Editorial
Im Übergang
Die Ukraine befindet sich seit Jahren in einem Schwebezustand
Die Gedanken an die Ukraine sind in diesen Tagen düster. Es geht nicht um ihre weißen Strände, wunderschönen Städte oder ihre reiche Kultur, sondern um Krieg. Die 100.000 russischen Streitkräfte an der russisch-ukrainischen Grenze sind eben nicht nur eine Drohkulisse, sondern eine ganz akute Gefahr für die globale Sicherheitsarchitektur. Seit Jahren befindet sich das Land in einem Schwebezustand, schaut sehnsüchtig nach Westen, aber wird festgehalten vom Osten. Zum Auftakt unserer Titelgeschichte stellt Michael Stürmer, ehemaliger Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, eine provokante These auf: Die Nato-Partner müssten sich fragen, ob sie nicht selbst dazu beigetragen haben, den Gegner ins Leben zu rufen, den sie jetzt fürchten. Und der langjährige Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger analysiert im Interview die Interessen Moskaus, schätzt die Kriegsgefahr ein und geht hart ins Gericht mit der Europäischen Union: „Die EU hat sich, nicht wissend, was sie tut, an den Spielfeldrand gestellt und darf jetzt zuschauen. Ich wünsche viel Spaß beim Versuch, europäische Souveränität zu behaupten. So wird das jedenfalls nichts.“
Der Konflikt in der Ostukraine hat das Land nun also ins Zentrum der weltweiten Aufmerksamkeit gerückt – eine Aufmerksamkeit, nach der es nicht gefragt hat, aber die es verdient. Ein Stück weit ist es der europäischen Ignoranz geschuldet, die Ukraine auch 30 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht als das wahrzunehmen, was sie lange war: Teil einer gemeinsamen europäischen Kultur. Wer sich die Mühe macht, sich unserem östlichen Nachbarn einmal ernsthaft zu nähern, stellt fest, dass die Ukraine eben kein homogenes Gebilde ist mit einer gemeinsamen Sprache und einer gemeinsamen Geschichte. Sie ist historisch, kulturell und darum auch sprachlich vielfältig und nicht ohne innere Konflikte. Doch trotz aller regionalen Vielfalt und Differenzen hat sich eine nationale Identität herausgebildet, die sich nicht zuletzt durch eine Abgrenzung zu Russland begründet, schreibt Osteuropa-Expertin Gwendolyn Sasse.
Eine Region, die unsere besondere Aufmerksamkeit verdient, ist Galizien. Der westliche Zipfel der Ukraine, der für viele Deutsche so weit weg und für viele Österreicher so nah ist, war einst Teil des Habsburger-Reichs, in dem Juden, Ukrainer, Polen und Deutsche zusammenlebten. Doch dann verlor Galizien, wie so viele mittel- und osteuropäische Regionen, durch Holocaust und Vertreibung einen Großteil seiner Bewohner – und damit sein kulturelles Gedächtnis. Der französische Schriftsteller Marc Sagnol hat sich für sein Buch Galizien und Lodomerien auf Spurensuche in einen untergegangenen europäischen Kulturraum begeben und unseren Herausgeber Johann Michael Möller tief berührt.
Nichts lag näher, als angesichts dieses Titelthemas auch einen Blick auf Rotary in der Ukraine zu werfen. Unser Fokus erzählt die Geschichten von vier rotarischen Freunden, die auf unterschiedliche Weise von den anhaltenden politischen Krisen auf der Krim und im Osten des Landes betroffen sind und auf bemerkenswerte Weise darauf reagiert haben. Es sind wahre People of Action, die ihr Schicksal in die Hand nahmen, ihre Heimat verließen und sich an anderer Stelle ein neues Leben, auch ein neues rotarisches Umfeld, aufbauten. Mykola Stebljanko ist Redakteur des ukrainischen Rotary Magazins, bestens vernetzt und selbst gemeinsam mit seiner Ehefrau
im Zuge der Krim-Annexion nach Odessa gezogen. Er berichtet von einer unglaublichen Erfolgsgeschichte: Während Rotary in den besetzten Gebieten nahezu verschwunden ist, ist die Entwicklung jenseits der Krisenregionen sehr ermutigend. Seit 2014 ist Rotary von 45 auf 62 Clubs und von 800 auf 1100 Mitglieder gewachsen.
Viel Vergnügen bei der Lektüre wünscht
Björn Lange
Chefredakteur
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