Deutsche Gegenwartsliteratur
Dichter im Betrieb
Stecken die Dichter und Denker unserer Tage in einer Identitätskrise? Obwohl sich die Welt in einem permanenten digitalen Wandel befindet, obwohl alte politische Gewissheiten nicht mehr gelten, und obwohl die Naturwissenschaften regelmäßig neue Horizonte vermessen, gibt es kaum noch bekannte Groß-Deuter, die den Zeitgenossen den Lauf der Ereignisse erklären. Die Beiträge des Juli-Titelthemas begeben sich auf die Suche nach den Ursachen dieses Phänomens – und nach dem Platz des Intellektuellen in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts.
Beinahe wäre es in diesem Jahr zu einem Streit über die Qualität der deutschen Gegenwartsliteratur gekommen. Der Kulturjournalist Florian Kessler fand sie viel zu brav und konformistisch, und er wusste auch, woran das lag: am Milieu, in dem Schriftsteller sich bewegen. Es sei zu homogen, gehobene bundesrepublikanische Mittelschicht; es neige zur Inzucht und prämiere angepasstes Verhalten.
Unter dem hübschen Titel „Lassen sie mich durch, ich bin Arztsohn!“ wurde Kesslers Text in der „Zeit“ vorabgedruckt. Landauf, landab schrieben Kritiker über die Thesen, jeder hatte eine Meinung, Podiumsdiskussionen wurden einberufen, aber eine wirkliche Debatte, eine die mit den Streitfällen der neunziger Jahre, dem Gezänk um Christa Wolf, Botho Strauß, Martin Walser oder Peter Handke hätte mithalten können, kam dann doch nicht zustande. „Jede Bildungsreisen-Rentnergruppe im Berliner Ensemble unterhält sich inhaltlich angeregter als die jungen Schriftsteller dieses Landes“, hieß es bei Florian Kessler – viele Reaktionen auf seine dosierte Frechheit und seine Antworten darauf haben diesen Satz vollauf bestätigt. Der Vorgang verdient einen zweiten Blick, verrät er doch einiges über den Zustand des literarischen Lebens. Worin dessen Witz besteht, scheint vergessen.
Die Reihe der Merkwürdigkeiten beginnt mit der Art des Kesslerschen Textes: Es handelt sich um eine ironisch abgefederte Erinnerung an die eigene Laufbahn, der Mann ist 32. Was ihn stört, hat er angedeutet, nie ausgeführt: Bravheit, ästhetische „Bürgerkinder-Anspruchslosigkeit“, Betriebsnudeltum. Wer sein Unbehagen am eigenen Milieu auf diese Weise äußert, zeigt deutlich, dass er gar nicht daran denkt, dessen Grenzen zu überschreiten. Er spielt zur Abwechslung mit der Lust am Exotischen, Widerständigen, Nicht-Braven, Non-Konformistischen. Die Vermutung, dass Abenteuer, „das Leben“, das Relevante dort zu finden seien, wo wir nicht sind, gehört seit wenigstens 150 Jahren zum Literaturbetrieb. Das große Andere noch einmal zu beschwören, bringt wenig. Was spricht eigentlich gegen die Annahme, dass die großen Abenteuer unserer Zeit in den standardisierten Büros, meinetwegen auch in den Studiengängen für kreatives Schreiben stattfinden? Auch das Angestelltendasein kennt seine Tragödien.
Symptome des Wandels
Der kluge Einzelgänger Rainald Goetz hat sich vor Jahren in die Mitte des Literaturbetriebs begeben, um der Gegenwart den Puls zu fühlen. Man lese sein Internet-Tagebuch „Abfall für alle“ oder seinen Bericht „Loslabern“. Die Blödheit der Macher, das Widerliche der Bestätigungskartelle sind scharf gesehen, doch wird hier aus Wut, Abscheu, Ekel, Langeweile so etwas wie Erkenntnis, Neugier, Lebenslust; vor allem aber entstehen schöne Sätze, ein eigener Sound des Mitschwingens aus Verweigerung. Das abgestanden Programmatische hat Goetz gar nicht nötig, weil er noch in kleinen Gesten Konflikte, Kampf, Hierarchien entdeckt, weil ihm gelingt, was Leser mit gutem Grund an Literatur lieben: anhand einer Anzugnaht, eines Wortes, eine Schweigens eine Welt zu vergegenwärtigen.
Aber natürlich ist es unfair, das betriebskonforme Unbehagen am Betrieb mit einem Hinweis auf Rainald Goetz oder mit anderen Beispielen wegzuwischen. Es sind ja die Klagen über Bravheit ein Symptom des Wandels, den wir erleben und den wir noch nicht richtig verstanden haben. Die Zeiten, in denen der Essay oder die Rede eines Schriftstellers, eine politische Meinungsäußerung für wochenlange Erregung unter den Lesern im Lande sorgten, scheinen vorbei. Wahrscheinlich nicht für immer, aber doch für einige Jahre.
Der Schriftsteller als Großintellektueller war eine Figur des Kalten Krieges. Weil die politischen Lager klar unterschieden waren, weil beide Seiten sich mit Künstlern schmücken wollten, konnte literarisch erworbenes Ansehen in moralische Autorität umgemünzt werden. Auch das beliebte „Querdenken“ setzt deutliche Frontverläufe voraus. In den Literaturdebatten der neunziger Jahre, beginnend mit dem Streit um Christa Wolfs Erzählung „Was bleibt“, ist die Figur des Großintellektuellen zu Grabe getragen worden.
