Entscheider
von Björn Lange |
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„Wir sind nicht auf dem Jahrmarkt“

Interview: Wie wird Europa verteidigungsfähig, ohne die USA als Partner zu verlieren? Marie-Agnes Strack-Zimmermann gibt diplomatische und weniger diplomatische Antworten auf die großen sicherheitspolitischen Fragen der Gegenwart

Frau Strack-Zimmermann, kann sich Europa ohne die USA verteidigen?

Die USA sind nicht nur das größte Mitglied der Nato, gemessen an der Truppenstärke, den Verteidigungsausgaben und der militärischen Kapazität. Sie leisten auch mit Abstand den größten finanziellen Beitrag zu den Verteidigungsausgaben der Nato. Letzteres ärgert sie zunehmend. Auf dieses Missverhältnis hat nicht nur Präsident Trump hingewiesen, auch seine Vorgänger Clinton und Obama haben die Europäer immer wieder aufgefordert, mehr Geld in die Hand zu nehmen. Erst jetzt wird in den europäischen Staaten substanziell der Verteidigungsetat erhöht. Zudem hat das Europäische Parlament das „European Defence Industry Programme“ auf den Weg gebracht, was die EU-Staaten bis 2033 von den USA technisch unabhängiger machen soll.

Wie sehr fühlen sich die Amerikaner Europa verpflichtet?

Auch die USA brauchen verlässliche Partner. Aber man erwartet eben mehr Engagement von den europäischen Verbündeten. Offensichtlich ist der US-Präsident der Meinung, jetzt, wo Europa mehr leistet, könne man eigene US-Soldaten sukzessive in den Ländern mit einer Grenze zu Russland reduzieren. Macht das Sinn? Nein, macht es nicht, denn über jeden Soldaten, der weniger an der Grenze zu Russland steht, wird sich Putin freuen und uns mehr gefährden. Die Verlässlichkeit der Vereinigten Staaten hat dramatisch nachgelassen. Das ist bitter für uns und zwingt uns zum Umdenken.

Wie kommen wir aus dem Dilemma raus, dass wir in Europa zwar selbst verteidigungsfähig werden wollen, aber gleichzeitig die USA nicht als Bündnispartner verlieren?

Indem wir die Nähe zu den amerikanischen Entscheidern pflegen, die es als wichtig erachten, mit Europa zusammenzuarbeiten. Trump hat sein Ziel erreicht, dass wir deutlich mehr Geld in die Hand nehmen, um unsere Armeen zu ertüchtigen. Die Frage steht dennoch im Raum, wollen wir in Europa gemeinsam auch ohne oder mit weniger USA verteidigungsfähig werden, denn kein Land in Europa kann sich derzeit alleine verteidigen.

Marie-Agnes Strack-Zimmermann

RC Düsseldorf-Karlstadt, ist Mitglied und Vorsitzende des Ausschusses für Sicherheit und Verteidigung im Europäischen Parlament. Sie ist Mitglied des FDP-Präsidiums, Bürgermeisterin a. D. und leidenschaftliche Motorradfahrerin.

Foto: James Zabel

 

Wenn wir in Europa mit 27 EU-Staaten plus Großbritannien und Norwegen mehr sein wollen als Force Provider, was muss dann passieren? Müssen wir dann nicht gemeinschaftlich aufrüsten und viel strategischer vorgehen? Und welche Rolle könnten Sie im EU-Parlament dabei spielen?

Die EU ist keine Verteidigungs-Union. Jede Nation ist für die eigene Sicherheit verantwortlich. Es gibt 27 Armeen, 27 Verteidigungsminister, und jedes Land hat bisher seine Ausrüstung unabhängig vom Nachbarn beschafft. Wir arbeiten daran, deutlich mehr gemeinsames Material zu beschaffen, die Regeln zu vereinfachen, möglichst auch einen militärischen Binnenmarkt aufzubauen und die militärische Mobilität innerhalb Schengens zu gewährleisten. Europa stellt sich mit hoher Geschwindigkeit auf, um sich verstärkt besser verteidigen zu können.

Halten Sie eigentlich die Unterstützung der Europäer für die Ukraine für ausreichend? Kein Staat hat bisher mehr als 0,2 Prozent des BIP aufgewendet.

Es geht nicht um Prozentsätze, sondern um das, was real geliefert wird. Ohne die bisherige Unterstützung der Europäer hätte die Ukraine sich nicht über drei Jahre so wirkungsvoll verteidigen können. Europa tut viel, aber das gilt leider nicht für alle. Dänemark zum Beispiel ist extrem engagiert, auch Deutschland unternimmt eine Menge. Aber natürlich könnten wir noch mehr tun. Deutschland hätte deutlich früher Panzer zur Verfügung stellen müssen und vor allem den Marschflugkörper Taurus. So hätte die Ukraine sehr früh die russischen Nachschubwege unterbrechen und die Infrastruktur auf russischem Boden, von wo jeden Tag Hunderte von Raketen und Drohnen auf zivile Ziele in der Ukraine abgefeuert werden, zerstören können. Dass der ehemalige Bundeskanzler Scholz sich geweigert hat und Bundeskanzler Merz trotz großer Versprechen sein Wort nicht gehalten hat, halte ich für einen folgenschweren Fehler. Deutschland und andere Staaten kaufen heute bei den Amerikanern Waffensysteme ein, um die Ukraine weiterhin zu unterstützen. Dänemark kauft ukrainische Waffen für die Ukraine, um so die Ukraine wirtschaftlich zu stärken.

