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Die Nato in einer Welt ohne Weltordnung

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Die große Allianz steht vor Herausforderungen, für die sie nicht erschaffen wurde. Die europäischen Bündnispartner müssen zusammenstehen und brauchen die USA.

Michael Stürmer01.01.2020

Nichts, so weiß es jede Public-Relations-Abteilung, ist so erfolgreich wie der Erfolg.  Ob das aber auch, hier und jetzt,  für die Große Allianz gelten kann, die nach dem Zweiten Weltkrieg binnen weniger Jahre  die Alte Welt ins Leben zurückrief, Teil eines Grand Design zur Rettung des Westens und seiner freiheitlichen Zivilisation, ist längst nicht mehr so sicher. Anders gefragt und anders gesagt: Die Nato, die wie einst die Royal Navy als „force in being“ den Frieden durchsetzte, befindet sich in einer strukturellen Dauerkrise. Doch jene europäische Streitmacht, die viele herbeifantasieren, ist noch lange nicht Mitspieler im Weltgeschehen. Deutschlands Beitrag bleibt auf Dauer zurück hinter dem geopolitischen Gewicht des Landes – nicht allein wegen der Unwilligkeit der Bürger, sondern auch wegen des Nuklearverzichts, der die Entstehung der Bundeswehr begleitete und 1990 im Zuge von „Zwei plus Vier“ erneuert wurde. Nukleare Gestaltungsmacht, wie Großbritannien sie hat und Frankreich noch mehr,  ist  aber nicht teilbar. In den Worten des Generals de Gaulle: „Le nucleaire se partage mal“. Ohne die USA gibt es weder erweiterte Abschreckung noch europäisches  Gleichgewicht. Alle strategische Architektur – Nato im Mittelpunkt – muss mithin mit den Gefahren der Epoche beginnen und mit der Rolle der USA enden.  

Doch die USA, wiewohl noch immer die „indispensable nation“ der Clinton-Jahre, zeigen und zeigten nicht erst unter Donald Trump, sondern auch schon zu Zeiten Barack Obamas unübersehbar Zeichen imperialer Ermüdung. Die Krankheit namens „Imperial Overstretch“, die bisher noch alle Imperien und Bündnisse befiel, produziert im Fall USA unüberhörbar Symptome der Übermüdung. Das amerikanische Sendungsbewusstsein hat seine Grenzen erreicht und überschritten. Donald Trump, von Beruf Baulöwe, nannte das Bündnis, lange bevor ihn die Wähler ins mächtigste Amt der Welt sandten, obsolet. In der Tat, niemand kann sagen, ob und inwieweit das Bündnis noch ernstfallfähig ist, wenn es – für Abschreckung, Krisenmanagement oder zur bewaffneten Intervention – zum Testfall kommt. Weltpolitik aber braucht nicht nur die Hardware der Macht, sondern auch Berechenbarkeit und Verlässlichkeit.

Präsident Barack Obama, im Sommer 2006 auf Abschiedsreise an der Ostsee, versicherte den Balten, Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrages über Beistand im Bündnisfall schütze sie wie eine Mauer aus Stahl. Wer indes den Text prüft und noch mehr, wer die Bündnispartner konsultiert, muss ernste Zweifel haben: Artikel 5 über den Beistand, der alles zusammenhalten soll, ist nicht mehr, was er zu Zeiten des Kalten Krieges einmal war, sondern, wie John McCain, der mächtige US-Senator, bei der „Wehrkunde“-Konferenz  in München 1994 bemerkte: „Anything, from a nuclear response to a postcard, with regrets“. Die Europäer, am meisten die Bundesrepublik Deutschland, werden ohne Verzug lernen müssen, was das zu bedeuten hat – spät, aber nicht zu spät.

Wer ist eigentlich der Feind?

Zuletzt verstärkte den Chorus der Nato-Kritiker Frankreichs jugendlicher Staatspräsident Emmanuel Macron im Interview mit dem Londoner „Economist“ (9. November 2019), als „brain dead“ – während die Welt dahintaumelt „on the edge of a precipice“ (am Rande eines Abgrunds). Der Herr des Élysée hat dann noch einmal nachgelegt mit der Feststellung, nicht Putins Russland sei der Feind, sondern der (islamistische) Terror. Ein ernstes Zerwürfnis zeichnet sich ab über die Politik der nuklear bewaffneten Mittelstreckenraketen mit Reichweiten zwischen 2000 und 3000 Kilometer – deutlicher gesagt von Kaliningrad/Königsberg wäre jede europäische Hauptstadt zu vernichten, ohne dass die USA unausweichlich einbezogen wären. Während die Nato Russland vorwirft, das INF-Abkommen von 1987 über Doppel-Null zu verletzen – damals Teil des großen kontrollpolitischen Streits zwischen den Weltmächten – bestreitet Moskau alle bösen Absichten, von Vertragsverletzung nicht zu reden, und bietet ein Moratorium an. In der Nato gilt dies als Falle und erneuter Ansatz zur politischen Abkoppelung der Europäer von den USA und wird daher abgelehnt. Frankreich unter Macron dagegen will sich auf die russische Version einlassen, strebt auf die Dauer autonome europäische Verteidigung an und sucht Distanz und strategische Autonomie von der Nato und dem damit verbundenen Übergewicht der Angelsachsen. Eine neue INF-Krise, wie in den 1980er Jahren, steht ins Haus – diesmal aber mit den USA nicht als Führungsmacht, sondern auf Distanz. Großbritannien in den Fieberphantasien des Brexit, hat andere Sorgen.

