Titelthema
Ein Spiegelbild unserer modernen Gesellschaft
Über die Faszination des Fußballs, seine soziale Bedeutung, den Faktor Zufall sowie nationale Mythen und Befindlichkeiten
Fußball ist eine der großen Verheißungen der Gegenwart. Wer ihn liebt und ihm vertraut, dem verspricht er alles, was er sich für sein Leben wünscht – Erfolg, Aufstieg, Ansehen. Ein Spiel dauert 90 Minuten. Innerhalb kürzester Zeit kann ein Fußballer heute mit 18, 19 Jahren zu einem Star werden. Alles, was in anderen Berufen zählt – Herkunft, Schule, Berufsausbildung – ist in seiner Karriere belanglos. Dies behaupten die Mythen des Fußballs. Sie sind die moderne Version der alten Geschichte des Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär: Als weit verbreitetes und leicht verständliches Spiel öffnet der Fußball Spielern aus unteren sozialen Schichten ebenso wie Kindern ausländischer Eltern einen Weg nach oben. – Ein Mythos ist nie reine Erfindung; er spricht aber auch keine Wahrheit aus. Vielmehr bündelt er die Vorstellungen darüber, wie in einer Gesellschaft Herrschaft errungen und organisiert wird. Er verschweigt jedoch die Kraft, die Fußballkarieren bedroht: die herausragende Rolle des Zufalls.
Der Zufall im Fußball ist Thema eines anderen – negativen – Mythos: Der Ball ist rund. Er ist wie die Kugel, auf der die Glücksgöttin steht. Die antike Darstellung der Fortuna zeigt die Fragilität des Glücks. Kein anderes Spiel setzt die Beteiligten so sehr dem Zufall aus wie der Fußball. Auch der beste Athlet kann nicht bestimmen, wohin der Ball fliegt. Er kann noch so geschickt sein – der Ball macht, was er will; er springt vom Fuß, fliegt über das Tor oder an den Pfosten, wird abgefälscht, rollt ins Aus. Das Ideal der Ballbeherrschung verschleiert die Tatsache, dass selbst den größten Spielern es nur in Ausnahmesituationen gelingt, dem Ball ihren Willen aufzuzwingen. Im Unterschied zu allen anderen Spielen ist im Fußball der Einsatz des geschicktesten Körperteils des Menschen, der Hand, für die Feldspieler verboten. Auch die berühmtesten Spieler werden dem blinden Zufall ausgesetzt. Ein verschossener Elfmeter (wie bei Schweinsteiger), ein Schuss aus kürzester Entfernung hoch über das Tor (wie bei Gomez), ein Fehlpass in die Füße der Angreifer (wie bei Boateng) lasten als ein nicht zu tilgender Fluch auf der Karriere des unglücklichen Spielers.
Der Zufall hat im Fußball bei weitem mehr Laufbahnen von hoffnungsvollen Spielern zerstört als befördert. In den Nachwuchszentren des deutschen Fußballs werden Tausende hochbegabter Jungen ausgebildet. Nur einige wenige Absolventen eines Jahrgangs schaffen es in einen Bundesligaverein, und dann auch nur in die zweite Mannschaft. Alle anderen fristen ihr fußballerisches Dasein in der dritten oder gar vierten Liga, aus der kaum ein Aufstieg möglich ist. Aber auch ein Erfolg, wie der Aufstieg in die Bundesliga oder ein Platz im Wettbewerb der Europa-League, kann für die kleineren Clubs prekär enden: wenn die Mannschaft durch die neuen Anforderungen entkräftet von Niederlage zu Niederlage taumelt und am Ende zerfällt.
Kollektive Einbildungskraft
Fußballmythen sind als Antriebskraft von Karrieren junger Spieler so erfolgreich, weil sie von den Fans eines ganzen Landes geglaubt werden. Sie zeigen nicht nur, wie Herrschaft und Aufstieg errungen wird – sie geben auch eine Antwort auf die Frage, wer wir sind. Einer der wirkungsvollsten nationalen Mythen der deutschen Gegenwart erzählt von der Nationalmannschaft. Ihre Triumphe tragen wesentlich dazu bei, das Selbstbewusstsein unseres Landes zu festigen. Am Stil und am Charakter einer Mannschaft zeigt sich sinnlich, welche Vorstellungen die Bevölkerung einer Nation oder einer Region von sich selbst hat. Im Fußball kann eine Mannschaft, wie Schalke 04 oder Borussia Dortmund, einen besonderen Stil erfolgreich ausprägen und den Zuschauern ein Bild vor Augen halten. In dieser Idealisierung kann das Publikum Ähnlichkeiten mit sich selbst erblicken und in sein Selbst-Bild übernehmen. Als 1997 Schalke und die Borussia beide europäischen Fußballpokale gewannen, skandierten die Menschen in Gelsenkirchen und in Dortmund auf den Straßen: „Ruhrpott, Ruhrpott!“
Es ist ein Prozess, in dem sich die Mythen des Fußballs und der Region miteinander vereinen. Die Verschmelzung der Mythen von Verein und Nation oder Region wird in der Einbildungskraft der Anhänger hergestellt. Ihre Wirkungen auf die Selbstwahrnehmung der Beteiligten sind jedoch real. In den Augen des Publikums erscheint die Nation oder Region als eine Kraft, die den Erfolg „ihrer“ Mannschaft möglich gemacht hat.
