familie gesucht. Im Dezember 2012 fand der erste Kontakt statt, im Januar 2013 zog Luca mit knapp zehn Monaten bei Familie Bahners ein. Heute sind sie zu fünft. Denn kurze Zeit später wurde Anja Bahners unverhofft doch noch einmal schwanger und Sara kam auf die Welt. „Wir wussten beim ersten Treffen, dass Luca zu uns gehört“, sagt Anja Bahners. „Er ist in unseren Herzen geboren.“ So erzählen sie es auch dem zehnjährigen Luca heute: dass er in ihrem Herzen geboren ist. Dass er schwer krank war und heute mit Pflegestufe III und 60 Prozent Schwerbehinderung lebt, wussten sie damals nicht. Sie beginnen, über sich hinauszuwachsen, kämpfen im Alltag mit Situationen, die sie sich vorher in ihren kühnsten Träumen nicht hätten vorstellen können, und bewältigen sie. Tag für Tag. Sie bieten Luca ein liebevolles Zuhause voller Unterstützung, das er so dringend benötigte, damals, als er kurz nach der Geburt der leiblichen Mutter entzogen wurde, und seitdem jeden einzelnen Tag, um sein Leben voller Hürden zu meistern.

Einschränkungen

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„Don’t worry, be happy“ – Die Kette ist ein Geschenk von Schwester Anna © Michael Lübke

Dafür muss sich der Rest der Familie anpassen. Denn Luca ist nicht lenkbar. „Alles ist davon abhängig, ob er es will oder nicht“, sagt Anja Bahners. Dafür haben sie zum Beispiel die Raumsituation in ihrem Einfamilienhaus geändert. Luca hat jetzt sein Kinderzimmer, sein eigenes Reich, in der unteren Etage, die Mädchen oben. Damit sie sich nicht ins Gehege kommen. Vor allem morgens in der kritischen Phase zwischen 6.45 und 7.15 Uhr, wenn sich alle fertig machen für die Arbeit und die Schule und die Medikamente für den Tag noch nicht ihre volle Wirkung zeigen. Dann haben alle Familienmitglieder gelernt, überflüssige Begegnungen zu vermeiden, ihm aus dem Weg zu gehen. Luca geht inzwischen auf eine Förderschule, wird morgens mit dem Taxi abgeholt und nachmittags wieder nach Hause gebracht. Struktur ist wichtig für ihn. Dafür nehmen die anderen viele Einschränkungen in Kauf. Andreas Bahners ist selbstständiger Immobilienprojektentwickler und beruflich eingespannt. Anja Bahners allerdings hat inzwischen aufgehört zu arbeiten, kümmert sich aber zumindest noch um die Stiftung, die sie gemeinsam mit ihrem Mann gegründet hat. Anderer Input für das Gehirn ist zwischendurch wichtig für die Diplom-Kauffrau, zum Ausgleich in einem FASD-bestimmten Alltag.

Im Herzen ist Luca ein sehr sozialer Mensch. Er sieht, wie das mit der Freundschaft bei seinen Geschwistern funktioniert und merkt inzwischen, dass es bei ihm anders läuft. Denn er ist kein guter Spielpartner. Er bekommt das Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz oft nicht hin, hat einen speziellen subjektiven Gerechtigkeitssinn. Regeln sind ein schwieriges Thema für ihn. Vor allem kann er sie sich nicht merken und sie deshalb nicht einhalten. Luca wird fast nie zu Kindergeburtstagen eingeladen, hat kaum Freunde. Jedenfalls nicht in seinem Alter. Einer, der ihn versteht, der ihn als einer der wenigen in seinem Umfeld händeln kann, ist Willi, der 73-jährige Nachbar. Mehrmals die Woche kümmert er sich um den Jungen und verschafft den Eltern neben einigen anderen wenigen Freizeitassistenten etwas Raum zum Durchatmen. Zwischen Willi und Luca passt dann manchmal kein Blatt. Sie haben ihre ganz eigene Ebene gefunden.

Einen Babysitter für ihre drei Kinder haben die Bahners schon lange nicht mehr. Mehrere haben es mal versucht. Sie kamen alle am Ende nicht mehr wieder, waren überfordert mit der Situation.

