Rausch der Stille
Vakuum, Ruhe, Zwischenwelt? Stille ist subjektiv – und imaginär
Stille definiert einen Sehnsuchts-Zustand, der dem Imaginären näher ist als der Wirklichkeit. So steht Stille kaum für Vakuum und Stillstand, noch das Fehlen von Klang oder Geräusch. Vielmehr bleibt sie unabdingbare Voraussetzung, um einen Begriff von akustischer Wahrnehmung überhaupt zu entwickeln. Wo wirkliche Stille herrscht, zieht schnell Getöse auf.
Der Ungar András Schiff gilt als „homme des lettres“ unter den maßgeblichen Pianisten dieser Tage. Als bedeutender Stilist, politischer Kopf und meinungsfreudiger Gesprächspartner nimmt er selten ein Blatt vor den Mund. Seine Aussagen und Texte präsentieren sich als fundiert-konsistente, bisweilen forcierte Einlassungen zu Kunst, Kultur, Musik, Politik und Zeitgeist. Schiffs Denken wie sein künstlerischer Ansatz sind geprägt von Ernsthaftigkeit und dem Willen zur Differenz. Kultur, mithin E-Musik, bedarf dezidierten wie sprachmächtigen Engagements: Klartext im Zeichen des Fragilen und der Zwischentöne gegen den Verlust „kulturelle(n) Selbstvertrauen(s)“. In Gesprächen und Essays benennt Schiff die Konstanten und Voraussetzungen erfüllten Kunstschaffens: Demut, Dezenz, Stille.
Stille ist kein selbstverständlicher Zustand. Man muss sie herstellen. Oder nach ihr suchen. Und selbst wenn nichts mehr klingt, will Stille sich nicht um jeden Preis einstellen. Denn das Phänomen streift über akustische hinaus auch philosophische, physiologische und psychologische Aspekte. In diesen mentalen Zwischenwelten verortet zeigen sich die 33 literarisch-essayistischen Expeditionen des Extremwanderers, Verlegers, Juristen und Autors Erling Kagge. Der Norweger erreichte als Erster in der Geschichte neben den beiden Polen auch den Gipfel des Mount Everest. Zu den zentralen und existenziell nachwirkenden Erfahrungen während wochenlanger Ausnahmesituationen zählt er die Begegnung mit Einsamkeit und Stille. Letztere verdichtete sich zur „idee fixe“, der sodann auch in anderen Lebensbereichen nachgespürt werden sollte: in der Musik und den Lehren des Zen-Buddhismus ebenso wie beim Yoga oder der Haiku-Lektüre. Am Ende der vielgesichtigen Parforce-Tour steht die Erkenntnis grenzenloser Subjektivität. Stille gehört allen – anders.
Sie und (Natur-)Katastrophen stehen in eigentümlicher Beziehung zueinander. Im Spannungsfeld von mentaler und physischer Versehrung greift bei den Betroffenen ein Vakuum Raum, das weder Sprache, Bewegung noch Handlung kennt. Ruhe, wenn nicht lähmende Stille dominieren. Der Blick nach innen eliminiert jegliches Geräusch. Was bleibt, ist das Grundrauschen in den Köpfen und der wechselnde Soundtrack einer Natur, die zuvor Tod und Verwüstung herbeiführte.
Hosokawas den Opfern des Tsunamis und Reaktor-GAUs von Fukushima gewidmete Oper reflektiert die Paralyse, spiegelt die Traumata der Überlebenden, begleitet die Metamorphosen der Trauer und offeriert Perspektiven. Dem japanischen No-Theater entlehnte Handlungstableaus, langsame, zum Teil ziselierte Bewegungen der Akteure, dunkel eingetrübtem Meereskolorit verpflichtete Lichtregie und ein abstrakt-reduzierter Bühnenaufbau generieren ein surreales wie luzides Ensemble. Spannungs- und reibungsstiftendes Komplement zur suggestiven Bildsprache der Hamburger Inszenierung liefern die stimmig besetzten Solisten und das unter Kent Nagano präzise und beweglich aufspielende Orchester. „Wir kämpfen mit einer Wirklichkeit, die wir nicht sehen“, lässt Hosokawas Protagonistin verlauten. Bleibt die schattierte Musik des Japaners, um Realität zu zeichnen.
Infos:
• András Schiff, Musik kommt aus der Stille. Gespräche mit Martin Meyer, Essays, Bärenreiter Henschel, 256 S., 24,95 Euro
• Erling Kagge, Stille. Ein Wegweiser, Insel, 144 S., 14 Euro
• Staatsoper Hamburg, Stilles Meer/Silent Sea., Toshio Hosokawa, S. Elmark, M. Fujimura, M. Gasztecki, B. Mehta, V. Rud, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Kent Nagano, Staged by Oriza Hirata, EuroArts, DVD
Martin Hoffmeister publiziert regelmäßig in nationalen und internationalen Magazinen und Zeitungen. Als Redakteur im Kulturressort des MDR-Hörfunk beobachtet er die Musik- und Literaturszene seit mittlerweile drei Jahrzehnten. Im Rotary Magazin empfiehlt er Neuerscheinungen aus dem Kulturleben und Fundstücke von seinen Reisen.
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