Editorial
Zeit des Dankes
Aufleben alter Traditionen
Bei der Konzeptionierung dieser Ausgabe kamen wir an einen Punkt, an dem wir uns fragten, ob wir nun eigentlich ein Heft zum Herbst oder zum Erntedankfest machen wollten. Die Antwort war damit eigentlich schon gegeben, denn beides ist untrennbar miteinander verwoben. Die reiche Ernte wird im Frühherbst eingefahren, dieser kurzen Zwischenjahreszeit, in der man noch draußen ist, aber auch schon ins Haus geht, in der man das Feuer schon braucht, aber das Heim noch nicht heizt. Die Schriftstellerin Christiane Neudecker mochte diese Zeit als Kind nicht. Es war weder Sommer noch Winter, kein Badesee, kein Schlittenfahren, keine Lebkuchen, kein Eis am Stiel. Heute weiß sie, es ist eine Zeit für Demut und Dankbarkeit: „Die dunkler werdenden Tage lassen uns innehalten, wir verbringen mehr Zeit mit uns selbst. (…) Aber ist das noch wahr?“ Ihre Gedanken an den Herbst lesen Sie zum Auftakt unserer Titelgeschichte.
Der Zusammenhang von Arbeit und Ernte im ursprünglichen Sinn hat sich heute aufgelöst. Die existenzielle Bedeutung der Ernte hat das kollektive Bewusstsein verlassen, denn die Ernte als Gottesgeschenk löst sich immer mehr vom persönlich erarbeiteten Lebensunterhalt, der mit Landwirtschaft nur noch selten zu tun hat. Und so fragt sich insbesondere die Stadtbevölkerung: Wem soll ich eigentlich danken und wofür? Die Antwort gibt Pater Klaus Mertes in seinem Beitrag „Die Kraft des Dankens“.
Nach den Dürren, Waldbränden und Unwettern des Sommers könnte Erntedank ein guter Anlass sein, uns daran zu erinnern, dass wir einmal in einem Tages- und Jahreszeitenzyklus mit der Natur gelebt haben. Wir haben Wertstoffe in den Kreislauf zurückgeführt und uns von dem ernährt, was lokal und jahreszeitlich im Angebot war. Heute gehört es zu unserem Lifestyle, Spargel und Erdbeeren ganzjährig einfliegen zu lassen und selbst nachts im Hühnerstall das Licht nicht mehr auszuschalten. Doch jetzt schlägt Mutter Erde mit aller Macht zurück. Der Philosoph und Umweltethiker Andreas Hetzel schreibt: Wenn der Mensch seine Abhängigkeit von der Natur technisch überwinden und kulturell verdrängen will, muss er scheitern.
Katja Rost ist Soziologin an der Uni Zürich. Sie und ihr Team beobachten ein neues Aufleben alter Traditionen und Bräuche wie Erntedankfeste und Bauernmärkte, die Jung und Alt, Arm und Reich friedlich miteinander vereinen. Andererseits beobachten sie aber auch eine zunehmende Modernisierung alter Traditionen, ein Beispiel ist das Tragen rosaroter Designerdirndl auf Volksfesten. Das bietet neuen gesellschaftlichen Sprengstoff, denn: „Traditionen dienen der Gemeinschaft. Eine Aufmerksamkeitsökonomie läuft diesen zuwider.“
Bei allen globalen Unterschieden über die Interpretation von Rotary gibt es ein Projekt, das wie kein anderes für das Engagement von Rotary steht: End Polio Now. Tausende Rotarier rund um die Welt engagieren sich aufopferungsvoll für den Kampf gegen die Kinderlähmung, aber keiner ist wie Bashar Asfour. Der Jordanier infizierte sich im Alter von zehn Monaten mit dem Virus, lernte trotzdem laufen, wurde wieder und wieder operiert, kämpfte sich durch und verlor nie seinen Lebensmut. Jetzt ist er im gelbgrünen Elektrobus durch ganz Europa unterwegs, um 250.000 Euro für sein großes Ziel zu sammeln: Polio endlich für alle Zeiten auszurotten. Seine Tour begann Ende August in Berlin und führte ihn über Norddeutschland, die Niederlande, Belgien, Süddeutschland, die Schweiz, Italien und Griechenland bis in die Türkei. Nun steht noch Osteuropa an, bevor die End-Polio-Tour nach weiteren Stopps in Süddeutschland, Österreich und Tschechien am 21. Oktober in Chemnitz endet. Dort soll das große Event zum Welt-Polio-Tag der deutschsprachigen Distrikte noch mehr Aufmerksamkeit auf Rotarys Kampf gegen Polio richten. Die beeindruckende Geschichte von Bashar Asfour und seiner Tour lesen Sie im „Fokus“.
Viel Vergnügen bei der Lektüre wünscht
Björn Lange
Chefredakteur
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