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High Noon am späten Abend

Titelthema - High Noon am späten Abend
Flutlichtspiele wie hier in der Münchner Allianz Arena intensivieren das Ereignis. Die Umgebung liegt im Dunkel, die Aufmerksamkeit gilt ausschließlich dem Spiel. © ullstein bild/rzepka

Flutlicht erhöht die Bedeutung von Sportereignissen. Es bereitet die Bühne für den Showdown, schürt Emotionen und macht Triumphe und Tragödien sichtbar.

Gunter Gebauer01.12.2019

Wer den Ausdruck „Flutlicht“ prägte, hatte eine genaue Vorstellung von dem Moment, in dem eine dunkle Arena in Helligkeit getaucht wird. Mit einem Mal liegt das Spielfeld da wie eine Theaterbühne – eine Welt, die darauf wartet, bespielt zu werden. Um sie herum – in ihrer Umgebung und auf den Tribünen – bleiben Reste von Dunkelheit. Der Rasen in ihrer Mitte wird von oben bis in die letzte Ecke ausgeleuchtet. Jede Szene an jedem Ort des Platzes wird transparent – jeder Verstoß gegen die Spielregeln wird sichtbar. Michel Foucault hat die Anlage des modernen Gefängnisses als eine Architektur beschrieben, die jede Zelle von außen einsehbar macht – in den Arenen des Fußballs wird dieses Ideal, zur Freude der Fans, verwirklicht.

Durch die hellen Öffnungen drängen die Zuschauer aus dem Dunkeln ins Innere der Arena. Vor ihnen scheint ein Theatervorhang gehoben worden zu sein. Obwohl auf dem Spielfeld noch nichts geschieht – sie sehen nur die leeren Tore und die Kreidestriche auf dem Rasen –, werden ihre Blicke unwiderstehlich vom Licht angezogen. Es verwandelt mit magischer Kraft alles, was es erfasst. Alles wird intensiver: die Farben, der Lärm, das Getriebe auf den Rängen, die Spannung, die Vorfreude auf das Spiel. Von oben, vom Flugzeug aus gesehen, erscheint die erleuchtete Arena wie ein magischer Ort. Kein Platz in der Stadt leuchtet heller; aus der Entfernung spürt man, dass dort, in der Überfülle des Lichts, Wichtiges geschehen wird. Am hellsten erstrahlt das Flutlicht von Sportveranstaltungen, wenn die Umgebung vollkommen im Dunkeln liegt, wie bei nächtlichen Marathonläufen, beim Nachtspringen der Skispringer oder beim Nachtrennen von Singapur der Formel 1.

Das Flutlicht ist wie das Licht des höchsten Sonnenstands. In der Mythologie des Mittelmeers ist es der „große Mittag“; für Friedrich Nietzsche ist dies die Zeit der großen Entscheidungen. Die Sonne steht senkrecht über der Welt, sie leuchtet die Welt bis in ihre letzten Winkel aus. Es ist die Zeit des Gerichtsprozesses, der Wahrheitsfindung, der Gerechtigkeit, des Zweikampfes. In der europäischen Mythologie finden die großen Kämpfe am großen Mittag statt; so war es bei den Schlachten vor Troja, den Wettspielen in Olympia, später bei den Gladiatoren- und Stierkämpfen. Im amerikanischen Western ist High Noon die Zeit des finalen Duells. Unter dem weißen Licht der Mittagssonne ereignet sich eine unerbittliche Welt; Albert Camus hat in seinen mediterranen Erzählungen ihre Grausamkeit gezeigt. In der totalen Sichtbarkeit dieser Welt müssen sich die Wettkämpfer beweisen. Es gibt auf dem Platz kein Zurück, kein Versteck, keine Tiefe des Raums, aus der ein Spieler kommen könnte. Das mittelmeerische Licht des Mittags ist ein kaltes Licht. Es ist das Gegenteil des Lagerfeuers, um das herum sich die Menschen lagern und sich Geschichten erzählen.

Im Halbdunkel der Tribünen erwarten die Zuschauer das Ereignis. Die Leere des Rasens belebt sich. Aus dem Kabinengang kommen die Spieler in das Innere der Arena – wer ins Licht läuft, erhält Bedeutung. Es ist, als würde der Äther, der nach alter Auffassung die Lichtwellen transportiert, die Spieler stärken, ja erhöhen. Er verleiht den Körpern, die von ihm getroffen werden, einen Anflug von Erhabenheit, ihre Taten wirken größer. Die angestrahlten Gestalten wirken fast irreal, ihre irdische Schwere scheint sich in eine höhere Form der Energie zu verwandeln. Äußerlich heben sie sich mit scharfen Konturen von ihrer Umgebung ab; ihr Inneres steht unter Hochspannung.

Unter Hochspannung
Das Spiel unter Flutlicht ist ein anderes als unter einem nordeuropäischen Himmel. Es riecht nicht mehr nach feuchtem Gras und dunklem Boden. Bei den Helden von Bern 1954 spürt man beim Betrachten der alten Fotos die am Körper hängenden nassen Trikots, an ihnen klebt noch Erde des aufgewühlten Spielfeldes. Die Helden jener Zeit vor dem Flutlicht dampften und rochen nach Anstrengung, ihr Heroismus hatte den Stil neorealistischer Filme. Nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft 2018 sehen die französischen Spieler unter dem Sturzregen im Moskauer Luschniki-Stadion aus, als seien sie einem Aquarium entstiegen. Der ehemals strenge Realismus des Fußballs ist im Flutlicht der Arena zu einem surrealen Stummfilm geworden, mit zwei Staatsoberhäuptern, die im Licht der Öffentlichkeit ekstatische Verrenkungen aufführen.

Ein Fußballspiel, in einem extremen Zeitraffer aufgenommen, würde zeigen, wie in ewiger Dunkelheit mit einem Schlag das Licht aufgeht, die Arena flutet, wie es diese belebt und dann, nachdem es Triumphe und Tragödien sichtbar gemacht hat, in Dunkelheit zurückfällt – die Genese der Welt und ihr Erlöschen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden im Krieg die Kämpfe abgebrochen, wenn die Nacht über das Schlachtfeld hereinbrach. Im Fußball ist es heute umgekehrt: Wenn das Spielgeschehen beendet und der Platz geräumt ist, kehrt wieder Dunkelheit ein, bis zum nächsten Spieltag.

Gunter Gebauer
Prof. Dr. Gunter Gebauer ist em. Professor für Philosophie und Soziologie des Sports an der Freien Universität Berlin. Er war u. a. Präsident der Philosophical Society for the Study of Sports und Sprecher des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie. www.gebauer.cultd.net