Fußball ist unser Leben. Mag auch der Schlager der Nationalelf von 1974 peinlich sein, der Titel enthält doch etwas Wahres. Im Erleben der Fans verbindet sich ein denkwürdiges Fußballspiel mit ihrer aktuellen Lebenssituation, die wiederum in einen politischen Kontext eingebettet ist. Das Spiel wird zu einem Ereignis in einer besonderen persönlichen und zeithistorischen Konstellation. Verstärkt wird die Erinnerung an die subjektiv erfahrene Geschichte des eigenen Landes dadurch, dass sie mit anderen geteilt wird: Wenn die Fans auf andere treffen, die die gleichen Spiele gesehen haben, leben ihre Emotionen wieder auf, unabhängig davon, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist. Die anderen Fans haben, wie sie selbst, ihr Leben entsprechend der Höhepunkte ihres Fußball-Erlebens strukturiert, so dass sich ihre individuellen Erinnerungen einander angleichen. In ihre positiven Gefühle sind auch die anderen Anhänger ihrer Mannschaft eingeschlossen. Die Nähe, die von den gemeinsamen Erfahrungen erzeugt wird, überbrückt mühelos die individuellen und sozialen Unterschiede zwischen ihnen. In dieser Hinsicht ist sie dem religiösen Gefühl verwandt – Gott ist rund.
Fußball und nationale Befindlichkeit
Im Mittelpunkt des Erlebens der meisten Fußballfans in Deutschland steht der Mythos der Nationalmannschaft. Seine Bedeutung wird dadurch erhöht, dass er mit anderen nationalen Mythen verzahnt ist. Bei Spielen der Nationalelf geht es offenkundig um den sportlichen Erfolg; untergründig prüfen sie aber auch den symbolischen Wert der Nation. Die Sehbeteiligung eines großen Teils der deutschen Bevölkerung, männlich wie weiblich, jung wie alt, an den TV-Übertragungen der Spiele der Nationalmannschaft ist eine Manifestation des Glaubens an diesen Mythos. Er baut für die Dauer des Spiels, oft auch darüber hinaus, ein kollektives Wir-Bollwerk.
Mit seinen Querverbindungen zum wirtschaftlichen Leben des Landes ist der nationale Fußballmythos ein Indikator der nationalen Befindlichkeit. Die Geschicke von Wirtschaft und Fußball sind nicht kausal miteinander verknüpft: Fußballerfolge und -misserfolge gehören, anders als ökonomische Ergebnisse, in die symbolische Sphäre. Sie können gemeinsam die Zuversicht und das Wir-Gefühl steigern; sie können sich aber auch gegenseitig in den Abgrund ziehen. Fußballer spüren die Verkettung von Unglücken, die am Ende nicht mehr aufzuhalten sind; Andy Brehme drückt sie fußballerisch aus: „Haste Scheiße anne Füße, haste Scheiße anne Füße.“
Nicht nur die Gegenwart, auch die Vergangenheit wird durch das gemeinsame Interesse am Fußball geformt. Erinnerung ist dynamisch; sie projiziert die neu gebildeten Strukturen rückwirkend auf die Geschichte. Als imaginierte Geschichte rekonstruiert sie die wichtigen historischen Ereignisse des eigenen Landes in der Perspektive der aktuellen Gegenwart. Der Gewinn der WM 1954 ist dafür das beste Beispiel. Bis Ende der 80er Jahre maß man ihm keine besondere Bedeutung über den Sport hinaus zu. Seit den 90er Jahren, nach der Wiedervereinigung Deutschlands, werden die vom Fußball hervorgerufenen Gemeinschaftsgefühle in der Rückschau in einem neuen Licht gesehen. Sie werden zu einem nationalen Mythos geformt.
Einer der Gründe dafür ist auch die veränderte Rolle des Fußballs heute. 1954 war das Interesse am Fußball in der Bundesrepublik vergleichsweise gering. Insbesondere die höheren Schichten sahen in ihm eine Bolzerei von proletarischen Spielern. Soziologisch war dies keineswegs korrekt – auch die Jungen der Mittelschichten spielten Fußball. Sein soziales Image war beim bürgerlichen Publikum deutlich stärker von Ruhrgebiets-Recken geprägt als von Spielern mit (klein)bürgerlicher Herkunft wie Fritz Walter, Franz Beckenbauer oder Günter Netzer. Eine grundlegende Veränderung trat in den 90er Jahren ein, als Fußballstars zu Spitzenverdienern aufstiegen und als sich die höheren Kreise der Gesellschaft für deren Sport als authentische Darstellung großer Gefühle und männlicher Körperlichkeit zu interessieren begannen. Fußball ist heute die einzige Sportart in Deutschland, die in allen Schichten der Gesellschaft, unabhängig von Bildung und Geschlecht, gleichermaßen Anklang findet.
Der Fußballmythos wird seit 2014 von dem Bild der Mannschaft geprägt. Er drückt einen Glauben an ein solidarisches Miteinander in der Anstrengung aus, dasselbe Ziel zu erreichen. Andererseits enthält er eine untergründige Furcht davor, diese Eigenschaften zu verlieren: durch innere Schwächung und Gefährdung von außen. Es gibt viele Stimmen im Lande, die einen Schwund der Stärke durch Veränderung des Kerns deutscher Identität vorhersagen. Bei gelassener Betrachtung der Dinge erkennt man jedoch, dass die Identität einer Nation und ihres Fußballs ständig im Fluss ist. Es kommt darauf an, sie dynamisch an die Veränderungen der Zeitläufte anzupassen.
Buchtipp
Gunter Gebauer
Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs
320 Seiten
Klappenbroschur
14,99 Euro
Pantheon Verlag,
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