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Hoffmeisters Fundstücke

Abseits des Klischees

Hoffmeisters Fundstücke - Abseits des Klischees
© Jessine Hein/Illustratoren

Einblicke in Alltag und Denkweise junger Menschen in der Volksrepublik China

Martin Hoffmeister01.12.2022

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© Hirmer Verlag

Noch immer zeigt sich die Auseinandersetzung mit China weitgehend überlagert von Klischees und/oder Ressentiments. Zudem bestimmen insbesondere wirtschaftliche und politische Themen eine Agenda, die kaum interessiert zu sein scheint an kulturellen Besonderheiten und dem gesellschaftlichen Alltag des Landes. Als Gradmesser für mentale Entwicklungsprozesse taugen seit je die Künste, vermehrt in den vergangenen 100 Jahren auch die Fotografie mit ihrem unverstellten Blick auf die Dinge. Insofern gewährt der vorliegende Band mit Arbeiten jüngerer Kreativer maßgebliche Einblicke in die emotionale und intellektuelle Verfassheit Einzelner und der Gesellschaft in Zeiten umfassender Transformationsprozesse. Begleitet von aufschlussreichen Essays zur chinesischen Kunst- und Fotografieszene, zu aktuellen ästhetischen Ansätzen und analogen respektive digitalen Visualisierungstechniken, präsentiert der hochwertig gestaltete Katalog eine repräsentative Auswahl originärer Arbeiten. Welchen Blick haben jüngere Generationen auf die grundlegenden Veränderungen des Landes auf dem Weg zur Supermacht? Welchen Preis zahlt die Gesellschaft für wirtschaftliche Expansion und Innovation? Wie vertragen sich politische Repression und ökonomischer Fortschritt? Vor diesem Hintergrund verwundert kaum die eher dunkel bezeihungsweise indifferent gestimmte Note der meisten Fotografien, die Elend, Armut, Verwahrlosung, Vereinsamung und Verfall ebenso reflektieren, wie sie Aufbegehren, Hipness und die Sehnsucht nach Individualität und westlichem Lifestyle spiegeln. Ob im avancierten, abstrahierten Porträt, in anarchischer Pose, surrealen Anordnungen, urbaner Szenerie oder bäuerlichem Ambiente: Die Arbeiten weisen weit über ihre fragilen Sujets hinaus. Mit der Botschaft: Offen, was kommt.

Über lange Jahre stand der künstlerische Austausch im Klassiksegment zwischen Europa und China eher im Zeichen von Marketingstratgien und kommerziellen Aspekten. Europäische Labels investierten in chinesische Musiker, um über sie den Zugang zum chinesischen Markt zu generieren. Nicht immer standen dabei ausschließlich künstlerische Gesichtspunkte im Zentrum. Mittlerweile hören insbesondere Independent-Labels genauer hin und fördern hochbegabten Nachwuchs aus dem Reich der Mitte, Musiker nicht selten, die China nach solider Grundausbildung in Richtung USA oder europäischer Metropolen verlassen, um ihre Studien zu vertiefen und Karrieren zu lancieren. Zu den eminenten Talentscouts unter den internationalen Labels gehört seit Jahrzehnten das schwedische BIS Records. Mit dem chinesischen Pianisten Haochen Zhang verbindet das Unternehmen eine hochproduktive und wertige Zusammenarbeit, die aktuell gipfelt in einer Gesamteinspielung der fünf Beethoven-Konzerte. Entstanden in einem Zeitraum von zwei Jahrzehnten, spiegeln die Werke exemplarisch die kompositorische Entwicklung des Meisters. An der Seite des jederzeit organisch und subtil schattiert aufspielenden Philadelphia Orchestra unter der Leitung von Nathalie Stutzmann besticht der 32-jährige Solist mit reifer Balance von energetisch-unbedingtem Zugriff und Transparenz, reichem Kolorit, aparten Lyrismen und der Affinität zur Nuance.

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© Herder Verlag

Vor dem Hintergrund wachsender wirtschaftlicher Korrespondenzen und Abhängigkeiten zwischen China und den europäischen Staaten ist das Interesse an Hintergrundwissen deutlich gestiegen. In gebotener Dichte und Verständlichkeit präsentieren die Autoren des Bandes Wie gestalten wir unsere Beziehungen zu China? Analysen und Fakten zum politischen und wirtschaftlichen Status quo der Großmacht, erklären Spezifika des Systems und bieten Erhellendes zu Dogmen und Denkweisen der Politik-Protagonisten. Ein Muss für China-Interessierte sind die Einlassungen zum strategischen Umgang mit dem Land, das Europas Zukunft definieren könnte.

Alexandra Stefanovs Podcasts nehmen die „Ideenwerkstatt und Innovationsfabrik“ China in den Blick. Dem Hörer vermittelt werden in verschiedenen Formaten und in Gesprächen mit Fachleuten aktuelle Trends und Innovationen aus chinesischen Digitallaboren zwischen KI, digitalem Lernen, Service-Robotern, Green Tech, Elektromobilität und digitalen Ökosystemen. Entlang der Podcasts zu verifizieren, gilt die Aussage Stefanovs vom deutlichen Vorsprung Chinas in Sachen Digitalität.


  1.  Eva-Maria Fahrner-Tutsek/Petra Giloy-Hirtz: About us. Young Photography in China, Hirmer Verlag, 296 S., 239 Abb., 39,90 Euro, Bildband
  2. Haochen Zhang: Ludwig van Beethoven – The 5 Piano Concertos, The Philadelphia Orchestra, BIS Records, BIS-SACD-2581, CD
  3. Siegfried Russwurm/Joachim Lang (Hg.): Wie gestalten wir unsere Beziehungen zu China?, Herder Verlag, 144 S., 10 Euro, Buch
  4. Alexandra Stefanov: China Impulse – Zukunftstrends aus dem Reich der Mitte, china-impulse.de/podcast, Podcast 
Martin Hoffmeister

Martin Hoffmeister publiziert regelmäßig in nationalen und internationalen Magazinen und Zeitungen. Als Redakteur im Kulturressort des MDR-Hörfunk beobachtet er die Musik- und Literaturszene seit mittlerweile drei Jahrzehnten. Im Rotary Magazin empfiehlt er Neuerscheinungen aus dem Kulturleben und Fundstücke von seinen Reisen.

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