Hoffmeisters Empfehlungen
Naturaffine Kunst
Reiseerfahrungen zwischen Abgrund und Emphase
Wer das Haus verlässt, kehrt in der Regel verändert zurück. Sei es der Ausflug vor die Tore der Stadt, der Gang durchs Viertel oder die ausgewachsene Reise: Bewegung zeitigt Bewusst-Sein, im besten Fall Metamorphosen der Erkenntnis. Selbst die halluzinatorisch-entgrenzte Kopf-Reise steht bisweilen für mentale Läuterung. Bereits der Entschluss zum Aufbruch impliziert ein vielgesichtiges Imaginationstableau zwischen Erwartung, Antizipation, Hoffnung, Ängsten und Ungewissheit. Den Künsten dient solche Indifferenz seit jeher als idealtypische Schaffensgrundlage.
Kein zweiter deutscher Gegenwartsautor hat das Thema Reise vergleichbar vielperspektivisch in seinen Texten abgebildet wie Matthias Politycki. Sein jüngster Band, Resümee vier Jahrzehnte langen, exzessiven Tourens reflektiert das Sujet so umfassend wie abschliessend. Es liegt kein Empfehlungsguide oder touristisches Handbuch vor, weniger literarische Einlassung, vielmehr philosophisch-existentieller Reflex auf zahllose Erfahrungen zwischen Schock und Emphase, Abenteuer, Langeweile, Grenzgang, Irrwitz, Selbstausbeutung und Glückseligkeit. Am Ende lauert „Erleuchtung“.
Als Geniestreich stilvoll-dezenter Beherbergungs-Kultur gilt seit 100 Jahren Schloss Elmau, idyllisch gelegen auf einer abgeschiedenen Hochalm am Fuße des bayerischen Wetterstein-Massivs. Als Attacke gegen die Niederungen zivilisatorischer Unrast konzipiert, generiert der weiträumig angelegte Komplex mit seinem kultivierten Personal ebenso kontemplative Einkehr und Inspiration wie er durch avanciertes Kulturangebot (Bibliothek, Buchhandlung, Konzerte, Lesungen, Diskussionsrunden) – zu intellektueller Fokussierung einlädt.
Eher den Abgründen und Grenzerfahrungen des Reisens verpflichtet, präsentiert sich Joseph Conrads Klassiker „Herz der Finsternis“. Das nie verfilmte Drehbuch von Orson Welles nach der 1899 entstanden Erzählung liegt jetzt
als exquisit realisierte Hörspielfassung in prominenter Besetzung (Ulrich Matthes, Sylvester Groth) vor. Die Reise des Protagonisten Marlow in den Dschungel des Kongo steht exemplarisch für den surrealen Ausnahmezustand: Für Eskalation, Grauen, Wahnsinn, Düsternis, Tod, Ausschweifung und die Auseinandersetzung mit dem Fremden. Die suggestive, dicht inszenierte Reise in die grellen Zonen des Bösen lässt beispielhaft die Möglichkeiten des Genres aufscheinen.
Entfremdet von Zeitgenossen und Kollegen, jenseits künstlerischen Zeitgeistes, entwickelte der Expressionist Emil Nolde seine Affinität zum Abseits, zur Fremde und geschützten Naturräumen. Zu eindrücklichen Menschen-Portraits fand Nolde insbesondere während seiner Reisen. Ein dreiwöchiger Japan-Aufenthalt (1913) inspirierte den Künstler zu einer Reihe von stilbildenden Aquarellen mit Portraits und Theater-Szenen. Insbesondere der komplexen Ideenwelt und Symbolik des No-Theaters schenkte der Künstler seinen leichthändig-konzentrierten Strich.
„Als ob jeder Baum zu mir spräche...“: Der Komponist Ludwig van Beethoven schätzte ausgedehnte Spaziergänge und den vielstimmigen Soundtrack der Natur. Seine 6. Sinfonie („Pastorale“) steht paradigmatisch für entsprechende, in Klang sublimierte Erfahrung. Herbert Blomstedt und das famose Gewandhausorchester Leipzig warten mit luzider, fein gestimmter, nicht überromantisierender Exegese auf.
Martin Hoffmeister publiziert regelmäßig in nationalen und internationalen Magazinen und Zeitungen. Als Redakteur im Kulturressort des MDR-Hörfunk beobachtet er die Musik- und Literaturszene seit mittlerweile drei Jahrzehnten. Im Rotary Magazin empfiehlt er Neuerscheinungen aus dem Kulturleben und Fundstücke von seinen Reisen.
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