Der Traum vom Wohnprojekt

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Zeugnis eines emotionalen Moments der Wut: Nach dem Tritt gegen die Tür saß auch bei Luca der Schreck tief © Michael Lübke

„Das Schwierigste ist der Umgang in der Gemeinschaft“, sagt Andreas Bahners. Am liebsten vermeidet es die Familie, mit Luca an gesellschaftlichen Anlässen teilzunehmen. Manchmal fragen die Leute dann: „Warum bringt ihr denn den Luca nicht mal mit?“ Das ist schnell beantwortet von Andreas Bahners: „Es hilft keinem.“ Wagen sie es zwischendurch doch einmal, ist das Stresslevel bei den Eltern konstant hoch. Und wieder fragen die Leute: „Warum stellt ihr euch so an?“ Nur die wenigsten können sich wirklich in ihre Lage hineinversetzen. FASD als Krankheitsbild spielt in der Gesellschaft eine unbedeutende Rolle, obwohl sie als häufigste angeborene Behinderung gilt. Es bedarf permanent Rechtfertigungen, Erklärungen. Und oft reichen nicht einmal die aus. Auch deshalb machen sich Anja und Andreas Bahners immer wieder Gedanken um die Zukunft. Wie es wohl werden wird, wenn sie sich eines Tages nicht mehr kümmern können. Sie träumen dann von einem Wohnprojekt für FASD-Erkrankte. Auf einem Hof am Niederrhein, fernab von den alltäglichen Gefahren der Stadt, soll Luca in ständiger Betreuung leben, sich gemeinsam mit den anderen Bewohnern ein Leben aufbauen, das gut für ihn ist, das er bewältigen kann, und vor allem eines, in dem er nicht allein ist. Denn Vereinsamung spielt eine große Rolle im Leben von Menschen mit FASD. Noch gibt es diesen Hof und dieses Wohnprojekt nicht. Aber Familie Bahners arbeitet daran, sucht nach einer Lösung und wird eine finden. Bis dahin ist noch Zeit. Mentale und praktische Unterstützung erhält Familie Bahners von Zeit zu Zeit durch ihre persönliche Coachin. In Bezug auf ein Leben mit FASD hat die Familie so schon manchen hilfreichen Tipp von ihr erhalten. Als die Diagnose im Februar 2020 endlich feststand, brauchten sie eine ganrotary aktuell ze Zeit, um sich daran zu gewöhnen. Viele Jahre mussten sie mit Ungewissheit und Fehldiagnosen leben. Das war nun vorbei. „Das Wichtigste war, zu verstehen, dass die Ausraster ein Zeichen von Überforderung sind, und zu akzeptieren, dass Luca manche Sachen einfach gar nicht lernen kann.“

Mit dieser Tatsache hat sich auch Daniela Nettig-Weich abgefunden. Sie lebt mit ihrem Mann und den zwei Pflegekindern Julia und Paul in Neusiedl am See in Österreich. Die beiden 15 und 16 Jahre alten Teenager sind leibliche Geschwister und kamen im September 2007 in ihre Familie. Das Ehepaar hatte nur eine schwammige Vorstellung davon, was auf sie als Pflegeeltern von alkoholgeschädigten Kindern zukommen würde. Julia kam damals mit einem Überwachungsmonitor und Paul hatte einen schiefen Mund und konnte nicht richtig essen. Das war nur der Anfang von einer beschwerlichen Laufbahn mit FASD-geschädigten Kindern. Daniela Nettig-Weich und ihr Mann nahmen die Herausforderung an. Als die beiden noch klein waren, kauften sie Paul ein Zelt, in dem er mit seinen Autos werfen konnte. Später, als er zwölf Jahre alt war und wieder einmal das Haus verwüstet hatte, ließen sie ihn einmal von der Polizei abholen und für ein paar Tage in ein psychiatrisches Zentrum bringen. Wenn das noch einmal vorkomme, sagten sie damals zu ihm, werden daraus sechs Wochen. „Das war heilsam“, sagt Daniela Nettig-Weich.

