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Titelthema

Außenpolitik zuletzt

Obwohl sich die Welt dramatisch wandelt und Deutschland an vielen Schauplätzen gefragt ist, bleiben die Debatten über außenpolitische Themen auffallend ruhig. Gleichwohl kommen auf das Land schwere Prüfungen zu.

Michael Stürmer01.10.2017

Post-Truth, Post-West, Post-Order“: Man kann die gegenwärtige Weltlage kaum knapper zusammenfassen als mit dem Motto, das Botschafter Wolfgang Ischinger zu Beginn dieses Jahres der Münchner Sicherheitskonferenz voranstellte.
Die Zeit ist aus den Fugen. Die alten Koordinaten der Außen- und Sicherheitspolitik stimmen nicht mehr, neue sind noch nicht gefunden. Die äußere Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, eingebettet in das Nordatlantische Bündnis und die Europäische Union, verweigert jene Gewissheiten, die jahrzehntelang galten, quer zu fast allen Parteien- und Grenzlinien. Die Geschichte ist mit Wucht in die Tür zum deutschen Haus gefallen – aber bis vor wenigen Monaten war Realitätsverweigerung die Antwort. Dabei sind doch Parlamentswahlen zuerst und vor allem dazu da, die Bürger ins politische Geschehen einzubeziehen und den Dialog zu öffnen, Bilanzen zu ziehen und Zukunftsbilder zu zeichnen.

Das Ende alter Gewissheiten
Die Kanzlerin erklärte unlängst einmal ihre Politik damit, sie fahre auf Sicht. Ob das aber ausreicht, die Bürger zu beruhigen über das Ziel der Reise aufzuklären, muss sich erst noch zeigen. Es gab immerhin Andeutungen, dass die tektonischen Platten in Bewegung sind und niemand ihre Richtung  und ihre Zielbestimmung  souverän definieren kann.
Das Wort der Kanzlerin im Bierzelt von Trudering bei München – das war wenige Tage nach dem G-20-Gipfel in Hamburg –, die alten Freundschaften seien nicht mehr verlässlich und man müsse sich neue suchen, ist bisher nur ein rätselvoller Satz geblieben. Aber es gehört nicht zu den Charakterzügen der Bundeskanzlerin, nur mal so daher zu reden: Nach der Wahl spricht man sich wieder, und es wird nicht einfacher. Am Abend des 24. September hat ein neue Ära begonnen, die Kanzlerin beerbt sich selbst – und die To-do-Liste, die sie von sich selbst übernimmt, ist unerbittlich ernst.
In der Bundestagswahl dieses Herbstes allerdings hätte man sich schwer getan, den Katalog der weltweiten Krisen, Kriege und Katastrophen  wiederzuerkennen.  „Schlafwahlkampf“ nannte das Londoner Wirtschaftsmagazin The Economist, was in Europas führender Volkswirtschaft die öffentliche Debatte über Politik prägte. Das alle anderen Sorgen der Nation an den Rand schiebende Thema der neuen Völkerwan­de­rungen aus Asien, Afrika und dem arabischen Krisenbogen, mit den Nebenthemen Sicherheit und Identität, Werte und Erbe, wurde wie in stiller Übereinkunft aller Beteiligten – außer der neuen Protest­partei Alternative für Deutschland – überwiegend beschwiegen.
Warum aber solche Problem-Verweigerung, wenn es doch kein Thema gibt, das die Bürger mehr beunruhigt? Zu deutlich wäre geworden, dass die Schreckensbotschaften der Kriege und Bürgerkriege, die seit 2011 die arabisch-muslimischen Nachbarschaften Europas durchtoben und noch lange nicht zur Ruhe kommen werden, ein Gesamtkonzept als Antwort brauchen – das es bisher allenfalls in Ansätzen gibt. Überdeutlich allerdings ist längst, dass mit jedem Tag, der ins Land geht und neue Not und neue Ungewissheit nach Deutschland bringt, die Republik sich än­dert; Quantität des Wandels wird zur Qualität einer anderen, bislang unerklärten und weitgehend unverstandenen Repu­­blik – und niemand kennt Ziel und Ende.

