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Zeit vor dem Ersten Weltkrieg

Woher kommt die plötzliche Neugier?

Mit seinem Buch »Die Schlafwandler« hat der Historiker Christopher Clark einen Nerv getroffen. Seine These, dass der Ausbruch des Ersten Weltkriegs weniger deutschem Großmachtstreben geschuldet war als vielmehr einer komplizierten Mächtekonstellation, die während der Juli-Krise 1914 zu einer Verkettung fataler Entscheidungen geführt hat, wird im In- und Ausland breit diskutiert. Die Beiträge des März-Titelthemas hinterfragen, was diese neue Sicht für das Verständnis der jüngeren Geschichte bedeutet.

Jens Bisky14.03.2014

Seit Wochen halten sich auf den Sachbuch-Bestsellerlisten drei Titel über die Welt von Vorgestern: Christopher Clarks Studie über die Juli-Krise 1914, die kulturgeschichtliche Chronik des Jahres „1913“ von Florian Illies und Herfried Münklers Panorama „Der Große Krieg“. Es passiert selten, dass historische Bücher – zwei davon sind obendrein stolzen Umfangs – so viele Leser finden. Der Erste Weltkrieg fand in den letzten drei Jahrzehnten kaum größere öffentliche Aufmerksamkeit. Gewiss wurde viel geforscht und publiziert, Ausstellungen gab es und Versöhnungsreden, aber für das Geschichtsbild der Gebildeten spielte der Krieg eine bloß geringe Rolle. Meist beschied man sich mit Schulwissen und einzelnen Floskeln – Augusterlebnis, Grabenkrieg, Dolchstoßlegende, „Ur-Katastrophe“.

Bei Katastrophen schaut man lieber nicht so genau hin. Von 1969 bis 2012 ist in Deutschland keine Gesamtdarstellung des Ersten Weltkriegs erschienen. Zwar erinnern überall im Land auf Plätzen, Friedhöfen und in Kirchen schlichte Denkmäler oder Tafeln an die Gefallenen der Jahre 1914–1918, aber das Geschehen schien vor allem Vorgeschichte: der Weimarer Republik und ihres Untergangs, des „Dritten Reiches“ und des Zweiten Weltkriegs. Anders als in Frankreich oder England besaß der Erste Weltkrieg für das Selbstverständnis der Republik und die Traditionen in den einzelnen Familien keine Bedeutung. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik gelten den beiden deutschen Diktaturen. Entsprechend ratlos ging man auch an die Vorbereitungen des Jubiläumsjahres 2014.

Illusion der Gegenwärtigkeit

Und dann plötzlich diese Bucherfolge! Man könnte sich zurücklehnen und sagen, es seien einfach gute Bücher. Aber was an ihnen trifft den Nerv der lesenden Zeitgenossen? Karl Heinz Bohrer hat der deutschen Geschichtsschreibung mehrfach den Hang zur Moralistik vorgeworfen. Sie wolle das Böse bannen und erzählen, wie sich das Gute durchgesetzt hat. Interessant und mehr als eine Abfolge von Schreckensszenen wird der Große Krieg aber erst in anderer Perspektive. Florian Illies klammert ihn in seinem Buch über den „Sommer des Jahrhunderts“ aus. 1913 rechnete kaum einer mit Krieg, und nur Wenige vermochten sich einen Krieg vorzustellen wie den, der dann kam. Die Geschichten aus dem letzten Friedensjahr aber entfalten ihre Suggestivkraft, weil der Leser weiß, dass bald ein Krieg ausbricht. Er hätte aber nicht ausbrechen müssen. Illies unterläuft jede Vorstellung von Zwangsläufigkeit, Notwendigkeit. Weder die kapitalistischen Händler noch deren sozialistische Gegner würden einen Krieg zulassen. Das konnte man 1913 mit guten Gründen annehmen. Man hatte auch so Probleme genug, mit den Vätern, den Autoritäten, den Frauen und den Trieben, müde fühlte man sich und nervös.

Geschickt montiert Illies seine Funde aus Künstlerbiografien, Briefen, Zeitungen, sodass die Illusion der Gegenwärtigkeit entsteht, als seien die hundert Jahre zwischen uns und seinen Helden leicht zu überbrücken. Mit ihnen schwebt der Leser zwischen Lust und Furcht, kühnsten Hoffnungen und aberwitzigen Ängsten – im Jahr 1913 spiegelt sich das Lebensgefühl der Gegenwart mitten in einer Krise, von der keiner wissen kann, ob sie einmal, geschweige denn wann sie enden wird. Wir gehen auf festem Boden und glauben doch, beim nächsten Schritt einzubrechen. Dem Land geht es gut – und doch pfeifen auch die dümmsten Spatzen Untergangsmelodien von den Dächern. Gute Gründe sprechen für die Annahme, dass es nicht mehr lange gut gehen kann. Wahrscheinlich lebt das neue Interesse am Untergang des alten Europa von dieser Nähe des Burn-out-Zeitalters zum Zeitalter der Nervosität, von der Ähnlichkeit zwischen der heutigen Boom-Republik und dem prosperierenden Kaiserreich.

Wenn aber immer Krise ist und jedes Vertrauen sich rasch als illusionär entpuppen kann, dann wird Geschichte auf neue Weise interessant: Wie sind andere mit der grundsätzlichen Unsicherheit umgegangen, wie haben sie Kontingenz bewältigt, wie auf Überforderung reagiert. Wo eine Geschichtsschreibung, die das Böse bannen will, nach Schurken und Ideologien sucht, fragen Münkler und Clark nach Handlungsmöglichkeiten und nach Zwängen. Um Vergangenes zu verstehen, machen sie es komplizierter.

