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Das Ende aller Sicherheit?

Forum - Das Ende aller Sicherheit?
Das Nato-Hauptquartier in Brüssel: Das atlantische Ordnungsgefüge muss neu durchdacht werden. © Frederic Sierakowski/Isopix/Action Press/Shutterstock

Die Nato der Zukunft kann kein reiner Gegenspieler zu Russland sein, sondern muss mindestens auch China berücksichtigen. Eine neue Nato-Osterweiterung würde insbesondere die Europäer vor nahezu unlösbare Gestaltungsprobleme stellen.

Michael Stürmer01.06.2021

Die Nato des Kalten Krieges hatte als organisierendes Prinzip den „Soviet threat“. Das ist vorbei. Aber Russland ist noch immer der große Gegenspieler, seit der Nato-Osterweiterung mehr als je zuvor und mit einer langen, großenteils unfriedlichen Agenda. Die Geschichte kehrt zurück, und der westlichen Staatenwelt, insbesondere Deutschland, wird nichts geschenkt. Ob indessen die USA noch einmal Führungsstärke wie in der Vergangenheit aufbringen, ist offen. Deutschland steht bis auf Weiteres als Bewerber nicht zur Verfügung. Dennoch: Die Sicherheitsarchitektur wird, ob das den Deutschen gefällt oder nicht, global angelegt sein müssen. Weit mehr und tiefer als in den Zeiten des Kalten Krieges und in den Übergangszeiten dazwischen. Was Digitalisierung aller Lebensbereiche bedeutet, tritt nur langsam und vielfach verspätet ins allgemeine Bewusstsein.

Terrorismus und Religionskriege werden nach neuen Regeln gespielt, unsichtbare Schlachtfelder werden neu vermessen. Zuletzt und vor allem: Der China-Faktor wird unabweisbar Teil jeder Sicherheitsarchitektur, die in Zukunft global sein muss und in jede Idee von Gleichgewicht oder Hegemonie einbezogen werden muss. Intellektuell wie materiell kann und wird diese Revolution aller Strategie nicht billiger kommen.

Die Mauer von Berlin war kaum in Schrott verwandelt, da begann schon der Kampf um die Frage, wer die Trümmer des östlichen Großreiches erben sollte. Allen anderen voraus war es die Republik Polen, die über Jahre und Jahrzehnte die Grundlagen der Sowjetherrschaft infrage gestellt hatte und deren neue demokratische Führung nunmehr die Jahrhundertchance erkannte, ein für alle Mal via Nato und der polnischen Wahlverwandtschaft zum Westen zu gehören. Nato-Erweiterung Richtung Osten war das alles überragende Ziel: wirtschaftlich, aber noch mehr militärisch.

Doch die „Korrelation der Kräfte“ hatte sich in der großen Wende tief und, wie es schien, unumkehrbar verändert. Russland musste sich damit abfinden, dass das westliche Vorfeld verloren war, das die Rote Armee 1945 erobert hatte und das der Kreml bis zum Ende aller Zeiten zu beherrschen gedachte. Aus den Aufmarschgebieten des Warschauer Pakts und der Roten Armee wurden westliche Vorposten. Russland blieb nicht viel übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Das aber bedeutete nicht, zugleich die Erinnerung an mehr als 300 Jahre imperialer Expansion von der Elbe bis Wladiwostok ersatzlos zu streichen.

Russland war nach wie vor Weltmacht – es sah nur nicht so aus. Früher oder später war es unausweichlich, dass das alte Russland aus den Trümmern der Sowjetunion wieder aufsteigen würde. Der alte Instinkt sagte den Russen, dass eine Grenze nur sicher ist, wenn auf beiden Seiten russische Soldaten stehen. Von Katharina der Großen – die ihren Beinamen nach der Eroberung der Krim durch ihren Feldherrn und Liebhaber Potemkin im 18. Jahrhundert gewonnen hatte – stammt die bedrohliche Klage, mangels natürlicher strategischer Hindernisse müsse Russland immer wieder einer eroberten Provinz die nächste Eroberung vorsetzen.

Siegerlächeln war nicht von Dauer

Die alt-russische Erfahrung, gemischt aus Selbstmitleid und Expansionsdrang, war 1990 nach wie vor präsent. Zugleich war das russische Potenzial hinreichend geschwächt, um den Westen zu einer strategischen Lagebeurteilung zu führen, die schwerlich von Dauer sein konnte. Der Westen ließ sich in der Tat dazu verführen, den Faktor Russland bei der Neuordnung des östlichen Mitteleuropas zwar nicht zu vergessen, wohl aber als konstituierenden Faktor des neuen Europas und der künftigen atlantischen Ordnung gering zu achten. Das Siegerlächeln von 1990 war nicht von Dauer.

