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Die strategische Bedeutung der Ressourcen und des Energiepreises für Wohlstand und Sicherheit unserer Gesellschaft

Der Ernst der Lage

Vor vier Jahren wurde – als Reaktion auf die Reaktor-Katastrophe im japanischen Fukushima – in Deutschland der Ausstieg aus der Kernenergie und der Ausbau einer nachhaltigen Versorgung mittels erneuerbaren Energien beschlossen. Über den richtigen Weg zu diesem Ziel wird seitdem gestritten. Kritikpunkte sind u.a. die steigenden Strompreise und die Frage, wie die durch Wind- und Wasserkraft gewonnene Energie zu den Verbrauchern kommt. Anmerkungen zu einem Kernthema unserer Volkswirtschaft und Gesellschaft.

Michael Stürmer01.07.2015

„Money is what makes the world go round“ – so  beginnt die Pop-Nationalhymne des amerikanischen Kapitalismus. „Alles entwickelt sich in Abhängigkeit vom Ölpreis“ – so hat der russische Präsident Wladimir Putin den Text erweitert, als er vor ein paar Jahren im Katharinensaal des Kreml den „Valdai“-Club empfing – eine Gruppe vom Diplomaten, Wissenschaftlern und Ex-Spionen aus dem Westen.

Energie ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Energie – so kann man zusammenfassen, was Ost und West trotz aller Konfrontation auch heute noch verbindet, jedenfalls in der Theorie. Denn es gibt nur einen Ölmarkt in der Welt, von Rotterdam bis Yokohama, von Ingolstadt bis Chanty-Mansisk – auch bekannt als Arena des Wintersports in West-Sibirien –, und vom Ölmarkt, heute oben und morgen unten, wird auch der Markt für Erdgas weitgehend bestimmt.

Krisenhafte Rahmenbedingungen

Ob sich „Fracking“, die Gewinnung von Schiefergas aus brüchigem Gestein, auf die Dauer durchsetzt und alle Umweltbedenken überwindet, ist zur Zeit eine offene Frage; in Deutschland anders beantwortet als in den Vereinigten Staaten, in den Niederlanden anders als in Polen. Die Antwort kann allerdings entscheidend sein für wirtschaftliches Wachstum und die Stellung der Staaten und ihrer Industrien in der Welt. Die Energiemärkte sind im Sommer 2015 in Bewegung wie lange nicht mehr, und wer sagen könnte, wo in einem Monat, in einem Jahr, gar in zehn Jahren der Ölpreis für längere Zeit zum Halten kommt, nach unten oder nach oben, der wäre der Meister des Spiels, und könnte durch Termingeschäfte sehr schnell sehr reich werden. Aber diesen Meister gibt es nicht, nicht im Gazprom-Tower in Moskau, nicht bei J P Morgan in der New Yorker Wall Street. Und nicht einmal im Berliner Bundeskanzleramt, wo 2011 nach dem Doppeldesaster im japanischen Fukushima in einer wahlpolitischen Schrecksekunde die „Energiewende“ verkündet wurde. Bisher allerdings ist offen, ob es sich um eine Wende ins Nichts handelt oder in eine neue Technologie. Zu viele Faktoren sind im großen Spiel um Öl und Petrodollars, um Pipelines,  Speicherkapazitäten, weltweit mehr als 150 neue Atomkraftwerke, Umbrüche von neuen Technologien bis zu Kapitalkosten, in eine einzige dynamische Gleichung zu bringen.

Industriestandort Deutschland. Zur Zeit brummt es zwischen Alpen und Ostsee. Der Euro wird zur Weichwährung, den einen ein Sorgenkind, den anderen ein Wohlstandsbringer, die Zinsen für solideste Bundesanleihen liegen nahe Null, die Arbeitslosigkeit ist gering, die Bundesanstalt in Nürnberg sammelt mehr ein als sie auszugeben hat, der Dax bewegt sich zum Zeitpunkt, da dieser Artikel geschrieben wird, oberhalb von 11.000 Zählern. Alles bestens – oder nicht?