Auf dem Weg zur Nato-Schelte war die Bundeskanzlerin 2017 mit einer Rede in Trudering bei München vorausgeeilt mit einem unbedachten Wort, das weltweit Alarm auslöste: Auf die alten Freunde sei nicht mehr Verlass und man müsse sich nach neuen Sicherungen umschauen: Welche aber? Die Antwort blieb sie bis heute schuldig, den Deutschen selber und der Welt. Die strategische Debatte, zuerst und vor allem über die Zukunft der Nato, wurde sich selbst überlassen. Ende November 2019 veröffentlichte die Koerber-Stiftung dann eine Umfrage zur Außen- und Verteidigungspolitik: Im Ergebnis war noch eine äußerst knappe Mehrheit der Deutschen der Meinung pro Nato, der Rest wünschte sich eine andere europäische Sicherheitsarchitektur, mit möglichst wenig USA im Gefüge – nicht ahnend, dass dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt und beim heutigen Ausrüstungsstand der Bundeswehr und verbündeter Streitkäfte einem Messer ohne Klinge und ohne Heft gleicht. Nach Jahrzehnten der Vernachlässigung, der Bequemlichkeit und des Abbaus militärischer Fähigkeiten fehlt es an nahezu allem: Kommandostrukturen, nuklearer Schutzschirm und moderne Waffensysteme. Die digitale Revolution kommt allenfalls nachrichtlich vor. Am Ende der seit langem ersten großen Beschäftigung des Bundestages mit Außen- und Sicherheitspolitik am 28. November 2019 stand das Eingeständnis der Kanzlerin, der Status quo, zwar verbesserungsbedürftig, sei nicht so schlecht. Die Bundeskanzlerin, ohne es ausdrücklich zu sagen, schluckte die Rätsel- Worte von Trudering „Wir sind auf dieses transatlantische Bündnis angewiesen“. Enthusiasmus pro Nato und Vertrauen auf amerikanische Führung in kommenden Stürmen klingt anders.

Die Stille vor dem Sturm
Die Krise des Bündnisses kam nicht wie der Dieb in der Nacht. Es gab seit dem Ende Kalten Krieges nicht wenige Warner, die die Fukuyama-Mär vom „End of History“ für Selbsttäuschung hielten, strategische Null-Option. Als Botschafter Henning Wegener, damals Stellvertretender Nato-Generalsekretär, 1994 vom nahenden „Hufschlag der apokalyptischen Reiter“ schrieb, traf er auf blankes Unverständnis, namentlich in aufgeklärten Kreisen der deutschen Politik und Publizistik. Wer wollte schon wissen, dass, wenn das Eis des Kalten Krieges schmolz und in großen Platten talabwärts ging, die älteste und die neueste Geschichte ein starkes Wort mitzureden hatten? Die deutsche Einheit war nur möglich in einer unerhörten und nicht ungefährlichen Atempause der Geschichte, als die Sowjetunion kollabierte und die USA noch einmal Führung zeigten. Dieselbe Weltkrise indes, die die Neuordnung des östlichen Europas vorantrieb, machte diesen Prozess auch lebensgefährlich. Denn, wie Bismarck einmal seine Nachfolger warnte, auf das große Los ist nicht dauerhaft zu setzen.

Das Wunder der deutschen Einheit war nur möglich in jenem knappen Zeitraum zwischen dem Fall der Berliner Mauer und dem Zweiten Golfkrieg. Was dazwischen lag, war das von Kanzler Kohl oft beschriebene „Window of Opportunity“. Doch was viele als Ende der Geschichte wahrnahmen – Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen – war in Wahrheit die Stille vor dem Sturm. Darauf aber waren die Staatskanzleien von Bonn bis Washington schlecht vorbereitet. Ähnliches galt auch für die Nato-Stäbe und die Politik, die sie lenken sollte – und es doch nicht tat. Der Anstrengung des Kalten Krieges folgte keine Belle Époque, sondern nur ein gefährliches Wunschbild. Darauf war der Westen nicht vorbereitet – weder konzeptionell noch materiell.