Logik von Schuld und Freispruch

Christopher Clarks Fazit, der Ausbruch des Krieges sei eine Tragödie, kein Verbrechen gewesen, ist in Deutschland oft als Freispruch gelesen worden: Freispruch von der Alleinschuld, die im Versailler Vertrag festgeschrieben wurde, Freispruch von den aus vielen Quellen erhärteten Thesen Fritz Fischers über die Planung und absichtliche Herbeiführung des Kriegsausbruchs, um nach der Weltmacht zu greifen. Aber die Logik von Schuld und Freispruch bleibt der Logik einer Geschichtsschreibung verpflichtet, die „Haltet den Dieb!“ ruft und das Böse bannen will, damit das Gute sich durchsetzen kann. Dass in Wien, Paris, Petersburg und London ebenso leichtfertig mit dem Feuer gespielt wurde wie in Berlin, entbindet niemanden von Verantwortung. Akteure einer Tragödie werden schuldlos schuldig. So genau wie keiner vor ihm hat Clark das Geflecht der Abhängigkeiten, das Neben- und Ineineinander von Geheimdiplomatie, militärischen Planungen, dem Druck der nationalen Öffentlichkeiten, das Wechselspiel von Erwartungen, Hoffnungen und Verdacht nachgezeichnet. Jenseits ahistorisch moralisierender Urteile, jenseits dessen, was Clark, „the blame-game“ nennt, ergibt sich aus seiner Darstellung ein viel vernichtenderes Urteil über die damaligen Eliten: Sie wirken in nahezu jedem Augenblick überfordert, nicht in der Lage, Konsequenzen ihres Handelns zu erkennen, und – wie bekannt – am Ende des Krieges nicht bereit, Verantwortung zu übernehmen.

Die neue Sicht auf die Juli-Krise ändert nichts an den verhängnisvollen Entscheidungen, die Sebastian Haffner in den sechziger Jahren, auf dem Höhepunkt der Fischer-Debatte, die „Todsünden des Deutschen Reiches“ genannt hat. Mit Talleyrand kann man sagen, sie waren schlimmer als Sünden. Es waren Fehler. Außenpolitiker und Militärs hatten gehofft, Großbritannien und die USA würden neutral bleiben und sich damit zweimal geirrt, ohne überzeugende alternative Planungen für die veränderte Situation zu besitzen. Als die Militärs Giftgas einsetzten, fehlte es an Truppen, um den furchtbaren Erfolg auszunutzen. Eine Weile dauerte es, die Politik vom unbeschränkten U-Boot-Krieg zu überzeugen, dann stellte sich heraus, dass es an U-Booten fehlte, ihn sinnvoll zu führen. Hundertausende wurden verheizt, bevor man sich auf die Logik des Grabenkrieges einzustellen vermochte. Der Große Krieg taugt, wie Münkler ohne spätgeborene Besserwisserei zeigt, als Kompendium dessen, was alles schief gehen kann. Vor allem aber, und das trübt jedes Bild der Juli-Krise 1914, besaßen weder Deutschland noch Österreich klar definierte Kriegsziele. Es fehlte an bestimmten Zwecken, weswegen die Sinnproduzenten immer neue und kühnere Szenarien entwarfen.

Strategisches Lernen

Die genaue Rekonstruktion erlaubt es dem Leser, Gegenwart und Geschichte ineinander zu spiegeln. Vieles an den Balkan-Krisen und Kriegen der neunziger Jahre erinnert an die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Und in den Europa-Diskussionen der Gegenwart spürt jeder das Missverhältnis zwischen fehlenden Zwecken und überbordender Sinnproduktion. Die Krisenregionen der Gegenwart lassen sich ohne genaue Kenntnis des Ersten Weltkriegs kaum verstehen: der Balkan, die Konflikte zwischen Ungarn und Rumänien, der Nahe Osten, die Ukraine, die erst in Folge der russischen Niederlagen und der bolschewistischen Revolution entstand, zu der es ohne den Leichtsinn der Obersten Heeresleitung nie gekommen wäre.

Man darf gespannt sein, wie in den kommenden vier Jahren die Schlachten, Entscheidungen, wie dann 2018 das Kriegsende erinnert und diskutiert werden. Die drei Bücher schärfen den Sinn für Kontinuitäten über die viel beschworenen Epochenbrüche hinweg. Dadurch erlauben sie ein strategisches Lernen. Nicht Opfer und Täter stehen dabei im Mittelpunkt, sondern Erwartungen, Ziele, Handlungsmöglichkeiten. Strategisches Lernen gilt der Fehlervermeidung. Es soll durch nüchterne Analyse gewährleisten, dass die politischen Entscheidungen dem Stand der Machtmittel entsprechen.

Aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stärke und ihrer geografischen Lage hat die Bundesrepublik überhaupt keine andere Wahl, als ihre Rolle als Führungsmacht in Europa wahrzunehmen. Man kann dies schlecht vorbereitet und dilettantisch tun, dann wird es leicht zu jenen Augenblicken der Überforderung kommen, an denen die Geschichte des Großen Krieges so reich ist. Oder sie kann aus dem Versagen der damaligen Eliten lernen, wie man eine den eigenen Möglichkeiten angemessene Politik organisiert. Die vielen Leser, die Clark, Illies und Münkler gefunden haben, scheinen dies wenigstens zu ahnen.

Jens Bisky
Dr. Jens Bisky ist Redakteur im Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“. 2007 erschien von ihm eine Biographie Heinrichs von Kleist und 2011 „Unser König. Friedrich der Große und seine Zeit“ (beide Rowohlt). 2016 veröffentlichte er mit Torsten Buß und Enrico Lübbe (Hrsg.): Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt. Die Expertengespräche zu "Die Schutzflehenden/Die Schutzbefohlenen" (Theater der Zeit, Berlin). www.sueddeutsche.de

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