Politische Meinungen und moralische Ansichten äußern Schriftsteller weiterhin, doch tun sie es wie andere Bürger auch. Sie besitzen lediglich den Vorteil, leichter Aufmerksamkeit zu finden. Wenn Ingo Schulze gegen eine „marktkonforme Demokratie“ streitet, wenn Juli Zeh den Überwachungsstaat kritisiert, dann werden sie als prominente Stimmen zur Kenntnis genommen, ohne dass ihnen aufgrund ihrer Romane ein besonderer Status zuwüchse. Von einer „Demokratisierung der Intellektuellenrolle“ hat man in diesem Zusammenhang gesprochen, kaum einer bedauert diese Entwicklung. Es liegt auch nicht im Belieben des einzelnen, sie zurückzunehmen. Wer mit Gedichten, etwa zur Politik Israels, noch einmal den Warner und Mahner spielen will, verfällt dem Spott, weil er gegen die Regeln des eigenen Handwerks verstößt, das falsche Genre gewählt hat. Die Öffentlichkeit ist in diesem Punkt literarisch empfindlicher geworden. Zuletzt musste das Sibylle Lewitscharoff erfahren, deren Dresdner Rede vor allem als rhetorisch misslungen kritisiert wurde.
Abseits der Routinen
Jenseits des politischen Tagesgeschäfts, jenseits der journalistischen Aufgeregtheiten und feuilletonistischen Debatten spielt Literatur jedoch unverändert eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Selbstverständigung der Mittelschichten, die nach wie vor den Ton angeben im Land, die soziale Temperatur bestimmen. Man denke nur an Uwe Tellkamps überraschend erfolgreichen Monumentalroman über das Dresden der achtziger Jahre, über das Bürgertum im verdämmernden Sozialismus. „Der Turm“, 2008 erschienen und mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, hat den zähen Zank darüber, wie die DDR war, wie von ihr geredet, wie an sie erinnert werden müsse, auf eine neue Stufe gehoben. Eben deswegen wird das Buch bis heute leidenschaftlich abgelehnt oder begeistert gepriesen. Nie war dabei, und das macht den Fall besonders interessant, das Urteil über Tellkamps Bild der DDR unabhängig vom Urteil über sein Erzählverfahren und seinen Satzbau. Literatur kann wie ein Spiegel funktionieren, indem eine Gesellschaft ihre Erfahrungen wiedererkennt. Damit ist dann auch die Möglichkeit der Ergänzung, des Widerspruch gegeben.
Ein zweites Beispiel wäre der Jugendroman „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf, der ein so freundliches, aber nicht beschönigendes Bild der Gegenwart zeichnet. Alle rechnen jeden Augenblick mit dem schlimmsten, doch Herrndorfs Helden begegnet stets das Gute, Helfende, das „Nicht-Schlechte“.
Herrndorf hätte sich wahrscheinlich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt, in einem Atemzug mit Tellkamp genannt zu werden, er mochte dessen Prosa nicht. Doch haben der „Turm“ wie „Tschick“ dieses gemeinsam: Untergründig prägen sie die Selbstwahrnehmung der Gesellschaft. Nimmt man die Fülle der kritischen Diskussion über beide Bücher und deren erstaunliche Verkaufszahlen ernst, dann scheint eine große Zahl der Leser im Lande begierig nach Deutungen abseits der Expertenthesen und journalistischen Routinen. Vielleicht warten sie nicht in jeder Saison auf ein neues literarisches Meisterwerk; dies anzunehmen, wäre übertrieben. Aber sie sind sehr offen und dankbar für Werke, die ihre Erfahrungen gestalten und transformieren.
Gern werden solche Werke als Ausnahmen begriffen, die sich gleichsam gegen den Literaturbetrieb durchgesetzt hätten, gegen die angeblich übermächtigen Zwänge zum braven, konformen Schreiben. Die Missachtung des Betriebes und des Milieus hat jedoch nicht nur etwas ausgesprochen Betriebsnudelhaftes. Übersehen wird dabei, dass die Institutionen des literarischen Lebens zu den verlässlichsten kulturellen Einrichtungen des Landes gehören. Da sie weniger kosten, sind sie im Regelfall auch weniger gefährdet als Theater, Opernhäuser, Orchester oder Universitäten. Während diese in den vergangenen 15 Jahren eine Sparrunde nach der anderen ertragen mussten, entstanden Literaturhäuser, Literaturfestivals und Lesetage in kaum zu überblickender Zahl. Selbstverständlich ist das auch eine Form des Marketings für Bücher und Autoren, doch liegt das Werbe- und Geschäftsinteresse in diesem Fall nicht sehr weit von den Bedürfnissen der bürgerlichen Gesellschaft entfernt. Diese trifft sich allabendlich in vielen kleinen Kreisen zu Lesungen, Vorträgen, Lyrikevents.
Wer ein freundliches Deutschlandbild gewinnen will, sollte einmal drei, vier Wochen durchs Land reisen und solche Veranstaltungen besuchen. In ihnen konstituiert sich so etwas wie die „ideale Allgemeinheit“ der bundesrepublikanischen Gegenwart. Juste Milieu? Konformität? Geschenkt. Diese Bravheit ist anspruchsvoll und für den Zusammenhalt des Landes relevant. Sie ist oft verspottet und attackiert worden, wartet aber noch auf ihre angemessene Beschreibung.
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