https://rotary.de/gesellschaft/schluesselereignis-fuer-die-entwicklung-des-20.-jahrhunderts-a-4919.html
Der Erste Weltkrieg

Schlüsselereignis für die Entwicklung des 20. Jahrhunderts

Mit seinem Buch »Die Schlafwandler« hat der Historiker Christopher Clark einen Nerv getroffen. Seine These, dass der Ausbruch des Ersten Weltkriegs weniger deutschem Großmachtstreben geschuldet war als vielmehr einer komplizierten Mächtekonstellation, die während der Juli-Krise 1914 zu einer Verkettung fataler Entscheidungen geführt hat, wird im In- und Ausland breit diskutiert. Die Beiträge des März-Titelthemas hinterfragen, was diese neue Sicht für das Verständnis der jüngeren Geschichte bedeutet.

Michael Stürmer14.03.2014

Die Kanonen von 1914 donnern schon lange nicht mehr, aber ihr Nachhall ist bis heute zu hören – ob auf dem Balkan und im Nahen Osten oder in den „Bloodlands“ (so ein Buchtitel von Timothy Snyder) zwischen dem weiland Deutschen Reich und dem weiland Imperium der russischen Zaren. Die Auswirkungen des Krieges reichen auch weit über die europäischen Schlachtfelder hinaus in die ehemals europäischen Kolonialzonen Afrikas und Asiens. In einem Wort, das Desaster von 1914 wurde „defining moment“ aller nachfolgenden Verkettungen des 20. Jahrhunderts.

Alte Geschichten ohne Bedeutung? Keineswegs. Noch in den Tagen des Mauerfalls 1989, als Bundeskanzler Helmut Kohl im Deutschen Bundestag (28. November 1989) in seinem „Zehn Punkte-Programm“ eine sehr behutsame und in den Zielen eher moderate Erklärung über die Rechtslage aus deutscher Sicht und das künftige Management der eingetretenen hochgefährlichen Krisenlage vorgelegt hatte, erhielt sein Außenminister Genscher vom französischen Staatspräsidenten die kalte Abfuhr: „Wenn Sie so weitermachen, werden Sie sich bald in der Lage von 1913 wiederfinden“. Gemeint war jene Blockade-Allianz zwischen Berlin, London und Moskau, die 1914 zu den Kriegsursachen zählte, 75 Jahre später aber nicht mehr wiederzubeleben war: Russland war zu schwach, Amerika zu stark, und Deutschland zu klug, eingedenk der Vorbehalte rundum von Warschau über Rom bis nach Jerusalem. Der „Zwei-plus-Vier“-Prozess, der die deutsche Einheit in Vertragssprache brachte, war nicht nur im internationalen Recht Schlusspunkt des Zweiten Weltkriegs, sondern schloss auch offene Rechnungen aus früheren Zeiten.

Gedenken an den »?Großen Krieg?«

In den Erinnerungen aber ist das Drama, das 1914 begann, noch immer aufgehoben: Der 11. November ist Waffenstillstandstag in Frankreich und Großbritannien, wo der Gefallenen durch republikanische Feiern in Frankreich und durch papierene Mohnblüten zur Erinnerung an „Flanders fields“ gedacht wird. Nur in Deutschland wurde der Große Krieg, der doch schon bald die folgenden beiden Jahrzehnte zur bloßen Zwischenkriegszeit gemacht hatte, nahezu vergessen hinter Schuld und Sühne für das noch ungleich größere Desaster des Krieges 1939 bis 1945.

Die Berliner Politik wurde erst durch das Beispiel der Nachbarn und eine zunehmend ernste öffentliche Debatte daran erinnert, dass Deutschland in der historischen Verortung der Europäer nicht bloß Zaungast sein kann. Die Medien – Print und Radio – gingen voran. Seit ein paar Monaten wird auf der Ebene der Politik, vom Schloss Bellevue bis zum Auswärtigen Amt, immerhin etwas geplant; was genau, weiß man noch nicht. Bisher sieht das Ganze mehr wie eine diplomatische Pflichtübung aus und weniger wie jene tiefe Erschütterung, die Franzosen und Briten – oder auch, wegen der Katastrophe von Galipoli, Australier und Neuseeländer – immer wieder aufs Neue ergreift. Abend für Abend bläst im belgischen Ypres an der Kanalküste, das zum Trümmer- und Totenfeld wurde, ein britischer Stabs-Trompeter den „Last Post“ – und aller Verkehr ruht für eine lange Gedenkminute.

