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Hoffmeisters Fundstücke

Wege zum Wiengefühl

Hoffmeisters Fundstücke - Wege zum Wiengefühl
© Jessine Hein/Illustratoren

Städtereisen sind wieder gefragt, auch Wien steht bei vielen Touristen ganz weit oben auf der Liste. Hier kommen vier Ideen zur mentalen Vorbereitung.

Martin Hoffmeister01.06.2022

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© Eisengold Verlag

Wer Wiener Mentalitäten und Identität der Donaumetropole nachzuspüren sucht, sollte kanonische Touristenpfade meiden. Gewiss lassen den Besucher auch Stephansdom, Mozarthaus, Schönbrunn, Prater oder Albertina staunen, das authentische Wiengefühl aber wird sich eher an anderen Orten einstellen. Auf eindrückliche Weise erschließen sich Geist und Emotionalität der Stadt in den verschiedenen Grätzeln, in kleinen, historisch gewachsenen, in sich geschlossenen Vierteln wie Josefstadt, Spittelberg, Nussdorf und Serviten- oder Fasanviertel. Entsprechend vielgesichtig fallen die "Streifzüge" von Havas und Mandl aus. Nicht allein nehmen sie Geschichte und Geschichten der Viertel in den Blick, porträtieren Bewohner und spiegeln Lebenswelten, sondern sie liefern zudem detailgenaue Beschreibungen von Märkten, Friedhöfen, Gassen, Badehäusern, Kirchen oder architektonischen Preziosen. Kuratierte Hinweise auf Shops, Restaurants, Bars oder Cafés runden die lesenswerten und reich bebilderten Erkundungen ab.

Exemplarisch für Wiens aufgeladene Historie stehen insbesondere die Zwischenkriegsjahre, die "wilden" Zwanziger. Nach dem Zerfall der K.-u.-k.-Monarchie und der Niederlage Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg prägten Not, Elend, Armut und Verzweiflung das Bild der Stadt. Indifferenz und Perspektivlosigkeit generierten ebenso hohe Kriminalitäts- und Suizidraten wie eine ausgeprägte Affinität zu Rausch, Exzess und Entgrenzung. Dass versehrtes Bewusstsein allenthalben auch kreative Impulse freizusetzen vermag, spiegelten demgegenüber die Aktivitäten der Wiener Intellektuellen und Kulturschaffenden. Im 6. Band seiner Wien-Reihe entlang von zwölf Krimis taucht Autor Günther Zäuner tief ein in die Abgründe der Epoche. Sein "halbseidenes" Personal, Klein- und Vollblutkriminelle, nutzen die prekäre Lage gezielt für ihre Zwecke. Zäuners von dramaturgischem Raffinement getragenen Texte amalgamieren Fiktion und Fakten, feiern "Schmäh", Absurdes und bitterbösen Zynismus ebenso wie abgehangenen Wiener Humor. Auch als Sprecher seiner Werke zeigt der Autor einnehmende Expertise.

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© Wiener Bühne

Mit einem Kulturmagazin am Markt zu reüssieren, gilt nicht nur als Herausforderung, sondern zählt zu den publizistischen Königsdisziplinen. Im weiten Feld niederschwelliger Angebote Anspruch mit Kurzweil zu versöhnen, ohne sich im Subkomplexen zu verlieren, vermögen wenige. Überdies: Nicht zuletzt der Kulturbegriff selbst entwickelt sich zur ausgefransten Größe, der eigenen Desavouierung näher als einem Mittel der Orientierung. Vor diesem Hintergrund lohnt der Blick auf die hochdekorierte Wiener Bühne. Für Kultur-, insbesondere Sprech- und Musiktheater-Affine, markiert das Magazin das idealtypische Medium. Übersichtlich und avanciert im Layout, begleitet von fotografischer Sophistication, nehmen die Text-Formate (Interviews, Reportagen, Kolumnen, Kritiken, Rubriken, Special-Features) ein durch unkonventionelle Ansätze, stilistische Varianz und eine Sprachmächtigkeit, die sich auf die Nuancen der Exzentrik, Subversion und Spielarten der Ironie ebenso versteht wie auf überraschende Volten, die Neues sucht, ohne es gegen Überliefertes auszuspielen. Dass die Bühne vor allem Inhalte, Konzepte, Intentionen und Protagonisten rund um Wiener Institutionen verhandelt, entspricht deren eminentem künstlerischen Output. "Hölle", bemerkte Schauspieler Tobias Moretti in der Mai-Ausgabe, "Hölle ist zeitlos." Die Bühne – inspirierend wie das Theater selbst!

Über sechs Jahrzehnte und sieben Stilphasen erstreckt sich das Schaffen des britischen Malers, Grafikers, Bühnenbildners, Fotografen und Essayisten David Hockney. Als Protagonist der Pop-Art profilierte er die Kunstrichtung sukzessiv um solitäre und originäre Ausformungen. Die opulente Schau im Kunstforum Wien präsentiert ikonische Werke Hockneys aus der Sammlung der Londoner Tate Gallery, darunter Wegmarken seiner Druckgrafik, Landschaftsbilder, Porträts, Akte und Arbeiten zur amerikanischen Architektur-Ästhetik der Moderne. Deutlich erkennbar über die stilistischen Grenzen hinweg zeigen sich Hockneys experimentelle Ansätze und der Reflex auf das Thema Homosexualität. "Insights": Einblicke im besten – und eigentlichen – Sinne.


  1. Harald Havas/Reinhard Mandl, Die schönsten Wiener Grätzel, Elsengold Verlag, 160 S., 300 Abb., 26 Euro, Buch
  2. Günther Zäuner, Halbseidenes dunkles Wien. Zwölf Krimis aus der Zwischenkriegszeit, Audiamo MP3-Audio, Hörbuch
  3. Bühne, buehne-magazin.com, Magazin
  4. David Hockney, Insights – Reflecting the Tate Collection, Kunstforum Wien, bis zum 19. Juni 2022, kunstforumwien.at, Ausstellung
Martin Hoffmeister

Martin Hoffmeister publiziert regelmäßig in nationalen und internationalen Magazinen und Zeitungen. Als Redakteur im Kulturressort des MDR-Hörfunk beobachtet er die Musik- und Literaturszene seit mittlerweile drei Jahrzehnten. Im Rotary Magazin empfiehlt er Neuerscheinungen aus dem Kulturleben und Fundstücke von seinen Reisen.

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