Wenn es tatsächlich zu einem Waffenstillstand kommt, wer garantiert eigentlich für die Sicherheit der Ukraine?

Wenn es dazu kommt, wovon ich momentan nicht ausgehe, dann wird es Sicherheitsgarantien geben müssen. Aber erst müssen die Waffen schweigen. Dem verweigert sich Putin konsequent, trotz diplomatischer Bemühungen. Er hält an seinem brutalen Plan fest, die ganze Ukraine zu vereinnahmen, und geht weiter über Leichen.

Leben wir immer noch in der Nachkriegszeit oder in einer Vorkriegszeit? Oder sind wir wegen der täglichen Cyberattacken schon mitten im Krieg?

In der Nachkriegszeit sind wir schon lange nicht mehr. Kanzler Merz hat gesagt, wir seien nicht im Krieg, aber auch nicht mehr im Frieden. Darauf hat der ehemalige Nato-Generalsekretär Stoltenberg schon vor Jahren hingewiesen. Ich behaupte, dass wir bereits angegriffen werden. Wir sind konstant Cyberangriffen, hybriden Angriffen und der perfiden Beeinflussung im Netz ausgesetzt, damit die Gesellschaft sich von innen zerlegt. Was ist das anderes als ein kriegerischer Angriff auf unsere Gesellschaft?

Der Vorschlag der Bundesregierung, das Los entscheiden zu lassen, wer zur Bundeswehr geht und wer nicht, ist an Peinlichkeit nicht zu überbieten

 

In der nationalen Sicherheitsstrategie taucht ein Begriff immer wieder auf: integrierte Sicherheit. Das bedeutet, Sicherheit und Verteidigung nicht nur militärisch zu denken, sondern gesamtgesellschaftlich. Andere Länder sind da viel weiter: In Litauen lernen Schulkinder, Drohnen zu fliegen. Warum handeln wir nicht danach, wenn die Erkenntnisse doch da sind? Denn das würde ja die Frage, wie wir uns aufstellen müssen, fundamental verändern.

Sicherheit und Resilienz sind ein weites Feld: Können wir unsere Ernährung sicherstellen, unsere Medikamente autark herstellen? Wie kommen wir an Rohstoffe? Wir haben jahrzehntelang die möglichen Gefahren, die von anderen Staaten ausgehen können, nicht mitgedacht. Wir waren schlichtweg naiv. Es gab Zeiten, da konnte man blitzschnell auf den Autobahnen die Mittelleitplanken rausnehmen, um im Notfall aus einer Autobahn eine Start- und Landebahn für Flugzeuge zu machen. In den Zügen konnte man die Sitze entfernen, um im Falle eines Falles für den Transport vieler Menschen – auch bei Naturkatastrophen – Platz zu schaffen. Aus Bunkern wurden in der Zwischenzeit Wohnungen, Kasernen sind verschwunden, und auf deren Grund wurden neue Stadtteile errichtet. Abgesehen davon, dass die Bundesregierung Investitionen unter anderem in Brücken und Häfen sträflich vernachlässigt hat.

Tut sich Deutschland tatsächlich immer noch schwer, über Krieg zu sprechen? Oder haben wir das Ausmaß der Bedrohung wirklich noch nicht verstanden?

Das ist objektiv ein beunruhigendes Thema, und deswegen wird es auch immer wieder verdrängt. Dabei ist es die Aufgabe der Politikerinnen und Politiker, die Menschen zu sensibilisieren. Nehmen Sie zum Beispiel die immer noch vorhandene sogenannte Zivilklausel an den deutschen Universitäten. Sie verbietet, dass im Rahmen militärischer Technologie ge-forscht werden darf. Die Bundesländer können dieses ändern. Letztendlich müssen aber die Rektoren der Universitäten darüber entscheiden. Diejenigen, die sich diesem wichtigen Forschungszweck immer noch verweigern, sind verantwortlich dafür, dass Forschung und Entwicklung ins Ausland abwandern, und sie verkennen, dass militärische Forschung immer auch zugunsten der Zivilgesellschaft geht. Ohne Militär gäbe es kein Internet, gäbe es kein GPS. Nicht mal die Mikrowelle wäre heute vorhanden. Forschung und Technologie werden aber unser Leben erleichtern und überdies die freie Welt schützen. In der Öffentlichkeit ist diese existenzielle Frage in der Zwischenzeit mehrheitlich angekommen. Das Mindset hat sich geändert.

War es ein Fehler, die Wehrpflicht im Jahr 2011 auszusetzen?

Aus der damaligen Sicht von 2011 nicht. Über Parteien hinweg ist man davon ausgegangen, dass die Landes- und Bündnisverteidigung keine Rolle mehr spielen und die Bundeswehr ausschließlich in Auslandseinsätze im Rahmen der Nato, der UN und der EU unterwegs ist. Schaut man heute auf die Lage, dann ist es mit Sicherheit sträflich gewesen, aus Kosten-gründen die Bundeswehr einfach so wegzurationalisieren. Es wurde nämlich die Infrastruktur entsorgt, die für eine Armee von Relevanz ist. Der Vorschlag der Bundesregierung, gegebenenfalls das Los entscheiden zu lassen, wer zur Bundeswehr geht und wer nicht, ist allerdings an Peinlichkeit nicht zu überbieten. Wir sind nicht auf dem Jahrmarkt.

Björn Lange

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