Forum November 2021
Das Ende des Schweigens
Wie kuratiere ich eine Ausstellung zum Thema Suizid? Diese Frage ist beantwortet, vom Museum für Sepulkralkultur in Kassel. Unter dem Titel „Suizid – Let’s talk about it“ ist noch bis zum 27. Februar eine Sonderausstellung zu sehen. So schwierig dieses Thema gesellschaftlich ist, so wichtig ist die Auseinandersetzung damit. So bedeutsam auch diese Ausstellung.
Unter dem Titel „Suizid – Let’s talk about it“ ist noch bis zum 27. Februar eine Sonderausstellung zu sehen. So schwierig dieses Thema noch immer gesellschaftlich ist, so wichtig ist die Auseinandersetzung damit, so bedeutsam auch diese Ausstellung.
Am Anfang der Ausstellung lässt das Museum Fakten sprechen. Zu viele, um sie sich zu merken, und doch nicht wenige, die im Gedächtnis bleiben. Auch, weil einige überraschen. Alle 40 Sekunden nimmt sich ein Mensch auf der Welt das Leben. Alle fünf Minuten findet ein Suizidversuch in Deutschland statt. Das Suizidrisiko steigt mit dem Alter und die meisten Menschen denken mindestens einmal im Leben an einen Suizid. „Es nehmen sich mehr Männer als Frauen das Leben“, berichtet Kuratorin Tatjana Ahle. Für viele Besucher sie dies eine überraschende Erkenntnis.
Auf einer Schautafel sind die Suizidraten aller Länder, geschätzt von der Weltgesundheitsorganisation (WHO), abgebildet. Eine Zahl fällt sofort ins Auge. 72,4 steht beim kleinen südafrikanischen Land Lesotho. Bedeutet: 72,4 Menschen je 100.000 Einwohner nehmen sich das Leben. Trauriger Weltrekord. „Aus der Forschung weiß man, dass Lebensstandard, Krisen und Katastrophen wesentliche Einflussfaktoren sind“, sagt Ahle. In Lesotho sei der Lebensstandard niedrig, die meisten Menschen würden von Viehzucht und Ackerbau leben. Die schwieriger werdenden klimatischen Bedingungen und damit verbundene anhaltende Dürreperioden erschweren das Leben in dem kleinen Land, was vollständig von der Republik Südafrika umschlossen ist.
Diese Hintergrundinformation erfährt der Besucher mit Blick auf die Tafel nicht, die Zahlen sollen nur zeigen, wie wichtig das Thema ist, wie präsent es eigentlich in der Gesellschaft sein müsste – und doch nicht ist. „Suizid ist eine Leerstelle in unserer Gesellschaft“ steht es im ersten Raum geschrieben. Darunter „Suizide sind stigmatisiert“. Sätze, die nicht nur den gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema Suizid beschreiben, sondern zugleich die Sonderausstellung rechtfertigen. Eine Ausstellung, die gar keine Rechtfertigung benötigt.
Ihre Stärke liegt zum einen darin, dass keine prominenten Suizidfälle thematisiert werden. Es geht nicht um Cleopatra, Ernest Hemingway, Kurt Cobain oder Robert Enke. Es geht um das Thema an sich, den gesellschaftlichen Umgang damit, die Wiederspiegelung in der Kunst und selbstverständlich auch um gesetzliche Rahmen, die gelegt sind.
Jeder Raum trägt einen anderen Titel, steht für sich und ist doch ein wichtiges Puzzlestück in der Gesamtbetrachtung der Thematik. Drei Jahre lang hat das Museum in Zusammenarbeit mit der Universität Kassel diese Sonderausstellung vorbereitet. „Suizid war nie zuvor Thema einer Ausstellung hier“, erklärt Tatjana Ahle. In ihrer Stimme schwingt Unverständnis mit. Das Museum besteht seit 1992 in Kassel und ist in seiner Form einzigartig in Deutschland. Umso bedeutsamer ist nun diese Sonderausstellung.
Zu sehen gibt es etwa drei Fotografin der taiwanesischen Künstlerin Donna J. Wan. Sie sind Teil der fotografischen Reihe „Death Wooed Us“ (übersetzt: Der Tod hat uns umworben). Die Landschaftsaufnamen, auf allen ist Wasser zu erkennen, haben alle zwei verbindende Elemente. Sie zeigen einen zu unterschiedlichen Tageszeiten und aus unterschiedlichen Perspektiven aufgenommenen besonders frequentierten Ort des Suizids. Die zum Teil mystisch wirkenden Fotografien erhalten so alle eine tragische Note und gehören zur Golden Gate Bridge Series innerhalb der umfangreichen Fotografiearbeit. Was diese drei Fotografien ebenfalls miteinander verbindet: Sie zeigen den Ort, den Donna J. Wan sich einst selbst für ihren Selbstmord aussuchte. Sie konnte ihre eigene Suizidalität, die sie während einer Phase postnataler Depression durchlitt, überwinden. Die Fotografien sind Ausdruck und Beleg dieser Überwindung und somit von umso stärkerer Wirkung.
Eindrücklich wie bedrückend ist auch der Spielfilm des estnischen Künstlers Jaan Toomik. „Oleg“ ist ein autobiografisches Werk und erzählt vom Selbstmord des sowjetischen Soldaten Oleg Portnoi, der einst mit Jaan Toomik zusammen in der sowjetischen Armee diente.
Oleg nahm sich das Leben, da er die ständigen Anfeindungen, denen er als jüdischer Este in der Sowjetarmee ausgesetzt war, nicht mehr ertragen konnte. Jaan Toomik rekonstruiert in dem Film, wie es zu dieser Tragödie kommen konnte, welche Gespräche Oleg vor seinem Suizid führte und wie er diesen ankündigte.
Die Ausstellung „Suizid – Let’s talk about it“ ist weit mehr als nur eine wissenschaftlich-künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema Selbstmord. Sie bietet zugleich die Möglichkeit der Kontaktaufnahme. Menschen, die Selbstmordgedanken hegen oder Menschen kennen, die Selbstmord-gefährdet sind, dürfen sich vertrauensvoll an die Mitarbeiter des Museums wenden. Sie wollen eine niederschwellige Anlaufstelle bieten. Passend dazu gibt es wöchentlich eine Diskussionsrunden. Somit wird die Sonderausstellung „Suizid – Let’s talk about it“ auf gleich drei Ebenen ihrem Titel gerecht. Sie schafft dringend benötigte Perspektiven bei einem bedrückenden und bedeutendem Thema.
Weitere Infos zur Ausstellung sowie zu den Öffnungszeiten des Museums finden Sie auf der offiziellen Webseite: www.sepulkralmuseum.de
Copyright: Andreas Fischer
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