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FASD ist auch bei Familie Nettig-Weich aus Österreich dominierendes Thema. Pflegetochter Julia hat FASD. Hier lernt sie mit ihrer Mutter Daniela Nettig-Weich für die Schule © Werner Stuiber

Julia hat einen Grad der Schwerbehinderung von 70 Prozent mit Begleitperson. Paul ist kognitiv besser aufgestellt als seine Schwester. „Bei ihm war die leibliche Mutter zweimal sechs Wochen auf Entzug. Das dürfte ihm genutzt haben“, sagt Daniela Nettig-Weich. Der 16-Jährige hat nach einem erfolgreichen Hauptschulabschluss gerade eine Lehre als Einzelhandelskaufmann begonnen. Ihm zur Seite steht eine Arbeitsassistenz und in der Berufsschule eine Lernassistenz. Im Gegensatz zu Julia darf Paul allein raus, fährt etwa mit dem Moped zum Bahnhof und dann mit dem Zug zur Arbeit. Und seiner Mutter hat er schon eins versprochen: „Alkohol werde ich nicht trinken.“

FASD-Netzwerk gegründet

Daniela Nettig-Weich fühlte sich gerade in den ersten Jahren oft alleingelassen mit ihren Fragen rund um die Erkrankung. Es gab kaum Anlaufstellen, in denen sie kompetente Auskunft erhielt. Und so gründete sie schließlich mit drei anderen Betroffenen zusammen das FASD-Netzwerk Österreich. Auf der einen Seite möchte sie den Verein als Sprachrohr nutzen, um auf die Problematik aufmerksam zu machen, auf der anderen Seite möchte sie die Anlaufstelle sein, die sie seinerzeit so vermisst hat. Denn betroffene Eltern haben oft ähnliche Fragen, brauchen dieselben Hilfestellungen oder einfach jemanden, der genau weiß, wovon man spricht.

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Paul hat den Schulabschluss geschafft und eine Lehre als Einzelhandelskaufmann begonnen © Werner Stuiber

Ob sie ihre Entscheidung damals bereut hat? Keinesfalls. „Ich würde sie wieder treffen“, sagt Daniela Nettig-Weich aus voller Überzeugung. „Auch mit dem Bewusstsein, dass es schwierig werden kann. Weil ich weiß, dass ich es schaffe.“

Daniela Nettig-Weich und ihr Mann sowie Familie Bahners sind – wenn auch oft an ihre Grenzen gebracht – an den täglichen Herausforderungen und unzähligen Extremsituationen nicht zerbrochen, sondern gewachsen. „Es hat uns auf eine absurde Weise auch gestärkt“, sagt Anja Bahners und fügt hinzu: „Luca ist eins der größten Geschenke unseres Lebens.“

Nähere Infos, Hilfe und Austausch: Deutschland: fasd-deutschland.de
Österreich: fasd-netzwerk.at


Rotarische Initiative

Gegen den Mangel an Kompetenz und für die Sensibilisierung unserer Gesellschaft rund um das Thema FASD macht sich seit einem Vortrag von Andreas Bahners in seinem Rotary Club Düsseldorf-Süd auch eine Gruppe von Rotariern stark. Als Pilotprojekt soll ein Kompetenzzentrum für Prävention, Diagnose und Versorgung an der Universitätsklinik Düsseldorf gestartet werden. Dafür und für Folgeprojekte im Distrikt sowie langfristig auch in Deutschland und international ist auch ein Global Grant geplant. Breite Unterstützung findet das Thema auch in den Reihen der Governor aus dem Distrikt 1870. Der amtierende Governor Alexander Schröder-Frerkes sowie sein Nachfolger Gov. elect Hans-Eckard Langer und Gov. nominee Michael A. Thomas konnten dafür gewonnen werden, FASD jeweils in ihrem Governorjahr zu einem Schwerpunktthema zu machen.

Die rotarische Initiative möchte unter anderem präventiv Bewusstsein schaffen und dafür Rotarier mit persönlichen Wirkungshebeln in Politik, öffentlicher Verwaltung, Fachverbänden und Medien mobilisieren. Außerdem soll die Ausarbeitung einer geeigneten Richtline zur Bewusstseinsverstärkung in der Schwangerschaftsberatung mit qualifiziertem Nachweis, zum Beispiel im Mutterpass, unterstützt werden. Geplant ist außerdem die Gründung einer clubübergreifenden Initiative im Distrikt, deutschlandweit oder sogar international.

Am 7. Dezember 2022 um 20 Uhr wird ein Online-Vortrag über das Thema FASD und den Stand der rotarischen Initiative angeboten, bei dem auch Gelegenheit zu Fragen und Diskussion gegeben werden soll. Für die Anmeldung wenden sich interessierte rotarische Freunde aus Deutschland und Österreich per E-Mail an fasd@rc-d-sued.org.