Während im Kaukasus selbsternannte Gotteskrieger die Sowjetmacht zum Teufel wünschten, geriet der Balkan in Brand, und in Afghanistan übernahmen die Taliban die Macht. Mit „Nine/Eleven“, als das ikonische World Trade Center in Downtown Manhattan zu Schutt und Asche wurde, das Pentagon der Katastrophe nur knapp entging und der Angriff auf das Weiße Haus durch beherzte Passagiere vereitelt wurde, begann mit einem Donnerschlag das Zeitalter des Terrorismus, des asymmetrischen Krieges und des globalen „Djihad“.

Dafür war die Nato nicht gemacht, dafür waren die Soldaten nicht ausgerüstet und nicht ausgebildet. Darauf war auch die deutsche Politik nicht vorbereitet, die mit der Definition der Parlamentsarmee Verantwortungen zu übernehmen hatte, von denen die Abgeordneten noch zwei Tage zuvor nichts geahnt hatten.

In dieser Lage  gab es nur zwei Optionen: Die Krise den US-Marines und special ops zu überlassen und ihnen alles Gute zu wünschen – oder den Nato-Fall des Artikel 5 zu erklären und den Amerikanern unbegrenzte Hilfe anzubieten. Der knorrige Schotte Lord Robertson, vordem Labour-Abgeordneter und britischer Verteidigungsminister, rettete die politische Lage – und möglicherweise des Bündnis, indem er den Amerikanern aktive Hilfe anbot und den Nato-Rat umgehend dazu bestimmte, erstmals in der Geschichte des Bündnisses und anders als jemals geplant und geahnt, Artikel 5 zu aktivieren.

Suche nach nuklearer Autonomie
„Brain dead“ nennt heute Macron den Zustand des großen Bündnisses. Man könnte ihm die Frage entgegenhalten, wo denn Frankreich war, als die Nato sich neu erfinden musste in den Konvulsionen des großen Umbruchs, der 1989 stattfand und noch lange nicht zur Ruhe gekommen ist. Macron hat stattdessen die großen Stiefel des General de Gaulle angezogen, legendärer Gründer der Fünften Republik, der nie aufhörte, den „Anglo-Saxons“ zu misstrauen. Auch de Gaulle hatte schon die europäische Antwort auf die atlantische Unsicherheit im Sinn, konstatierte aber zugleich, dass nukleare Entscheidungsmacht nicht teilbar ist, auch nicht mit Deutschland. Er insistierte deshalb auf nuklearer Autonomie, um dann doch wieder politische Führung für die „Grande Nation“ zu suchen – mit Deutschland als Juniorpartner.

Eine zweite Chance gibt es nicht
Doch weder in Bonn und Berlin noch in Washington oder London hat man jemals die Antwort auf so viele Widersprüche gefunden. Geschichte und Geographie Europas stehen auch heute einer europäischen Antwort auf die Wirren der Welt entgegen, die doch dringend gebraucht wird, um dem Alten Kontinent ein auskömmliches Maß an Mitsprache zu sichern in einer Welt ohne Weltordnung. Mit der Nato und dem amerikanischen Beistandsversprechen wird das schwierig, ohne wird es unmöglich.

Nicht allein das Nukleare heischt heute Antwort, sondern auch die digitale Revolution – sie hebt Theorie und Praxis der Abschreckung aus den Angeln. Der erdnahe Weltraum kann unumkehrbar zum Kampffeld werden. Das Zeitalter der Rüstungskontrolle und der vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen ist vorbei. Es gibt die Strategic Community nicht mehr, die im Kalten Krieg den Dialog der Weltmächte kultivierte und die philosophischen Grundlagen schuf, um der düsteren Theorie der „Mutual Assured Destruction“ (Gleichgewicht des Schreckens) ein Minimum an Zurückhaltung und Vertrauen entgegenzusetzen.

Der Aufstieg Chinas zur Weltmacht verschiebt die tektonischen Platten zwischen den Kontinenten. Ob Russland künftig als Klient des Reichs der Mitte endet oder sich seiner europäischen Vergangenheit entsinnt, davon hängt viel ab. Entscheidend bleibt, dass die atlantischen Nationen, mit den USA noch einmal in der Rolle des „balancer from beyond the water“ in der Nato, wie früher schon, ihre eigenen vitalen Interessen wiedererkennen. Dafür allerdings müssen zuerst die Europäer begreifen, dass, wenn die Nato weiter in Verfall gerät, es schwerlich eine zweite Chance gibt.

Michael Stürmer
Prof. Dr. Michael Stürmer ist seit 1998 Chefkorrespondent der Welt und Welt am Sonntag. Von 1988 bis 1998 war er Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, von 1980 bis 1986 außenpolitischer Berater von Bundeskanzler Kohl.
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