Die „seminal catastrophe of our century“, wie der amerikanische Diplomat und Historiker George F. Kennan in einem Buch über die lange Vorkriegszeit schrieb, diese Urkatastrophe, die eine hundertjährige Friedenszeit beendete, bleibt politisch, moralisch, wirtschaftlich und militärisch die tiefste Revolution, die Europa je erlebt und durchlebt hat. Diese Wendung der Weltgeschichte vom langen Frieden zum neuen Dreißigjährigen Krieg des 20. Jahrhunderts (1914–1945) aber kam nicht aus heiterem Himmel, und sie endete nicht in einem großen Friedenswerk wie 1814/15 zu Wien, als das besiegte Frankreich wieder ins europäische Gleichgewicht aufgenommen wurde. Auch hatten die Sieger 1919 in Paris nicht die Weitsicht, angesichts der bolschewistischen Machtergreifung in Russland dem Deutschen Reich wieder einen gleichberechtigten Platz unter den großen Nationen einzuräumen, wie es 25 Jahre später geschah, als die Bundesrepublik Deutschland Teil der Pax Americana wurde: nicht ein Land auf der Suche nach einer Außenpolitik, sondern Produkt amerikanischer Eindämmungspolitik auf der Suche nach einem Land.

Lange vor 1914 hatten die Politiker sich eingeredet, eines Tages komme unausweichlich der Große Krieg: Die konkreten Vorbereitungen allerdings reichten kaum über ein paar Wochen hinaus und zeugten nicht davon, dass Politiker und Generalstäbler konkrete Vorstellungen hatten, was industrieller Großkrieg bedeuten – und kosten – musste. „Majestät wollen immer Siege sehen“ – spotteten hohe preußische Offiziere über die Soldatenspielerei ihres obersten Kriegsherrn. Der kommende Große Krieg gehörte auf unwirkliche Weise zum Diskurs der Politik wie das Duell zum Offizier. Daraus wurde die größte „self fulfilling prophecy“, welche die Weltgeschichte kennt. Anstatt alle Kraft und Diplomatie auf Kriegsverhütung – und damit Revolutionsvermeidung – zu wenden, wurden Strategien entwickelt wie der Schlieffen-Plan des preußischen Generalstabs, Bündnisse geschmiedet wie der deutsch-österreichisch-ungarische Zweibund, die französisch-russische Allianz und die Entente Cordiale; Waffen erprobt wie die überschweren britischen „Dreadnoughts“ und die deutschen U-Boote – nur um doch, als der Krieg begann, aufs bitterste zu lernen, was der ältere Moltke seinen Offizieren gepredigt hatte: „Jede Strategie reicht bis zur ersten Feindberührung. Danach kommt nichts als ein System von Aushülfen“. Beide Seiten steigerten den Einsatz: durch Werbung neuer Alliierter, durch Mobilisierung aller inneren Kräfte und durch Einsatz neuer, niemals zuvor gesehener Waffen: Dem Gas folgten die Panzer, den Fesselballons die Jagdmaschinen.

Der Große Krieg von 1914 wurde im Jahre 1917 zum Weltkrieg und zum Weltbürgerkrieg. Lenin versprach Weltfrieden durch Revolution: Friede den Hütten, Krieg den Palästen“, und brach den letzten militärischen Widerstand gegen die Mittelmächte ab in der Erwartung, die Weltrevolution zwischen Moskau und Berlin würde ohnehin alle Landkarten revidieren und eine grundlegend neue Welt ins Leben rufen. US-Präsident Woodrow Wilson, von Hause aus Princeton-Professor, setzte dagegen das Versprechen in den Vierzehn Punkten, „to make the world safe for democracy“.

Zusammenbruch der alten Welt

Das Kriegsende kam im Osten als Zusammenbruch Russlands, im Westen als Zusammenbruch Deutschlands, im Süden als Zusammenbruch Österreich-Ungarns und im Südosten als Zusammenbruch des Osmanischen Reiches. Die Friedenskonferenz des Jahres 1919 in Paris hieß nur so. Für irgendeinen Verhandlungsfrieden war es zu spät. Die Sieger konnten Europa und große Teile der außereuropäischen Welt nach ihrem Bilde formen. Und so folgte dem Krieg, um alle Kriege zu beenden, ein Frieden, um allen Frieden zu beenden.