 



 

Alkohol – Droge Nummer 1

In Deutschland wird zu geselligen Anlässen selbstverständlich Alkohol angeboten und konsumiert. Auch in der Schwangerschaft trinken circa ein Drittel der Frauen Alkohol und riskieren damit, dass ihr Kind eine fetale Alkoholspektrumstörung (FASD) entwickelt und unter einer lebenslangen Behinderung leidet. Aber: Alkohol in der Schwangerschaft ist nicht das Problem einer einzelnen Frau, sondern eine gesellschaftliche Herausforderung.

Prävalenz
In der Studie „Gesundheit in Deutschland aktuell“ gaben circa 20 Prozent der Frauen einen moderaten und circa acht Prozent einen riskanten Alkoholkonsum während der Schwangerschaft an. Rauschtrinken (≥ fünf Getränke pro Gelegenheit, entspricht zum Beispiel 1,5 Liter Bier oder 0,3 Liter Wein) zeigten zwölf Prozent der schwangeren Frauen seltener als einmal pro Monat, knapp vier Prozent jeden Monat und 0,1 Prozent mindestens jede Woche.

Aus der vorgeburtlichen Alkoholexposition resultiert die fetale Alkoholspektrumstörung (FASD) beim Kind. Sie ist mit einer statistisch geschätzten Inzidenz von 1,77 Prozent eine der häufigsten bei Geburt bestehenden chronischen Erkrankungen.


Zur Person

Priv.-Doz. Dr. Med. Dipl. Psych. Miriam N. Landgraf ist Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Schwerpunkt Neuropädiatrie, sowie Diplom-Psychologin. Die Oberärztin leitet das Deutsche FASD Kompetenzzentrum Bayern sowie die Spezialambulanz für Risikokinder mit Toxinexposition in der Schwangerschaft im iSPZ Hauner der Ludwig-Maximilians-Universität München


Risikofaktoren

Um zukünftige Eltern frühzeitig aufklären und auffangen zu können, ist es wichtig, Risikofaktoren für mütterlichen Alkoholkonsum in der Schwangerschaft und für die Entstehung einer FASD zu kennen. Ältere alleinstehende Frauen ohne Migrationshintergrund mit hohem sozioökonomischen Status, die rauchen oder illegale Drogen nehmen, die unbeabsichtigt schwanger oder die psychisch erkrankt sind oder deren Partner oder enge Bezugspersonen Alkohol trinken, haben ein erhöhtes Risiko, in der Schwangerschaft Alkohol zu konsumieren.

Das Risiko für das pränatal alkoholexponierte Kind, an FASD zu erkranken, steigt mit der Höhe und der Dauer des mütterlichen Alkoholkonsums vor und während der Schwangerschaft, dem mütterlichen Alter, einer Mangelernährung und dem Beikonsum anderer Drogen, dem väterlichen Alkoholkonsum, geburtshilflichen Komplikationen und möglichen genetischen Prädispositionen.

Das Zusammenspiel und die Gewichtung der verschiedenen Risikofaktoren sind komplex und nicht abschließend geklärt.

Das aktuelle internationale Expertenstatement lautet: Kein Zeitpunkt und keine Menge an Alkohol sind in der Schwangerschaft erwiesenermaßen unschädlich für das Baby.

Diagnose und Symptome
Zu den fetalen Alkoholspektrumstörungen gehören das fetale Alkoholsyndrom (FAS), das partielle fetale Alkoholsyndrom (pFAS) und die alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störung (ARND – alcohol-related neurodevelopmental disorder). Seit 2016 liegt für den deutschsprachigen Raum eine evidenz- und konsensbasierte S3-Leitlinie zur Diagnose von fetalen Alkoholspektrumstörungen bei Kindern und Jugendlichen von null bis 18 Jahren vor.

Die Einteilung der FASD in die Störungsbilder FAS, pFAS und ARND erfolgt anhand der vier diagnostischen Säulen:
1) Wachstumsauffälligkeiten,
2) faziale Auffälligkeiten,
3) Auffälligkeiten des zentralen Nervensystems (ZNS) und
4) pränatale Alkoholexposition.

Je nachdem, ob und in welcher Ausprägung die Kriterien der diagnostischen Säulen erfüllt sind, wird die Diagnose eines der drei Störungsbilder gestellt.

Allein aufgrund der Diagnose FAS, pFAS oder ARND lassen sich keine Rückschlüsse auf eine geringe oder schwere Beeinträchtigung ziehen. Alle an FASD erkrankten Menschen leiden an strukturellen und/oder funktionellen Auffälligkeiten des zentralen Nervensystems, die zu signifikanten Einbußen in ihrer Selbstständigkeit, Alltagsfunktionalität und Lebensqualität führen.