Unklare Zukunft

Die Schatten werden länger. Das Land lebt über seine Verhältnisse, und für die Zukunft ist schlecht vorgesorgt. In den Blick auf Kinder und Enkel mischt sich Sorge. Es könnte sein, dass die besten Zeiten vorbei sind. Seit mehr als drei Jahrzehnten ist deutlich, dass die statistischen Deutschen nicht nur länger leben, sondern dass sich auch die Balance zwischen Jung und Alt unaufhaltsam verschiebt. Von dem vielgerühmten deutschen Sozialvertrag ist der Satz geblieben: Erst wollen sie keine Kinder machen, und dann wollen sie nicht sterben. Während die Rente nach einem Arbeitsleben mal hinausgeschoben, mal wieder früher ins Haus steht, je nach Berliner Parteienkonstellation, zeichnen sich Verteilungskämpfe zwischen den Generationen ab, wie nie zuvor. Ein Vorbote ist der Mangel an qualifiziertem Personal, vom Facharbeiter bis zum digitalen Whizkid. Dass Einwanderung den Mangel auffüllen kann, ist bisher nur eine Hoffnung, zumeist vergeblich. Stattdessen werden Kommunen und Sozialhaushalte belastet und überlastet durch die wachsende Zahl der Flüchtlinge, Kriegsflüchtlinge, Armutsflüchtlinge, Chaos-Flüchtlinge – ohne Aussicht, dass die zerfallenden Staaten im arabischen Krisenbogen oder südlich der Sahara jemals wieder zur Ruhe kommen: Ihre Bevölkerungsexplosion, die seit dreißig Jahren anhält und mehr und mehr Europas Gleichgewichte gefährdet, am sichtbarsten die Verteilungsprobleme zwischen den EU-Staaten, verändert die tektonischen Platten und überlastet den Sozialvertrag.

Innere Verwerfungen kündigen sich allenthalben an, und noch mehr in der Staatenordnung. Warnend hat der weise George Shultz, US-Außenminister unter Ronald Reagan 1987–1991, die Lage Russlands beschrieben: ein verwundeter Grizzly-Bär, stark und unberechenbar und mit langem Gedächtnis.  Seit dem russischen Zugriff auf die Halbinsel  Krim, im Mittelpunkt der Kriegshafen Sebastopol, ist Völkerrecht nur noch ein Fetzen Papier. Krieg ist wieder denkbar, und in der Form des Hybridkrieges ist er tägliche Wirklichkeit zwischen Russland und der Ukraine – mit dem restlichen Europa als hilflosem Zuschauer, der betreten wegblickt und keine Antwort weiß. Was das Nordatlantische Bündnis noch leisten kann, jenseits der Abschreckung und eines unbestimmten Beistandsversprechens, möchte kein vernünftiger Mensch getestet sehen. Aus der Verheißung, die vor 25 Jahren den Zeitgeist traf, es sei nunmehr „End of History“ angesagt (Francis Fukuyama von der RAND-Corporation und dem State Department) ist nichts geworden: Alle weitere Geschichte sei eine Sache von Demokratie und freiem Unternehmertum, Soldaten und Spione brauche man nicht mehr zu bezahlen, und Waffen gehörten möglichst umgehend abgeschafft. Um ein Beispiel zu nennen: Von den 5.000 Hauptkampfpanzern, welche die Amerikaner 1989 in Europa hatten, sind 29 geblieben (in Worten: neununzwanzig). Die Bundeswehr rüstete ab und um und sah künftige Einsatze nur noch in fernen Ländern, und mit geringem Einsatz. Dass auf diese Weise gefährliche und verführerische Ungleichgewichte entstanden, daran hat erst wieder Wladimir Putin mithilfe eines Krieges erinnert, von dem er behauptet, Russland habe damit nichts zu tun. Es war, inmitten des großen Aufatmens nach dem Kalten Krieg, in Wahrheit die Zeit der Kassandras, deren Schicksal bekanntlich darin besteht, alles zu ahnen und immer ungehört zu bleiben und zu weinen vor den Palästen.

