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Über das Heimatgefühl der DDR-Bürger – vor und nach der Deutschen Einheit

Heimat Ost

Gedanken zur Identität unserer Gesellschaft, die sich nicht nur in diesen Tagen auf dramatische Weise verändert, sondern auch in der Vergangenheit immer wieder fundamentalen Wandlungen unterlag.

Jens Bisky30.09.2015

In ihren allerletzten Tagen appellierte die Partei- und Staatsführung an das Heimatgefühl der Bürger, die sich weder vom Demonstrieren noch vom Ausreisen abbringen ließen. Ein festes „Zusammenstehen für unsere gemeinsame Heimat, die DDR“, beschwor Egon Krenz Anfang November 1989 in einer Rundfunk- und Fernsehansprache. Wenige Tage später fiel die Mauer, drei Wochen darauf veröffentlichten 31 besorgte Bürger, unter ihnen Christa Wolf, Stefan Heym, Ulrike Poppe, Friedrich Schorlemmer, den Aufruf „Für unser Land“. Er drückte die Hoffnung aus, in einem eigenständigen Staat eine solidarische Gemeinschaft entwickeln zu können, unbehelligt von Marktkräften und den politischen Eliten der alten Bundesrepublik. Hunderttausende unterschrieben „Für unser Land“´, kein anderer Aufruf der Revolutionszeit fand so viel Zuspruch. Dass in ihm Unmögliches verlangt wurde, Illusorisches, dass er den Machthabern in die Hände spielte, schreiben Historiker. Zeitzeugen streiten sich bis heute gern über diesen Text.

Interessant ist er als Dokument einer Verbundenheit mit der Deutschen Demokratischen Republik im Augenblick ihrer glücklichen Abschaffung. War das eine Spätfolge der Propaganda, der ermüdend oft wiederholten Floskeln vom „sozialistischen Vaterland“ und der „Heimat DDR“? Diese Erklärung bietet sich an, doch wäre dann weiter zu fragen, warum ausgerechnet diese Parole Gehör fand, viele andere aber nicht.

Wahrscheinlich liegt es am Erfolg der Heimatfilme, des „Schwarzwaldmädels“ oder der „Mädels vom Immenhof“, dass Heimat mit überschaubaren, einfachen Verhältnissen identifiziert wird; Heimatverbundenheit mag dann leicht mit dem Unwillen verwechselt werden, sich auf eine komplizierte, offene Welt einzulassen. So gesehen wäre Heimat etwas für schlichte Gemüter, für Simple, wäre Überbleibsel aus einer Welt, die wir hinter uns gelassen haben. Und doch ist weniges irriger als dieses herablassende Urteil.

Versucht man, auch nur knapp zu rekapitulieren, was sich mit „Heimat“ in der DDR verband, stößt man auf verschiedene, einander widersprechende Vorstellungen. Wahrscheinlich würde ein näherer Blick auf den Westen oder andere europäische Länder ein ebenso verwickeltes, keineswegs eindeutiges Bild ergeben.

Raum des Vertrauten

Der Raum des Vertrauten, Selbstverständlichen, den man Heimat nennt, war gründlich zerstört, als aus der Sowjetischen Besatzungszone Zone (SBZ) die DDR wurde. Der Krieg hatte ihm alles Vertraute genommen. Hinzu kamen die 4,1 Millionen Vertriebenen aus dem Osten, aus Pommern, dem Sudentenland, Schlesien und Ostpreußen. Gut Zwei Drittel von ihnen brachte man auf dem Land unter. In vielen Dörfern gab es daher mehr Fremde, Neuankömmlinge als Alteingesessene. Verharmlosend hießen sie „Umsiedler“, sie brachten mit sich Erinnerungen an eine verlorene, entschwundene Heimat. Da die DDR im Kalten Krieg viel auf die „Bonner Revanchisten“ schimpfte, gab es in ihr nur wenige Möglichkeiten, über Flucht und Vertreibung zu reden. Was den „Umsiedlern“ und ihren neuen Nachbarn Heimat sein sollte, eine vertraute, selbstverständliche Welt, war neu zu erfinden.

Heimat als Lehrfach

Wer in der DDR zur Schule ging, kam von der ersten bis zur vierten Klasse auch in den Genuss von Heimatkundeunterricht. Das Fach war lange vor dem Krieg im Zuge pädagogischer Reformen erfunden worden, um Wissen kindgerecht zu vermitteln. Es verband Biologie, Geografie, Geschichte und einiges mehr. Es ging darin um Frühblüher und die Sowjetunion, um Lokalgeschichte und Berufe. Heimat besaß in Heimatkunde ebensowenig etwas Einengendes, Borniertes wie in sozialistischen Kinderliedern, die Generationen von Schülern lernten. In ihnen erschien Heimat als schönes Reich der Natur und als Aufgabe zugleich. „Und wir lieben die Heimat, die schöne / Und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört, / Weil sie unserem Volke gehört“, hieß es in dem Pionierlied „Unsere Heimat“.

„Die Heimat hat sich schön gemacht“, begann das „Lied der jungen Naturforscher“ und forderte dann zur wissenschaftlich fundierten Naturbeherrschung auf: „Wir brechen in das Dunkel ein, verfolgen Ruf und Spur. / Und werden wir erst wissend sein, fügt sich uns die Natur.“ Der aktivistische Impuls, die Welt zur Heimat zu machen, indem man sie sich anverwandelte, sie umgestaltete, blieb bis 1989 ein wichtiger Impuls. Er konnte und musste in den Anfangsjahren auf fruchtbaren Boden fallen, weil Städte und Dörfer nach Krieg, Vertreibung und den ersten Jahren der sowjetischen Besatzung wenig Anheimelndes boten, weil kaum etwas noch selbstverständlich war.