Zu den Symptomen bei Kindern mit FASD gehören – neben möglichen Wachstums- und Gesichtsauffälligkeiten – vielfältige und schwerwiegende Einschränkungen in der Entwicklung, Kognition/Intelligenz, in der Regulation von Gefühlen und in der sozialen Interaktion. Die Belastung der erkrankten Kinder, ihrer Familien und ihrer Umgebung ist immens und wird von Fachkräften in Deutschland sehr häufig unterschätzt. Eine deutschlandweite Bedarfserhebung unter Familien mit Kindern und Jugendlichen mit FASD zeigte, dass ein großer Mangel an Wissen der Professionellen (Ärzte, Psychologen, Pädagogen, Lehrer etc.) vorhanden ist, dass die Fachkräfte nicht ausreichend kommunizieren und Hilfen für die Familien nicht koordiniert werden. Auch existieren viel zu wenige Unterstützungsstrukturen für Kinder und Jugendliche mit FASD, wie zum

Beispiel adäquate, an das Störungsbild angepasste Freizeitangebote und Rehabilitationsmaßnahmen sowie Wohn- und Ausbildungsmöglichkeiten.

Prognose
Auch wenn die möglichweise vorhandenen Auffälligkeiten des Wachstums und des Gesichtes bei Erwachsenen mit FASD häufig weniger prominent sind, führt die aus der vorgeburtlichen Alkoholexposition resultierende Gehirnschädigung beziehungsweise Gehirnentwicklungsstörung zu lebenslangen Beeinträchtigungen. Laut einer deutschen Studie hatten 61 Prozent der Erwachsenen mit FASD ihre Schullaufbahn abgebrochen und nur 13 Prozent einmalig einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt. Nur circa ein Drittel der erwachsenen Patienten mit FASD konnte ein selbständiges Leben führen, zwei Drittel lebten betreut, in Institutionen oder auch im Erwachsenenalter noch mit den Eltern. In einer amerikanischen Studie berichteten 67 Prozent der Menschen mit FASD über erlebte körperliche oder sexuelle Misshandlung und 60 Prozent gerieten in Gesetzeskonflikte. Auch die Prognose hinsichtlich psychiatrischer Sekundärerkrankungen ist laut einer anderen amerikanischen Studie beunruhigend: Alkohol- und Drogenabhängigkeit bei 55 Prozent, Depressionen bei 37 Prozent, Angststörungen bei 27 Prozent, Psychosen bei 40 Prozent und suizidale Gedanken und Handlungen bei 55 Prozent der Menschen mit FASD. Positive Faktoren für die Prognose sind eine frühzeitige Diagnose, ein stabiles, förderndes Umfeld und keine Gewalterfahrung.

Therapie
Die fetale Alkoholspektrumstörung ist biologisch nicht reparabel, funktionelle Therapie ist jedoch möglich und effektiv. Die frühzeitige Diagnose ist die Basis für die Planung und Durchführung einer an die alkoholtoxische Gehirnschädigung und an das individuelle neuropsychologische Profil des Kindes angepasste Therapie. Ein weiterer wichtiger Baustein ist die Beratung und kontinuierliche Unterstützung der Eltern, um eine Erwartungshaltungsänderung hinsichtlich der Möglichkeiten ihres Kindes herbeizuführen, die elterlichen Kompetenzen zu stärken und die Stabilität des Familiensystems zu erhalten. Ein FASD-erfahrenes Diagnostik- und Koordinationszentrum für die erkrankten Kinder, ihre Familien und betreuende Fachkräfte, wie dies in München als Pilotprojekt mit iSPZ Hauner und dem Deutschen FASD Kompetenzzentrum Bayern realisiert wurde, ist für die Effektivität der Hilfen dringend erforderlich.

Multiplikatoren
Durch Ihre ganz persönliche Informationsweitergabe über das Risiko von Alkoholkonsum für das Kind und über die Schwere der Erkrankung FASD – sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld – tragen Sie dazu bei, dass weniger Alkohol in der Schwangerschaft konsumiert wird und dass Kinder, die an FASD erkrankt sind, eine bessere Versorgung erhalten.

Nähere Informationen und Kontakte: deutsches-fasd-kompetenzzentrum-bayern.de