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Das Wort des Jahres 2016

Ein Begriff von zweifelhaftem Wert

„Postfaktisch“ war das Wort des Jahres 2016. Dabei geht es in gesellschaftlichen Debatten um weit mehr als um die Anerkennung von „Fakten“.

Jens Nordalm01.03.2017

Das war eine steile Karriere. Wenige Monate, nachdem man das Wort zum ersten Mal gehört hatte, war es von der Gesellschaft für deutsche Sprache bereits zum Wort des Jahres 2016 erklärt. Aber ist „post­faktisch“ auch ein Wort, das uns den Zustand unserer politischen Kultur richtig deutet?

Leben wir in Zeiten „postfaktischer“ Debatten? Wird gelogen, dass sich die Bal­ken biegen? Werden in Besorgnis erregendem Maße „Fakten“ geleugnet? Zählen jetzt nur noch Gefühle? Blicken wir für die Ant­wort einmal nicht nach Amerika, sondern bleiben wir in unserem Land, wo das Wort zur Selbstdiagnose benutzt wird und wo wir ein verlässlicheres – ja – Gefühl für den Charakter der gesellschaftlichen Debatten haben.

Viele scheinen die oben aufgeworfenen Fragen bejahen zu wollen und sprechen von einer um sich greifenden hochpro­ble­matischen „postfaktischen“ Einstellung der Bürger. „Fakten“ würden weithin nicht mehr anerkannt. Nun geht es aber in der Politik weniger um die Anerkennung von „Fakten“ als um die Überzeugungskraft von Argumenten und die Plausibilität von Szenarien – nicht erst seit gestern übrigens auch um Gefühle. Wenn Politik das mechanische Handling von „Fakten“ wäre, bräuchten wir keine Wahlen.

Der Gestus der „Alternativlosigkeit“
Sehr wahrscheinlich macht es sich die poli­tische Mitte, die von der Richtigkeit ihrer Politik und dem guten Zustand unseres Landes überzeugt ist, mit Hilfe des Wortes doch etwas zu leicht. In der vorwurfs­vollen Diagnose des „Postfaktischen“ schwingt der seinerseits hochproblematische pa­ter­nalistisch-technokratische Gestus der „Alternativlosigkeit“ mit: Die Bürger müssten nur die „Fakten“ anerkennen, dann würden sie nicht anders können als dem Regierungshandeln zuzustimmen.

Nehmen wir das naheliegende Beispiel jenes Politikfeldes, das man hierzulande oft meint, wenn man den „Postfaktisch“-­Vorwurf erhebt: Ja, die Flüchtlingszahlen sind zurückgegangen – Faktum! Aber deshalb muss eben nicht sofort bürgerliche Ruhe herrschen. Denn viele laborieren eben noch an dem Beschluss, aus ihrer Sicht zu viele und unkontrolliert überhaupt ins Land gelassen zu haben.

Wohlgemerkt: Es geht hier nicht darum, wer falsch liegt und wessen Ansichten und Handeln besser für unser Land (gewesen) wären. Es geht darum, dass diese Frage, wer falsch liegt und wessen Ansichten und Handeln besser für unser Land (gewesen) wären, nicht einfach aufgrund von „Fakten“, sondern von mehr oder weniger guten Gründen, von Empfindungen, auch von in­­­dividuellen Temperamenten entschieden wird. Und entscheiden mag es deshalb jeder anders. Horror Democratiae!

Interpretationsspielräume
Die Sorge, dass es „zu viele“ Flüchtlinge – und vor allem zu viele mit problema­tischem Hintergrund – waren, wird man nicht mit dem Hinweis auf „Fakten“ zerstreuen können. Über Wertehierarchien kann man diskutieren; zwischen Aufnahme, ­Auswahl und Zurückweisung ist vieles legal, legitim und human; und Kriminalitätsstatistiken kann man so, aber auch anders interpretieren.
Auch die anderen prominenten und rele­vanten politischen Fragen heute sind Fragen der Abwägung, der überzeugenderen Argumente, der plausibleren Prognosen, auch der Menschenbilder, nicht der Anerkennung von „Fakten“.

Kann, darf, diese Türkei noch der Partner sein, den wir ja tatsächlich und eigentlich so dringend in der Flüchtlingsfrage brauchen? Wie sind die Aussichten der südeuropäischen Volkswirtschaften im Euro? Auch da gilt doch eher die Weisheit: Jede Position wird – und tut es ja auch – ihre „Fakten“, Zahlen, Studien und Prognosen finden. Das gilt übrigens auch für die Frage, als wie ungerecht, wie auseinan­der driftend, wie chancenungleich man unsere Gesellschaft empfindet. Nicht alle Scheren gehen auseinander; manche wird man dennoch als beunruhigend weit geöffnet empfinden können.

Demut und Selbst-Relativierung
Deshalb ist die Forderung nach Berücksich­tigung der Komplexität aller politischen Fragen, nach Demut und Selbst-Relativierung, nach Respekt vor den Meinungen der anderen und nach dem Bemühen, jedenfalls selbst möglichst klar zu denken und zu argumentieren, viel hilfreicher und klüger als die nach der gefälligsten Anerkennung von „Fakten“.

Es entspricht übrigens ja nicht von ungefähr guter philosophisch-skeptischer, erkenntnistheoretischer Tradition, die „Fak­ten“ in Anführungszeichen zu setzen. Und dass Gefühle voller Erkenntnisse stecken, wird den Wissenschaften vom Menschen auch immer deutlicher.