Die Kraft der Tatsachen
Führung ist geboten und wird mit jedem Tag, der ungenutzt bleibt, dringlicher. Das Bundeskanzleramt, zuständig für die Richtlinien der Politik aber nicht für ihre inhalt­liche Füllung – so sagt es wenigstens die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesregierung – ist über die letzten Jahrzehnte in eine Rolle hineingewachsen, die jedem Kanzler, jeder Kanzlerin Verant­wort­lichkeiten zuteilen, die oftmals über mensch­liches Maß hinausgehen.
Nirgendwo ist das deutlicher als in der  Außenpolitik, die in vielen Bereichen nahtlos übergeht in Innenpolitik. Gäbe es nicht den ewigen Zwang, in Koalitionen Mehrheiten zu suchen und damit Macht zu tei­­len und zu begrenzen, dann wäre das Land seit langem auf dem Weg zur Präsidialrepu­­blik. Hans Dietrich Genscher wusste in seinen achtzehn Jahren als Chef des Auswärtigen Amtes das Bundeskanzleramt unter Helmut Kohl noch einzugrenzen, notfalls unter Erwähnung der Koalitionsfrage. Ähnlich wirkte die bayerische CSU, namentlich zu Lebzeiten von Franz- Josef Strauss,  als  Korrektiv der Übermacht von Kanzler und Kanzleramt. Dass der Deutsche Bundestag in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik kein amerikanischer Senat geworden ist, nach der Formel von „advice and consent“, hat viele Ursachen; nicht zuletzt die Tatsache, dass Wahl­kreise in Deutschland, wie anderswo auch, nicht durch außenpolitische Großtaten zu beeindrucken sind:  Außenpolitik kann die Karriere beschädigen.
Bei dieser außenpolitischen Unlust ist es seltsamerweise immer geblieben, seit dem späten Adenauer. Doch  schon die Poli­tik der deutschen Einheit seit dem ­Dra­ma des 9. November 1989, vor allem die daraus folgende internationale Einordnung des vergrößerten Deutschland  und das Management ihrer Folgen, namentlich die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, verschoben wie von selbst die Ge­wichte in Richtung Bundeskanzleramt – und da sind sie bis heute geblieben. Das geschah nicht durch irgendeinen Meisterplan zur Veränderung der deutschen Machtgeometrie, sondern „par la force des choses“ – die Kraft der Tatsachen.  

Ungeliebte Führungsrolle
Und das wird so weitergehen und Deutschland in eine Führungsrolle nötigen, die kein Bundeskanzler sich je wünschen konnte. „Kultur der Zurückhaltung“ war das Schmeichelwort, das Volker Rühe als Verteidigungsminister erfand, um die deutsche Führungsabstinenz zu erklären – mit unfehlbarem Hinweis auf die Gräuel der braunen Diktatur. Aber auch mit Blick auf die Vorzüge, die die zweite Geige bietet.
Vorbei all das: Europa schaut auf Berlin, wenngleich mit gemischten Gefühlen, und Berlin schaut auf EU und NATO – und er­kennt die vertrauten Gestalten nicht mehr. Die Europäische Union der 28 ist um Groß­britannien ärmer geworden, Deutschland hat einen philosophisch und politisch wahlverwandten Bündnispartner verloren und ist außerstande, „Brexit“ hin oder „Bre­xit“ her, die Scherben wegzukehren und wieder dort zu beginnen, wo man am Abend der britischen Volksabstimmung am 23. Juni 2016 geendet  hatte. Die Forderungen aus Frankreich, die ordoliberalen Prinzipien nicht zu ernst zu nehmen, werden im Kreis der 27 mehr Unterstützung finden als bisher. Die Idee, es könne die EU im Mittelmeer und anderswo als Ordnungsmacht auftreten,  wird ohne das Vereinigte Königreich und seine mus­kulöse Sicherheitspolitik  schwieriger zu verwirklichen sein.
Noch mehr gilt das für das atlantische Verhältnis. Die NATO, überdehnt und unter­finanziert, befindet sich im sicherheitspolitischen Niemandsland. Nicht nur we­gen der Unberechenbarkeit und Kurzatmig­keit des Herrn im Weißen Haus, son­dern auch wegen der Verlagerung des Schwerpunkts amerikanischer Interessen vom At­lantik zum Pazifik. Der Aufstieg Chinas, das wieder Reich der Mitte sein will, sprengt alle überkommenen Gleichgewichte. Deutsche China-Politik muss mehr als Export/Import sein. Die nordkoreanische Atomwaffe wirft Schatten bis nach Europa.  

Wandel ohne Ziel und Richtung
Noch mehr gilt das für Russland, last but not least, das ewig  zwischen Asien und Europa seine Identität sucht. Es ist nicht mehr der Sozialfall aus der Zeit, als das Barrel Öl zehn Dollar brachte und die Sow­jetunion kollabierte; aber auch nicht der militärisch-industrielle Koloss  aus der Zeit davor, der die Europäer das Fürchten lehrte und ängstlich nach den USA Ausschau halten ließ und alle Hoffnung setzte auf „Deterrence and Detente“ (Harmel Bericht, 1967). Russland hat ein Imperium ver­loren und noch keine Rolle gefunden. „Weimar“ und „Versailles“, so beschrieben geschichtskundige Russen ihre Lage, als die Rote Fahne nicht mehr vom Kreml wehte. Inzwischen aber gehen die Gezeiten der Geschichte in eine andere Richtung. Das Russland, das die NATO-Osterweiterung hinnahm und hinnehmen musste, gibt es nicht mehr. Putins Russland aber hat nicht nur militärische Macht im Übermaß, sondern auch ein langes Gedächtnis.
End of history? Das war 1989 eine angenehme Selbsttäuschung quer durch den Westen, eine aparte Phantasie – made in the US. Inzwischen ereignen sich historische Umbrüche ohne Zahl und ohne Ziel und Richtung. Der deutschen Außenpolitik stehen ernste Prüfungen bevor.