Russland war noch auf viele Jahre mit dem eigenen Bürgerkrieg beschäftigt, sandte aber Waffen, Geld und Agenten in benachbarte Länder – Deutschland, Österreich, Ungarn vor allem, um dort Revolution zu machen. Die Vereinigten Staaten meinten, mit Demokratie und Nationalstaatsprinzip die neuen Staaten auf Autopilot gestellt zu haben, verweigerten sich der Teilnahme am Völkerbund, der doch uramerikanische Idee war, und bestiegen die Schiffe. Amerika hatte mit seinem weltpolitischen Debut den Krieg entschieden und überließ Europa seinen alten Dämonen – und die ließen nicht lange auf sich warten.

Großbritannien erlebte einen täuschenden Sieg, das Empire „East of Suez“ noch einmal vergrößert aus dem Erbe des Osmanischen Reiches, darunter nicht zuletzt das Mandat über Palästina und die Oberhoheit über den ölreichen Irak und Transjordanien. Frankreich verschaffte sich das Mandat über Syrien und Libanon und war doch – Schlüsselbegriff der kollektiven Psyche – „weißgeblutet“: Daher der spätere Versuch, mit der „Ligne Maginot“ gegen Deutschland Stahlbeton statt Blut einzusetzen. Italien gewann Südtirol bis zum Brennerpass, sah sich aber enttäuscht, als die übrige Kriegsbeute am Mittelmeer, welche die Entente versprochen hatte, ausblieb. Die Republik Polen wurde in Paris dotiert aus den verlorenen Provinzen des westlichen Russland und Teilen des östlichen Deutschlands und griff doch, alter Glorie und neuen strategischen Raumes bedürftig, nach Ost und West aus, bis tief in die Ukraine und nach Schlesien – mit katastrophalen Folgen.

Aus den Trümmern des Osmanischen Reiches entstand die moderne Türkei. Der Sieger von Galipoli, General Kemal Pascha „Atatürk“ stürzte nicht nur die Monarchie und erzwang eine Revolution von oben, die bis in Lebensformen, Sprache und Glaubenspraxis reichte, sondern siegte auch über die Invasion, mit der die Griechen 1922 das Reich von Byzanz wiederbeleben wollten: Was als militärischer Ausflug begann, endete in einer Katastrophe. So könnte man fortfahren in der Chronik eines Krieges, der 1918 nur eine täuschende Pause eingelegt hatte. Überall sind die unordentlichen und oftmals bis heute umstrittenen Erbstücke der großen Reiche zu finden, die sich 1914 in den Krieg stürzten und vier Jahre später in Blut und Dreck, Revolution und Verzweiflung untergingen.

Die Frage der Kriegsschuld 1914, die nicht nur seitdem Bibliotheken füllte, sondern auch der zerrütteten Weltwirtschaft dauerhafte Erholung verweigerte, ist heute weniger umstritten als anno 1919 in Paris. Das Verdikt des Artikels 231 des Versailler Vertrags – technisch ein Diktat mit angehängtem Zahlungsbefehl – kam nicht aus leidenschaftsloser Wahrheitssuche, sondern wurde in den Vertrag geschrieben, weil die Millionen Toten und an Leib und Seele Verstümmelten eine Erklärung verlangten, weil die moralische Schuld irgendwo abgeladen werden musste – wo aber, wenn nicht bei den Besiegten? – weil die Verzweiflung einen fremden Adressaten brauchte und, zuletzt und sehr nüchtern betrachtet, weil die Kriegskosten, die Wirtschaft und Gesellschaft zerrütteten, bezahlt werden mussten. Wenn aber Deutschland die Alleinschuld trug, dann erübrigte sich auch für alle anderen die Gewissenserforschung.

Es war John Maynard Keynes, der große britische Ökonom, der als Mitglied der Delegation des Empire in Paris 1919 vergeblich gewarnt hatte. Er schrieb bald darauf ein Buch über die wirtschaftlichen Folgen von Versailles, und darin den Kernsatz: „Dieser Frieden enthält schon die Saat des nächsten Krieges“.