Nachdem der Kalte Krieg amtlich und vertraglich als Teil einer unwiederholbaren Vergangenheit abgeschlossen schien, entstand für kurze Zeit ein neuer Schwebezustand. In dieser Lage gelang es der polnischen Führung, die Gestaltung des östlichen Mitteleuropas an sich zu ziehen und damit fast schon ein Fait accompli zu schaffen. Was den Nato-Planern dabei entging, war nicht nur die lange historische Perspektive, sondern noch mehr die Erfahrung, dass Russland nie so schwach ist, wie es aussieht, und nie so stark, wie der Kreml behauptet. Es dauerte nur wenige Wochen, bis die Clinton-Administration den Vorrang der polnischen Interessen via Rand Corporation, Pentagon und einer deutschen Konferenzabfolge festlegte und etwaige Zweifel durch die Phrase vom „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) zudeckte.

In Bonn und anderen Hauptstädten Westeuropas traf die amerikanische Unbekümmertheit in Sachen Russland auf tiefe historische Zweifel an der Weisheit einer einseitigen Nato-Erweiterung ohne gleichzeitige Kompensation für die russischen Verlierer. Es war zu keinem Zeitpunkt hinreichend, das neue europäisch-atlantische Sicherheitskonzept an Russland vorbei zu etablieren. Als dann Georgien und die Ukraine 2012 Vollmitgliedschaft im westlichen Bündnis erstrebten und dafür amerikanischen Sukkurs gewannen, kam aus Sotschi und aus Moskau das unüberhörbare Wort Krieg – und das war das Ende vom Lied. Seitdem gilt ein Schwebezustand voller Unsicherheit und Gefahr. Beide Seiten hatten die Grenzen der Macht erfahren.

Es gibt Zeiten für große Strategie, und es gibt Zeiten für taktische Vorteile. 1990 und danach wurde beides vermischt, und das hatte seinen Preis. Denn die Erfahrung des europäischen Staatensystems seit dem Aufstieg Russlands im Nordischen Krieg vor 300 Jahren zeigt, dass die Großmachtstellung Russlands und die Großmachtstellung des Königreichs Polen niemals zu dauerhafter Koexistenz gefunden haben: Die russische Machtelite hat über 300 Jahre diese Tatsache nie vergessen, die polnische Führungselite aber auch nicht. Diese alte Machtgeometrie Europas ließ sich nicht aus der Welt schaffen und nach dem Vorbild des Wiener Kongresses 1813/15 lösen. Da hatten die Architekten des Staatensystems das besiegte Frankreich zur Gestaltung des nach-napoleonischen Europa in das neue Gleichgewicht entscheidend eingefügt. Zugleich aber war es in Polen und in ganz Osteuropa unvergessen, dass die Wiener Regelung einen hohen und in Zeiten der Demokratie inakzeptablen Preis hatte: Polen wurde auf ein Jahrhundert von der Landkarte genommen.

War solche europäische Grunderfahrung nach 1990 noch gegenwärtig und prägend für das Gefüge des atlantischen Raumes? Oder würden die Gespenster von 1815, 1918 und 1945 auferstehen aus flachen Gräbern? War den handelnden Personen noch bewusst, dass sie Gleichgewicht erstreben mussten – nicht aber Hegemonie? Kanzler Kohl hatte starke Zweifel an der Entscheidung, Polen zu gewinnen und Russland zu verlieren. Aber die amerikanische Supermacht entschied sich unter dem Druck der machtvollen Polish Lobby in den USA für die polnische Präferenz.

Das hieß, dass das westliche Bündnis Platz genug hatte für eine Osterweiterung um Polen und die baltischen Staaten, sehr viel weniger aber für Russland. Der Nato-Russland-Vertrag sollte die Härte dieser Entscheidung abmildern und konnte es doch nicht. Die Nato, die auf diese Weise entstand, ähnelte nur noch wenig der Nato der fünf zurückliegenden Jahrzehnte. Es entstand das, was jede Nato-Führung zuvor strikt abgelehnt hatte: „hollow Nato“. Amerika und die Nato als Ganzes ließen sich ein auf drei strategisch entscheidende Verzichte: „no nukes, no troups, no installations“. Ungeachtet dieses weitreichenden strategischen Kompromisses reagierte das Russland Boris Jelzins und seines Nachfolgers Wladimir Putin, wie es nicht anders konnte: tief enttäuscht und auf Revision bedacht.

Wie stark treten die USA auf?

Die Nato-Osterweiterung, die aus dieser Konfliktlage entstand – man muss es illusionslos eingestehen –, war nicht die alte Nato der Jahrzehnte vor 1990. Damit war die Gestaltungsmöglichkeit des Westens in Richtung Osten vermindert und blockiert. Diese Einschränkungen erklären auch, was in der westlichen Öffentlichkeit wenig begriffen wird, warum westliche Truppen im östlichen Nato-Raum östlich der Oder immer nur bis Brigadestärke und wie zu Besuch und unter Verzicht auf schwere Waffen auftreten. Eigentlich hätte dieser Kräfteausgleich reichen müssen für eine dauerhafte Raumordnung der Territorien, die der amerikanische Historiker Timothy Snyder „the bloodlands“ genannt hat, in einer außerordentlich düsteren, geschichtserfahrenen Formulierung.