Zwei kaum weniger wichtige Motive kamen später hinzu: die Definition des Eigenen durch die Abgrenzung gegenüber dem Westen, der Bundesrepublik, mit der die DDR sich ständig verglich, in der Propaganda, aber auch im Privaten. Immer wieder wurde dabei betont, dass die DDR ihren Bürgern Sicherheit biete, Ordnung und Wohlstand. Das „Stillhalteabkommen zwischen oben und unten“ hat keiner besser beschrieben als Günter de Bruyn in seinem Rückblick „Vierzig Jahre“: „Die Beherrschten hatten gelernt, sich in Genügsamkeit zu bescheiden, und auch die Herrschenden begannen, sich mit dem Volk abzufinden. … Begeisterung wurde nur noch von jenen verlangt, die aufsteigen wollten, bei den anderen genügte schon Unterordnung. Die wirksamste Agitationsvokabel wurde Geborgenheit.“

Die Herausforderung von 1989/90

In der ostdeutschen Revolution des Jahres 1989 waren beide Versprechen wieder präsent: das der Geborgenheit, die nicht länger durch Verbote und Plan ersticken sollte, und das der Umgestaltung, des Neuanfangs. Mit ihnen verband sich eine gleichsam naturwüchsige Heimatliebe, die Wut über zerstörte Landschaften, verfallende Städte, verrottende Betriebe. Die Abkehr von der DDR – am radikalsten durch Flucht oder Ausreise war ein ebenso starkes Motiv wie die Verbundenheit mit dem Land, das nicht länger derart despotisch regiert, heruntergewirtschaftet werden sollte. Deswegen fand der Aufruf „Für unser Land“ so viel Zuspruch – und auch Widerspruch derer, die nicht länger experimentieren wollten, die auf nachholende Modernisierung durch Demokratie und Markt setzten.

Die Vereinigung zwang die Ostdeutschen, sich neu einzurichten, Routinen zu vergessen, sich mit dem Ungewohnten vertraut zu machen. Viele haben das als Schock erlebt, durchaus lustvoll, befreiend, Möglichkeiten eröffnend, aber eben auch verunsichernd, enttäuschend, existenzbedrohend. Bald schon wurde davon gesprochen, dass die Menschen in den neuen Ländern eine Migrationserfahrung durchleben, selbst wenn sie in ihrer Stadt, ihrem Dorf blieben. Nimmt man das ernst, kann es nicht überraschen, dass ab Mitte der neunziger Jahre eine neue, verklärende Erinnerung an die DDR populär wurde, eine Erinnerung an die DDR als Heimat. Unter dem Stichwort „Ostalgie“ hat man das Phänomen verhandelt, das Bürgerrechtler, junge, erfolgreiche Ostdeutsche, Politiker, Journalisten und einen Teil der Westdeutschen erschreckte. Ostalgie konnte vieles ausdrücken: den Wunsch, heiter, karnevalistisch Abschied zu nehmen vom Vergangenen; die Sehnsucht nach „sicheren Arbeitsplätzen“ oder der eigenen Jugend; Ost-Trotz gegenüber einer als fremd empfundenen Republik; Zorn darüber, dass die eigenen Erfahrungen in der Öffentlichkeit keine Rolle zu spielen schienen. Ostalgie konnte Punk oder kommunistische Folklore sein, starrsinnig, borniert oder spielerisch, nachdenklich. Nicht zuletzt konnte sie helfen, der neuen Welt ein vertrauteres Angesicht zu geben und bot Gelegenheit für vielerlei Geschäfte, mediale und sonstige Resteverwertung.

Zelebriert wurde dabei ein ostdeutsches Wir, das es so nie gegeben hat. In der Folge von 1989 hatten die Ossis, wie sie nun hießen, feststellen müssen, wie wenig sie „ihre Heimat DDR“ gekannt hatten. Da es keine freie Öffentlichkeit gab, wussten die verschiedenen Milieus nur wenig voneinander. Die Akten der Staatssicherheit verrieten Doppelleben, geheime Existenzen. Zeithistoriker und Romanautoren profitieren bis heute von der Fülle der unbekannten, unerzählten Geschichten aus der immer unheimlicher werdenden Heimat. Und auch die postrevolutionären Lebensläufe unterschieden sich deutlich voneinander.

Der Osten als Schublade

Inzwischen liegen auch die Jahre der Ostalgie und der ostdeutschen Trotz-Identität hinter uns. Wenn in öffentlichen Debatten etwas als „ostdeutsches Phänomen“ beschworen wird, ist dies meist ein Zeichen für intellektuelle Bequemlichkeit, für die Weigerung, genauer hinzuschauen. DDR-
Erinnerungen geben für Heimatgefühle und Heimatinszenierungen nichts mehr her. Sie taugen nur noch fürs Heimatmuseum. 

Jens Bisky
Dr. Jens Bisky ist Redakteur im Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“. 2007 erschien von ihm eine Biographie Heinrichs von Kleist und 2011 „Unser König. Friedrich der Große und seine Zeit“ (beide Rowohlt). 2016 veröffentlichte er mit Torsten Buß und Enrico Lübbe (Hrsg.): Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt. Die Expertengespräche zu "Die Schutzflehenden/Die Schutzbefohlenen" (Theater der Zeit, Berlin). www.sueddeutsche.de