Zuletzt und vor allem: Energiesicherheit, Energiepreis und Energiewende. Für den Standort Deutschland ist dies die ernsteste Frage, weil sie längst auf Investitionen und das Bild der Zukunft beherrschenden Einfluss nimmt. Die berufenen Vertreter der Industrie im Lande haben bisher merkwürdig verhalten reagiert und  Bedenken nur vorgebracht, wenn keiner es hörte. Umso deutlicher fiel die Kritik an der Energiewende aus, die jetzt in einem gemeinsamen Namensartikel der Vorsitzende der Gewerkschaft Chemie Bergbau Energie, Vassiliadis und der Aufsichtsrats-Vorsitzende der BASF Jürgen Hamprecht zu Protokoll gaben. „Auf dem Weg in die Sackgasse“. Zusammenfassung: „Die Kosten laufen aus dem Ruder, gesetzte Ziele werden reihenweise verfehlt, und längst fällige Korrekturen nicht vorgenommen“.

Im Kanzleramt wird man solche Wahrheiten ungern gelesen haben. Energiesicherheit ist ein weites, global bedingtes Feld. Die deutschen Risiken, zumal wenn die Energiewende Ausgleich durch Erdgas verlangt, sind auf das engste verbunden mit dem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Allzulange hat man in Berlin und noch mehr in Industriekreisen die Ukraine als unordentliches Zwischenland betrachtet und ihre Strukturschwächen als internes Problem minimalisiert. 2008 allerdings drohten die Russen mit Krieg für den Fall, dass die Nato es ernst meine mit der Mitgliedschaft der Ukraine: Der aus Washington angebotene Membership Action Plan wurde daraufhin wegen deutscher und französischer Bedenken zurückgezogen, dagegen künftige Mitgliedschaft in Aussicht gestellt – mit offenem Datum. Die Russen werden auf ihre Drohung zurückkommen.

Der Ernst der Lage

Wie ernst die Lage ist, und wie ungesichert, ist der Öffentlichkeit nicht hinreichend klar, und man muss wohl auch hinzufügen, dass der deutschen Politik bisher zu einem „Grand Bargain“ mit Russland nicht viel eingefallen ist außer Sanktionen und mehr. Was aber den Kreml nicht beeindruckt. Dabei lehrt die Erfahrung, dass über Wohl und Wehe der industriellen Demokratien nichts so sehr entscheidet wie der Energiepreis. Als Warnung könnte man die Geschichte der Nachkriegszeit anhand der Preisnotierung für Öl schreiben:

Deutschlands Wirtschaftswunder gründete auf dem Marshall-Plan, der Bindung der D-Mark an den Dollar und billigem Öl. Damit war es zu Ende, als wegen Vietnam die Goldbindung des Dollar endete und nahezu gleichzeitig die OPEC, als Antwort der Arber auf die Niederlage im Yom Kippur-Krieg 1973, die Produktion drosselte und die Preise hochzog. In Europa brach Aschermittwochstimmung aus. Willy Brandt („Mehr Demokraie wagen“) stürzte und Helmut Schmidt wurde oberster Krisenmanager: „Ende der Fahnenstange“. 1979 folgte, als der Ayatollah den Iran in eine blutige Revolution stürzte, die zweite Ölpreisspitze – und in ganz Europa stürzten Regierungen und verschärften sich die sozialen Kämpfe.

Schmidt stürzte über den Protest der eigenen Partei. Die Bühne betrat  Helmut Kohl– und hatte Glück. Denn im Sommer 1986 geschah das Unerwartete: Der Ölpreis taumelte und stürzte ab. Was war geschehen? Im Irak-Iran-Krieg waren die Iraner am Siegen, Saudis und Amerikaner wollten das verhindern. Die Saudis überschwemmten die Märkte mit Öl, der Ölpreis sank auf acht Dollar pro Barrel. Der Iran schloss Waffenstillstand.

In einer grimmigen Ironie der Weltgeschichte aber war es die Sowjetunion, die zusammenstürzte, mit Folgen bis heute, unübersehbar und gefahrdrohend. Russland hat ein Imperium verloren, aber noch keine neue Rolle gefunden. Inzwischen aber hat Putin, dank steigender Ölpreise, den Anspruch auf das Erbe Russlands und der Sowjetunion angemeldet. Man kann deshalb nur sagen: Fortsetzung folgt. Die Geschichte der Energie ist noch lange nicht zu Ende.