Die Bundeswehr nimmt via Nato an dieser neuen, nicht sehr stabil aussehenden Machtlage in Osteuropa teil, und die deutsche Politik muss in dieser Lage mehr denn je auf Gleichgewicht hinarbeiten. Die Machtverteilung ebenso wie die Ordnungsvorstellung im baltischen Raum sind im Fluss. Die Position der amerikanischen Supermacht ist in sich selbst widersprüchlich, lässt die alten Garantien für die Sicherheit der einzelnen Nato-Staaten offen und hat noch keine Vorstellung davon, wie in den nächsten Jahren der alles überragende China-Faktor in die künftige Nato-Russland-Balance einzufügen wäre. Die Anfänge jedenfalls bestehen weitgehend aus verschiedenen Versuchen, ein unabweisbares Problem durch Nicht-Befassung aus der Welt zu schaffen.

Die Leitfrage der künftigen europäischen Kräfteverteilung lautet – nach Trump noch mehr als zuvor: Wie viel amerikanische Machtprojektion via Nato kann und will die Supermacht noch leisten? Und was geschieht, wenn die alten Sicherheitsversprechen (Artikel 5 Nordatlantikvertrag von 1949) kein politisches Leben mehr entfalten, sondern nur noch historische Restwerte darstellen?

Der China-Faktor hat längst begonnen, alle Machtbeziehungen der Großmächte zu durchdringen. Distanz ist nicht mehr der Sicherheitsfaktor der Vergangenheit. Der Schwerpunkt Asien und Fernost zwingt früher oder später auch die Nato-Staaten schon deshalb zu einer eigenständigen Ostasien-Politik, weil die USA den Erfordernissen des pazifischen Raumes und der pazifischen Machtgeometrie selbst nicht entgehen können. Die Machtverteilung aus den Jahrzehnten des Kalten Krieges ist nicht mehr eins zu eins fortzuführen, und von klarer Neuorientierung ist jenseits von Symbolpolitik, ein bisschen Flagge zeigen und vorsichtiger Horizonterweiterung bisher nicht viel zu sehen. Wohl aber gilt, dass die deutsche Wirtschaft und die deutsche Politik schon mangels Eigengewichts dringend einer dauerhaft vertretbaren und durchsetzbaren Strategie jenseits von Russland bedürfen.

Dass in dieser Lage eine weitere Osterweiterung Richtung Mittelasien die Tagesordnung bestimmen sollte, kann niemand, der nicht an Größenwahn leidet, im Ernst betreiben. Die vorhandenen Kräfte in ein dauerhaftes Miteinander zu überführen, wird schwer genug. Mit „New Start“ haben die Amerikaner erneut die Führungsrolle übernommen und sich für Gleichgewicht statt Hegemonie entschieden – jedenfalls für die nächsten Jahre. Was jenseits davon liegt, wird nicht auf dem Wege der erneuten Nato-Erweiterung zu gestalten sein, sondern allenfalls in einem künftigen, bisher nur skizzenhaft erkennbaren Kooperationsverhältnis mit Russland. 

Für die Bundesrepublik Deutschland, die zwischen Russland und Amerika nicht wählen kann und will, entstehen trotzdem Steuerungs- und Balanceprobleme neuer Art. Die Nato der Zukunft kann nicht ein atlantisches „mare nostrum“ sein, aber auch nicht ein Gegengewicht zu Russland. Kurzum: War der erste Teil der Nato-Osterweiterung schwierig genug, so stellt jede künftige Fortsetzung die Europäer vor nahezu unlösbare Gestaltungsprobleme. Wahrscheinlich muss das Ziel sein, zu den USA weiterhin ein tragfähiges Partnerschaftsverhältnis zu kultivieren, ohne Russland zu verlieren. Alles andere würde alte Dämonen in Europa wecken, die dann niemand mehr bannen kann.

Die erste Nato-Osterweiterung hat die Lage nicht stabilisiert, sondern ein nicht geplantes, gleichwohl virulentes Konfliktpotenzial aufgebaut. Oder, wie man zu Zeiten der ersten Osterweiterung in strategischen Kreisen spottete: „A bad idea, whose time has come.“

Mit anderen Worten: Die Nato hat sich über alle Maßen bewährt und muss doch als atlantisches Ordnungsgefüge von Grund auf neu durchdacht und im Zeichen des Ernstfalls gestaltet werden.

Michael Stürmer
Prof. Dr. Michael Stürmer ist seit 1998 Chefkorrespondent der Welt und Welt am Sonntag. Von 1988 bis 1998 war er Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, von 1980 bis 1986 außenpolitischer Berater von Bundeskanzler Kohl.
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